OGH 3Ob56/16f

OGH3Ob56/16f27.4.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj L*****, geboren am ***** 2006, wohnhaft bei der Mutter, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Dr. C*****, vertreten durch Breitenecker Kolbitsch Vana, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. November 2015, GZ 45 R 577/15h‑23, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 24. September 2015, GZ 5 Ps 163/15i‑17 bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00056.16F.0427.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die Obsorge über den 2006 außerehelich geborenen Minderjährigen kommt der Mutter allein zu.

Der Vater beantragte ‑ neben der Erlassung bereits rechtskräftig abgewiesener Provisorialmaßnahmen -mit Schriftsatz vom 21. 8. 2015 die Übertragung der Obsorge an ihn; hilfsweise, dass die Obsorge in Hinkunft beiden Eltern zustehe.

Zum Antragszeitpunkt lebte die Mutter mit dem Minderjährigen im Sprengel des Erstgerichts.

Mit Schriftsatz vom 10. 9. 2015 wiederholte der Vater seinen (als „Ergänzung zu den bisherigen Anträgen“ bezeichneten) Antrag, dass die Obsorge in Zukunft beiden Eltern ‑ bei hauptsächlichem Aufenthalt des Minderjährigen im Haushalt der Mutter ‑ zukomme und beantragte ferner die (erstmalige) Festsetzung eines Kontaktrechts.

Unter Hinweis darauf, dass sie mit dem Minderjährigen seit 6. 9. 2015 in Deutschland lebe, erhob die Mutter den Einwand der fehlenden internationalen Zuständigkeit. Im Hinblick auf von der Mutter näher angeführte Umstände (Meldung, Wohnungsmietvertrag, Anmeldung des Minderjährigen in einer deutschen Grundschule, bereits fixierte Beschäftigung der Mutter ab 2. 11. 2015 in einem deutschen Bezirkskrankenhaus) habe der Minderjährige spätestens seit 7. 9. 2015 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Im Übrigen bestritt die Mutter auch die inhaltliche Berechtigung der vom Vater gestellten Anträge.

Das Erstgericht, das (lediglich) feststellte, dass der Minderjährige seit 6. 9. 2015 in Deutschland lebt, erklärte sich für zuständig, wies den Antrag der Mutter auf Zurückweisung der Anträge des Vaters ab und behielt die inhaltliche Entscheidung über die weiteren Sachanträge, „insbesondere“ jene des Vaters, der Endentscheidung vor.

Rechtlich vertrat das Erstgericht die Auffassung, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit sei die (erstmalige) Antragstellung des Vaters am 21. 8. 2015. Die nachträgliche Wohnsitzverlegung sei im Hinblick auf den in der Brüssel IIa‑VO verankerten Grundsatz der perpetuatio fori nicht von Bedeutung.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Einräumung eines Kontaktrechts am 10. 9. 2015 sei noch kein gewöhnlicher Aufenthalt des Minderjährigen in Deutschland begründet gewesen.

In ihrem (richtig) außerordentlichen Revisionsrekurs macht die Mutter als erhebliche Rechtsfrage geltend, dass ohne inhaltliche Prüfung ihres umfangreichen Vorbringens, wonach sie bereits im Juli 2015 die Absicht gehabt habe, nach Deutschland zu übersiedeln, nicht davon ausgegangen werden könne, dass zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Festsetzung eines Kontaktrechts am 10. 9. 2015 noch kein gewöhnlicher Aufenthalt des Minderjährigen in Deutschland begründet worden sei.

Der Vater beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung die Zurückweisung des Revisionsrekurses; hilfsweise stellt er den Antrag, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Art 8 Abs 1 der Verordnung 2201/2003/EG über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung 1347/2000/EG (kurz: Brüssel IIa‑VO) legt fest, dass sich die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, danach richtet, wo das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die zitierte Bestimmung statuiert also ausdrücklich den Grundsatz der perpetuatio fori internationalis (Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR IV4 [2015] Art 8 Brüssel IIa‑VO Rz 9; 3 Ob 213/07f).

2. Maßgeblich ist gemäß Art 16 Abs 1 lit a Brüssel IIa-VO die Einbringung des Antrags bei Gericht. Am 21. 8. 2015, also zum Zeitpunkt, als der Vater den Antrag auf Übertragung der Obsorge an ihn; hilfsweise den Antrag auf Einräumung der Obsorge an beide Eltern stellte, hatte der Minderjährige unstrittig seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch in Österreich. Für die Obsorgeentscheidung ist daher ‑ weil die in Art 8 Abs 2 der Brüssel IIa‑VO genannten abweichenden anderen Zuständigkeiten hier keine Rolle spielen ‑ das angerufene Erstgericht jedenfalls international zuständig. Das wird von der Mutter in ihrem Revisionsrekurs zu Recht gar nicht bezweifelt.

3. Nach Art 2 Nr 7 der Brüssel IIa‑VO umfasst die elterliche Verantwortung die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Gemäß Art 1 Abs 2 lit a der VO iVm Art 1 Abs 1 lit b der VO gehören das Sorgerecht und das Umgangsrecht zu den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung. Die Brüssel IIa‑VO regelt im gegebenen Zusammenhang somit die elterliche Verantwortung. Dementsprechend nimmt auch der Europäische Gerichtshof in seinen Zuständigkeits-entscheidungen stets auf die elterliche Verantwortung bzw auf die Träger der elterlichen Verantwortung Bezug und „splittet“ nicht zwischen Sorgerecht (Obsorge) einerseits und Umgangsrecht (Kontaktrecht) andererseits. Die elterliche Verantwortung ist daher als einheitlicher Begriff, also ohne Aufsplittung in einzelne Aspekte, nach Maßgabe des nationalen Rechts zu betrachten (8 Ob 14/15i EvBl 2015/115 [Haidmayer] = EF‑Z 2015/170 [Nademleinsky] mwN).

4. Daraus folgt aber, dass ‑ wie das Erstgericht zutreffend erkannte ‑ das Gericht, bei dem ein Sorgerechtsverfahren anhängig ist, auch für ein nach dem Wegzug des Kindes eingeleitetes Kontaktrechtsverfahren zuständig ist (Haidmayer EvBl 2015/115 [EAnm] mwN; Nademleinsky EF‑Z 2015/170 [EAnm]). Einer Antragstellung des Vaters bezüglich des Kontaktrechts in Deutschland stünde Rechtshängigkeit in Bezug auf das vor dem Wohnsitzwechsel eingeleitete Obsorgeverfahren entgegen (Rauscher in Rauscher, Art 19 Brüssel IIa‑VO Rz 39, 40 mwN; 8 Ob 14/15i).

5. Das Erstgericht ist somit aus den dargelegten Gründen trotz Unanwendbarkeit von Art 9 Abs 1 Brüssel IIa‑VO (vgl dazu RIS‑Justiz RS0122816) für das am 10. 9. 2015 erstmals beantragte Kontaktrecht auch dann international zuständig, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits ein gewöhnlicher Aufenthalt des Minderjährigen in Deutschland begründet worden wäre.

6. Für die Behandlung des im Revisionsrekurs gestellten Antrags gemäß Art 15 Abs 5 Brüssel IIa‑VO ist der Oberste Gerichtshof funktionell nicht zuständig. Vielmehr wird, sollte dieser Antrag im fortgesetzten Verfahren an das Erstgericht gestellt werden, dieses zu entscheiden haben.

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