Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Text
Begründung
Die mj. Julia B***** ist das eheliche Kind des Karl B***** und der Marion B*****. Sie befindet sich seit ihrer Geburt bei der väterlichen Großmutter Erika S*****, der die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung mit Beschluss vom 13. 11. 1995 übertragen wurde. Die Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung und gesetzlichen Vertretung verblieb den Eltern; der Antrag des Amts für Jugend und Familie 22. Bezirk, die Obsorge im Bereich gesetzlicher Vertretung und Vermögensverwaltung dem Amt zu übertragen, wurde abgewiesen.
Die Eltern der mj. Julia waren und sind auch derzeit nicht in der Lage, das Kind zu pflegen und zu erziehen. Weder ihre Persönlichkeit noch ihre Lebenssituation ist dafür stabil genug. Die Mutter ist wegen ihrer "emotionalen neurotisch-depressiven" Probleme in psychotherapeutischer Behandlung.
Julia leidet an einem Mikrocephalus. Sie ist behindert und muss ständig Medikamente erhalten. Ihre Großmutter bringt sie regelmäßig zu den vorgeschriebenen Behandlungen und Kontrollen.
Julia spricht erst wenige Worte. Sie hat mit drei Jahren zu gehen begonnen. An einen ausgewogenen Tag- und Nachtrhythmus hat sie sich noch nicht gewöhnt. Sie schläft sehr schlecht und isst sehr wenig. Nur ganz kurze Zeit kann sie sich allein beschäftigen; es muss immer jemand da sein, der sie betreut. Ihre Großmutter und deren Mann stehen rund um die Uhr für ihre Betreuung zur Verfügung.
In der Zeit vom 27. 12. 1998 bis 1. 1. 1999 war Julia wegen Durchfalls und Erbrechens in stationärer Behandlung. Ihre Großmutter ließ sich mit aufnehmen. Im Krankenhaus kam es wegen der dem Kind verabreichten Medikamente zu einer Auseinandersetzung zwischen Mutter und Großmutter. Nach diesem Vorfall hat die Mutter Julia von der Adresse der Großmutter abgemeldet und unter ihrer eigenen Adresse angemeldet, um die Voraussetzungen für die Zuteilung einer größeren Gemeindewohnung zu schaffen.
Die Großmutter beantragt, ihr auch die Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung und gesetzlichen Vertretung zu übertragen.
Während das Amt für Jugend und Familie 22. Bezirk den Antrag befürwortete und sich der Vater zeitweise für die Übertragung der gesamten Obsorge an die Großmutter aussprach, erhob die Mutter immer Einwendungen. Sie machte geltend, dass es der Großmutter in Wahrheit um ein Sparbuch der Minderjährigen gehe.
Mit Beschluss vom 10. Mai 1999, ON 111, übertrug das Erstgericht der Großmutter auch die Obsorge im Bereich gesetzlicher Vertretung und Vermögensverwaltung. Die Eltern seien derzeit auch im Teilbereich der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung nicht in der Lage, ihre Rechte und Pflichten auszuüben. Die Mutter schrecke nicht davor zurück, ihre Rechte missbräuchlich und zum Nachteil des Kindes zu gebrauchen. Eine Übertragung der vollen Obsorge an die Großmutter liege im Interesse des Kindes.
Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss dahin ab, dass es den Antrag der Großmutter abwies und aussprach, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Durch die Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung sei der Großmutter auch die gesetzliche Vertretung in diesem Bereich mitübertragen worden. Entscheidungen über die ärztliche Behandlung des Kindes könne sie daher ohnehin treffen. In die Elternrechte sei nur einzugreifen, wenn dies unbedingt geboten sei. Es sei nicht einmal behauptet worden, dass die Kindesmutter ihrer Obsorgepflicht im Rahmen der Vermögensverwaltung nicht ausreichend oder in einer für das Kind nachteiligen Weise nachgekommen sei. Dass die Mutter derzeit nicht in der Lage sei, ihr Kind zu pflegen und zu erziehen, sei kein ausreichender Grund, den Eltern nun auch die Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung und der gesetzlichen Vertretung in den außerhalb der Pflege und Erziehung liegenden Bereichen zu entziehen.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen diese Entscheidung gerichtete Revisionsrekurs der Großmutter ist zulässig und berechtigt.
Gemäß § 176 Abs 1 ABGB hat das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, die zur Sicherung des Wohls des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Gefährdung des Kindeswohls setzt nicht geradezu einen Missbrauch der elterlichen Befugnisse voraus. Es genügt, dass elterliche Pflichten objektiv nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt werden (stRsp ua SZ 51/112; SZ 53/142; EFSlg 84.081). Maßstab für die Obsorgeentscheidung ist ausschließlich das Kindeswohl (ua EFSlg 84.078); im Spannungsverhältnis zum Kindeswohl haben die Elternrechte zurückzutreten (EFSlg 81.134). Nach Möglichkeit soll die gesamte Obsorge in einer Hand vereint bleiben (EFSlg 36.008).
Im vorliegenden Fall hat die Unfähigkeit der Eltern, für ihr Kind zu sorgen, dazu geführt, dass ihnen die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung entzogen werden musste. Die Entziehung der Obsorge in Teilbereichen schließt die Entziehung der gesetzlichen Vertretung in dem jeweiligen Bereich mit ein (§ 176 Abs 2 ABGB; s Schwimann/Schwimann, ABGB**2 § 176 Rz 20 mwN). Wird demnach den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung entzogen und - wie im vorliegenden Fall - der (väterlichen) Großmutter übertragen, so ist die Großmutter auch gesetzliche Vertreterin des Kindes in allen Angelegenheiten, die die Pflege und Erziehung betreffen. Die Großmutter ist demnach berechtigt, allenfalls notwendige Behandlungsverträge zu schließen (s Edlbacher, Körperliche, besonders ärztliche, Eingriffe an Minderjährigen aus zivilrechtlicher Sicht, ÖJZ 1982, 365 [373]).
Dem Rekursgericht ist daher insoweit zuzustimmen, als es der Übertragung der den Eltern verbliebenen Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung und gesetzlichen Vertretung auf die Großmutter nicht bedarf, um die notwendige ärztliche Behandlung des Kindes sicherzustellen. Der vom Rekursgericht daraus gezogene Schluss, dass kein Grund bestehe, den Eltern die Obsorge auch in den außerhalb der Pflege und Erziehung liegenden Bereichen zu entziehen, wird jedoch den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht.
Die Eltern waren und sind - jedenfalls derzeit - nicht in der Lage, ihr Kind zu pflegen und zu erziehen. Ob sie in der Lage wären, ein allfälliges Vermögen des Kindes zu verwalten, kann nicht beurteilt werden, weil derartige Maßnahmen bisher nicht zu treffen waren. Dass die Mutter, wie sie behauptet, für das Kind zwei Sparbücher angelegt und einen Bausparvertrag abgeschlossen habe, beweist nicht ihre Eignung zur Vermögensverwaltung. Weder steht fest, dass und in welcher Höhe Einzahlungen auf Sparbücher oder Bausparverträge getätigt wurden, noch kann daraus abgeleitet werden, dass die Mutter angesichts ihrer Schwierigkeiten, ihr eigenes Leben zu organisieren, geeignet wäre, die Interessen des Kindes in diesem Bereich auch tatsächlich zu wahren. Den von der Mutter befürchteten Übergriffen der Großmutter auf ein - in keiner Weise feststehendes - allfälliges Vermögen des Kindes könnte durch eine Sperre der Sparbücher und des Bausparvertrags wirksam begegnet werden.
Die Obsorgeaufteilung zwischen Großmutter und Eltern ist daher entgegen der Auffassung der Mutter nicht notwendig, um einen Schaden für das Kind abzuwenden. Sie ist vielmehr für das Kind von Nachteil, weil sie die Schaffung klarer Verhältnisse verhindert und die ohnehin bestehenden Spannungen zwischen Großmutter und Mutter verstärkt. Diese Spannungen sind besonders schädlich, weil sie die wegen der Krankheit und Behinderung des Kindes ohnehin schwierige Situation noch verschlimmern und Kräfte binden, die in die intensive Pflege und Zuwendung investiert werden sollten, deren das Kind bedarf. Die Obsorgeaufteilung gefährdet das Kindeswohl daher ungeachtet dessen, dass das Kind durch die Ausübung der den Eltern verbliebenen Rechte bisher keinen (unmittelbaren) Nachteil erlitten hat. Eine (mittelbare) Schädigung entsteht allein schon dadurch, dass die Mutter auf diesen - weitgehend inhaltslosen - Rechten beharrt. Der vorliegende Fall kann daher nicht jenen Fällen gleichgehalten werden, in denen durch die Obsorgeentscheidung in die tatsächlich ausgeübte Obsorge der Eltern eingegriffen wird. Selbst wenn aber der für Obsorgeentscheidungen geforderte strenge Maßstab angelegt wird, dient die Übertragung der gesamten Obsorge auf die Großmutter dem Wohl des behinderten und kranken Kindes, weil damit alle Befugnisse in einer Hand vereinigt und belastende Spannungen vermindert werden.
Für diese Entscheidung kommt es weder darauf an, ob die Großmutter die Obsorge "tadellos" wahrnimmt, noch ist entscheidend, ob die Mutter im Krankenhaus "einen peinlichen Auftritt veranstaltet" und das Kind danach nicht mehr besucht hat. Diese - auf dem Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe vom 6. 4. 1999 (ON 109) beruhenden - Feststellungen hat das Erstgericht getroffen; die Mutter hat sie in ihrem Rekurs unter Berufung auf ihre eigene Aussage als unrichtig bekämpft. Das Rekursgericht hat die Beweisrüge nicht erledigt, weil es der Meinung war, dass der Rekurs schon aus rechtlichen Gründen berechtigt wäre. Einer Erledigung der Beweisrüge bedarf es aber auch dann nicht, wenn - wie oben ausgeführt - die Rechtsauffassung des Rekursgerichts nicht geteilt wird, weil allein schon die mit der derzeitigen Obsorgeaufteilung verbundenen Spannungen das Kindeswohl gefährden und eine Übertragung der gesamten Obsorge auf die Großmutter rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, ob diese ihre Aufgaben "tadellos" wahrnimmt. Die besondere Situation des Kindes erfordert eine umfassende Betreuung, zu der die Eltern - jedenfalls derzeit - nicht in der Lage sind, so dass zur Übertragung der gesamten Obsorge auf die Großmutter keine Alternative besteht.
Dem Revisionsrekurs war Folge zu geben.
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