European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00014.15I.0226.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Begründung:
Die beiden Minderjährigen sind eheliche Kinder. Die Ehe der Eltern wurde mit Beschluss des Erstgerichts vom 31. 3. 2011 gemäß § 55a EheG rechtskräftig geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarten die Eltern die beiderseitige Obsorge für die Kinder. Zudem wurde der überwiegende Aufenthalt der Kinder bei der Mutter bestimmt und das (Wochenend-)Kontaktrecht des Vaters geregelt.
In der Folge beantragten sowohl der Vater (am 18. 12. 2012) als auch die Mutter (am 29. 1. 2013) die Übertragung der alleinigen Obsorge für die beiden Kinder. Das Sorgerechtsverfahren ist beim Erstgericht nach wie vor anhängig.
Am 12. 8. 2013 gab der Vater dem Erstgericht den Wechsel seines Wohnsitzes nach Deutschland bekannt.
Mit einstweiliger Verfügung vom 27. 12. 2013 entzog das Erstgericht der Mutter vorläufig die Obsorge für die beiden Kinder und übertrug diese vorläufig dem Vater. Die Geltungsdauer der einstweiligen Verfügung wurde mit dem Zeitraum bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Sorgerechtsverfahren bestimmt. Seit Ende Dezember 2013 leben die beiden Kinder beim Vater in Deutschland. Sie besuchen dort den Kindergarten bzw die Schule und sind an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort sozial integriert.
Am 17. 6. 2014 beantragte die Mutter beim Erstgericht die Festlegung eines zeitlich näher präzisierten Kontaktrechts zu den beiden Kindern (Betreuung in Deutschland und in Österreich, Videotelefonie mittels Skype, Ferienkontaktrecht).
Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter vom 17. 6. 2014 mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Die internationale Zuständigkeit für Kontaktrechtsanträge knüpfe am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung an. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder befinde sich nicht mehr in Österreich, weil sie sich zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits seit mehreren Monaten nicht mehr in Österreich aufgehalten hätten.
Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Gemäß Art 8 der Brüssel IIa‑VO seien für die Entscheidung über die elterliche Verantwortung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Unter den Begriff der elterlichen Verantwortung fielen sowohl das Sorgerecht als auch das Umgangsrecht. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts entspreche dem Daseinsmittelpunkt, also dem Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Kindes. Dieser sei hier nicht in Österreich, sondern in Deutschland gelegen. Selbst wenn man das Kontaktrechtsverfahren noch als Bestandteil des nach wie vor anhängigen Obsorgeverfahrens ansehen würde, verbleibe die Zuständigkeit des inländischen Gerichts gemäß Art 9 Abs 1 der Brüssel IIa‑VO für die Regelung des Umgangsrechts nur für drei Monate nach dem Umzug des Kindes bestehen. Diese Bestimmung gelange hier nicht zur Anwendung, weil sich der Antrag der Mutter nicht auf eine Änderung, sondern auf die erstmalige Festlegung des Kontaktrechts beziehe. Außerdem habe sie ihren Antrag außerhalb der genannten Dreimonatsfrist gestellt. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil insbesondere der Frage, ob während eines anhängigen Obsorgeverfahrens die internationale Zuständigkeit auch für einen Antrag auf Regelung des Kontaktrechts bestehe, erhebliche Bedeutung zukomme.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter, der auf eine Bejahung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts abzielt.
Mit seiner Revisionsrekursbeantwortung beantragt der Vater, dem Rechtsmittel der Gegenseite den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Verneinung der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts durch die Vorinstanzen einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist der Revisionsrekurs im Sinn einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.
1.1 Art 8 Abs 1 der Verordnung 2201/2003/EG über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung 1347/2000/EG (Brüssel IIa‑VO) stellt den Grundsatz auf, dass sich die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, danach richtet, wo das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ohne dass dieser Begriff inhaltlich bestimmt wird (EuGH C‑523/07 Rn 31; C‑436/13 Rn 41). Nach Art 8 Abs 2 der Brüssel IIa‑VO und dem Erwägungsgrund 12 sind von dieser allgemeinen Zuständigkeit abweichende andere Zuständigkeiten nur in bestimmten Fällen zulässig, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes nach Art 9 der Brüssel IIa‑VO geändert oder die Träger der elterlichen Verantwortung nach Art 12 Abs 3 der Brüssel IIa‑VO etwas anderes vereinbart haben. Für die Beurteilung der Zuständigkeit eines Gerichts nach Art 8 Abs 1 der Brüssel IIa‑VO ist der Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend. Daraus folgt, dass die Zuständigkeit eines Gerichts für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, in jedem Einzelfall, wenn bei einem Gericht ein Verfahren anhängig gemacht wird, zu prüfen und zu bestimmen ist. Dies bedeutet, dass die Zuständigkeit nicht über den Abschluss des anhängigen Verfahrens hinaus bestehen bleibt (EuGH C‑436/13 Rn 40).
Damit ist die Frage, was unter einem Verfahren (ein Verfahren über die elterliche Verantwortung oder jeder Antrag in einem solchen Verfahren) zu verstehen ist, noch nicht geklärt.
1.2 Nach Art 2 Nr 7 der Brüssel IIa‑VO umfasst die elterliche Verantwortung die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Gemäß Art 1 Abs 2 lit a gehören das Sorgerecht und das Umgangsrecht zu den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung.
Die Brüssel IIa‑VO regelt im gegebenen Zusammenhang somit die elterliche Verantwortung. Dementsprechend nimmt auch der Europäische Gerichtshof in seinen Zuständigkeitsentscheidungen stets auf die elterliche Verantwortung bzw auf die Träger der elterlichen Verantwortung Bezug und splittet nicht zwischen Sorgerecht (Obsorge) einerseits und Umgangsrecht (Kontaktrecht) andererseits (vgl etwa EuGH C‑523/07; C‑296/10; C‑436/13; C‑376/14 PPU). Daraus lässt sich ableiten, dass die elterliche Verantwortung als einheitlicher Begriff und damit ohne Aufsplittung in einzelne Aspekte nach Maßgabe des nationalen Rechts zu betrachten ist.
1.3 Damit im Einklang folgt aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass Verfahren, deren Gegenstand die elterliche Verantwortung bildet, denselben Anspruch im Sinn des Art 19 der Brüssel IIa‑VO betreffen (EuGH C‑296/10; vgl auch C‑376/14 PPU).
Art 19 der Brüssel IIa‑VO betrifft die Rechtshängigkeit. Danach hat das später angerufene Gericht bei Rechtshängigkeit das Verfahren deshalb auszusetzen, um dem zuerst angerufenen Gericht zu ermöglichen, über seine Zuständigkeit zu entscheiden. Die Vorschriften über die Rechtshängigkeit haben im Interesse einer geordneten Rechtspflege in der Europäischen Union zum Ziel, Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern. Nach dem Wortlaut des Art 19 Abs 2 liegt Rechtshängigkeit vor, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren über die elterliche Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht werden. Der Begriff „derselbe Anspruch“ (in der Hauptsache) ist unter Berücksichtigung des Regelungsziels des Art 19 Abs 2 zu definieren, das darin besteht, miteinander unvereinbare Entscheidungen zu verhindern. Daraus folgt etwa, dass im Verhältnis zwischen einem Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen (vorläufiger Rechtsschutz) nach Art 20 der Brüssel IIa‑VO und einem Antrag in der Hauptsache (grundsätzlich) keine Rechtshängigkeit besteht (siehe dazu C‑296/10 Rn 64 ff und Rn 78). Auch die Rückführung eines (in Verletzung des Sorgerechts) widerrechtlich in einen anderen Mitgliedstaat verbrachten oder dort zurückgehaltenen Kindes in den Ursprungsmitgliedstaat betrifft nicht den selben Anspruch wie die Regelung der Obsorge, weil die Entscheidung über die Rückführung nicht die elterliche Verantwortung betrifft (EuGH C‑376/14 PPU, Rn 40).
1.4 Diese Überlegungen sprechen auf Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs deutlich für eine Einheitlichkeit eines (anhängigen) Verfahrens über alle Aspekte der elterlichen Verantwortung.
2.1 Unbeschadet dieser Überlegungen thematisiert die Mutter zu Recht die Frage, ob sich der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder tatsächlich in Deutschland befindet.
Nicht zweifelhaft ist, dass die Kinder rechtmäßig vom Vater nach Deutschland gebracht wurden. Grundlage dafür war die einstweilige Verfügung des Erstgerichts vom 27. 12. 2013, also eine vorläufige Maßnahme nach Art 20 der Brüssel IIa‑VO. Mit dieser Beurteilung ist aber die Qualifikation als gewöhnlicher Aufenthalt noch nicht automatisch verbunden.
2.2 Mit den Kriterien zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Brüssel IIa‑VO hat sich der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach befasst. Dazu hat er Folgendes ausgesprochen:
„Die Verordnung enthält keine Definition dieses Begriffs; dessen Sinn und Bedeutung ist an Hand des Zieles der in der Verordnung festgelegten Zuständigkeits-vorschriften zu ermitteln, das im Wohl des Kindes und insbesondere im Kriterium der räumlichen Nähe besteht. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen ist. Er hat in diesem Zusammenhang weiter ausgeführt, dass neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat andere Faktoren heranzuziehen sind, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt, und dass der Aufenthalt Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dafür insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen sind. Er hat weiter ausgeführt, dass die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein kann. Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass die Dauer des Aufenthalts im Rahmen der Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls nur als Indiz dienen kann (s dazu EuGH C‑376/14 PPU, Rn 50 ff mwN; vgl auch C‑497/10 PPU).
Bei der Prüfung namentlich der Gründe für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in das es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist ‑ unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ‑ zu berücksichtigen, dass die gerichtliche Entscheidung, die die Verbringung gestattet hat, vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war. Diese Gesichtspunkte lassen nämlich nicht auf eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes schließen, da die gerichtliche Entscheidung vorläufiger Natur war und der Elternteil zum Zeitpunkt der Verbringung nicht sicher sein konnte, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nicht vorübergehend sein würde. In Anbetracht der Notwendigkeit, das Wohl des Kindes zu schützen, sind diese Gesichtspunkte bei der Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls gegen andere Gesichtspunkte abzuwägen, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seiner Verbringung belegen können, namentlich die Zeit, die zwischen der Verbringung und der gerichtlichen Entscheidung vergangen ist, mit der die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde. Dagegen darf die Zeit, die seit dieser (die vorläufige Entscheidung rückgängig machende) Entscheidung vergangen ist, keinesfalls berücksichtigt werden. Im Rahmen dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war (EuGH C‑376/14 PPU, Rn 55 ff).“
2.3 Aus diesen Grundsätzen folgt, dass eine bloß vorübergehende Verlegung des Aufenthalts des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat, auch wenn dies rechtmäßig erfolgte, gegen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts spricht. Ist die Grundlage der Verlegung des Aufenthalts eine nur vorläufige gerichtliche Entscheidung, so kann im Allgemeinen noch nicht von einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt ausgegangen werden.
Genau diese Umstände liegen im Anlassfall vor. Die Übersiedlung der Kinder erfolgte aufgrund einer einstweiligen Verfügung, die bis zur Entscheidung über die Obsorge im bereits anhängigen österreichischen Verfahren befristet wurde. Der Vater konnte aufgrund des nach wie vor anhängigen Obsorgeverfahrens, das beide Eltern mit jeweils einem eigenen Antrag beim Erstgericht eingeleitet haben, nicht davon ausgehen, dass sich die Kinder nunmehr dauernd rechtmäßig in Deutschland aufhalten werden. Die Dauer des Aufenthalts von sechs Monaten ist keineswegs derart gravierend, dass dieser Umstand den dargestellten Grundsatz in Frage stellen könnte. Das Gleiche gilt für die vom Rekursgericht angeführte soziale Integration der Kinder.
2.4 Der Oberste Gerichtshof gelangt damit zum Ergebnis, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Deutschland noch nicht ausgegangen werden kann. Damit ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht gegeben. Vielmehr liegt die internationale Zuständigkeit (auch) für die Entscheidung über das Kontaktrecht nach wie vor beim Erstgericht.
3. Die Entscheidungen der Vorinstanzen halten somit einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof nicht stand. Da die Zurückweisung des Antrags der Mutter vom 17. 6. 2014 mit der Rechtslage nicht im Einklang steht, war diese ersatzlos zu beheben. Dementsprechend wird das Erstgericht das gesetzliche Verfahren über den Antrag auf Festlegung des Kontaktrechts der Mutter unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund fortzusetzen haben.
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