European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00029.16K.0316.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sachwalterschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Begründung:
Mit Beschluss des Erstgerichts vom 9. August 2013 wurde für den Betroffenen sein Bruder als Sachwalter für die Besorgung aller Angelegenheiten (§ 268 Abs 3 Z 3 ABGB) bestellt. Über Anregung des zunächst bestellten Sachwalters wurde dieser mit Beschluss des Erstgerichts vom 7. Jänner 2014 enthoben und der nunmehrige Sachwalter bestellt.
Der Betroffene beantragte, vertreten durch seinen Sachwalter, mit am 25. Februar 2015 beim Erstgericht eingelangtem Schriftsatz die Einschränkung der Sachwalterschaft auf die Vertretung in finanziellen Angelegenheiten, die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Sozialversicherungsträgern und die Vertretung gegenüber privaten Vertragspartnern.
Der Betroffene lebe ‑ gemeinsam mit seiner ebenfalls besachwalteten Mutter, zu der er ein überaus enges Verhältnis habe ‑ in einer festen Struktur im Pflegeheim. Zwar seien immer wieder Probleme infolge Alkoholmissbrauchs des Betroffenen aufgetreten; insgesamt habe sich sein Zustand aber stabilisiert. Der Fortbestand der Sachwalterschaft im bisherigen Umfang für „alle Angelegenheiten“ erscheine daher nicht mehr notwendig. Das gelte insbesondere für die Zustimmung zu medizinischen Behandlungen und für die Entscheidung über den Wohnort. Zwar liege beim Betroffenen eine mittelgradige Intelligenzminderung vor, er sei aber persönlich orientiert und zeitlich und örtlich eingeschränkt orientiert. Durch den Umzug in das Pflegeheim habe sich der Gesundheitszustand des Betroffenen stabilisiert. Er lebe in einer Tagesstruktur und kümmere sich nach wie vor um seine Mutter. Eine Rückkehr in eine eigene Wohnung stehe nicht zur Debatte. Der Betroffene und seine Mutter würden häufig über das Pflegeheim und die dort gewährleistete Betreuung klagen. Ein Umzug in ein anderes Pflegeheim sei beiden angeboten, allerdings noch nicht durchgeführt worden. Der Betroffene und seine Mutter seien in der Lage, über einen Wechsel in ein anderes Pflegeheim zu entscheiden. Auch sei der Betroffene in der Lage, eine medizinische Behandlung zu verstehen und die Konsequenzen sowie die Tragweite seiner Entscheidung abzuschätzen. Überdies stehe beim Betroffenen derzeit keine medizinische Behandlung an.
Das Erstgericht holte ein ergänzendes Sachverständigengutachten ein.
Dieses enthält folgende, wörtlich wiedergegebene Aussagen:
„Status psychikus:
Bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten grob orientiert, Stimmung unauffällig, psychomotorisch ruhig, affektiv kaum schwingungsfähig, kein Hinweis auf produktiv‑psychotische Symptomatik, kein Hinweis auf suizidale Einengung.
Diagnose: Mittelgradige Intelligenzminderung
Schlussfolgerung und Begründung des Befundes:
Gleichbleibend zur Einschätzung vom 5. Juli 2013 ist bei ... (Betroffener) von einer Intelligenzminderung auszugehen, die es ihm unmöglich macht, alle oder einzelne Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils für sich zu besorgen. (Der Betroffene) ... ist in der einfachen Gestaltung des Alltags unauffällig, bei relevanten Entscheidungen ist jedoch stark davon auszugehen, dass er komplexe Fragestellungen nicht adäquat und ohne die Gefahr eines Nachteils für sich würde beantworten können.
Aus psychiatrischer Sicht ist die Aufrechterhaltung der Sachwalterschaft für alle Angelegenheiten zu empfehlen.“
Vor dem Erstgericht erläuterte der Sachverständige mündlich, dass der Betroffene seiner Auffassung nach sehr leicht von seinen Familienmitgliedern beeinflussbar sei; es sei daher sicherlich notwendig, die Sachwalterschaft für medizinische Belange aufrecht zu erhalten. Er könne die Konsequenzen des Schlaganfalls, den seine Mutter erlitten habe, nicht abschätzen.
Allein gestützt auf diese Ausführungen des Sachverständigen und ohne selbst konkrete Tatsachenfeststellungen zu treffen, wies das Erstgericht den Antrag auf Einschränkung der Sachwalterschaft ab.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.
Das „zugegebenermaßen kompakte“ Gutachten des Sachverständigen zeige in unbedenklicher Weise auf, dass der Betroffene aufgrund neuerer Entwicklungen (Schlaganfall der Mutter; Möglichkeit eines Wechsels des Heimplatzes; diverse gesundheitliche Untersuchungen) gerade aktuell Gefahr laufe, aufgrund seiner festgestellten sehr leichten Beeinflussbarkeit, insbesondere seinen Geschwistern gegenüber, denen er vertraue, nicht zu seinem Wohle zu handeln. Der Sachverständige habe zweifelsfrei dargelegt, dass der Betroffene den Grund und die Bedeutung seiner Entscheidungen nicht in ausreichendem Maße erkennen könne. Der Sachwalter habe selbst ausgeführt, dass der Betroffene im Vorjahr gesundheitliche Probleme gehabt habe, die weiter zu behandeln seien. Aufgrund aufgetretener Probleme im Heim, die auf den ‑ wohl noch bestehenden ‑ übermäßigen Alkoholkonsum des Betroffenen zurückzuführen seien, bedürfe es einer Entscheidungskompetenz des Sachwalters bezüglich der Bestimmung des Wohnortes. Sollte der Betroffene im Einzelfall einsichts‑ und urteilsfähig sein, könne er im Übrigen ohnedies allein entscheiden, ob eine medizinische Behandlung durchzuführen sei bzw ob er seinen Wohnort verändere.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen ist zulässig, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen an wesentlichen Feststellungsmängeln leiden. Der Revisionsrekurs ist auch im Sinne seines Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Einwilligungen in medizinische Behandlungen einerseits (§ 283 ABGB) und die Entscheidung über den Wohnort andererseits (§ 284a ABGB) wurden durch das Sachwalterrechts‑Änderungsgesetz 2006 (SWRÄG 2006 BGBl 2006/92) ausdrücklich geregelt.
2. Gemäß § 283 Abs 1 ABGB kann eine behinderte Person, soweit sie einsichts‑ und urteilsfähig ist, in eine medizinische Behandlung nur selbst einwilligen. Sonst ist die Zustimmung des Sachwalters erforderlich, dessen Wirkungsbereich die Besorgung dieser Angelegenheit umfasst.
Damit überhaupt ein Sachwalter mit dem Wirkungskreis „Einwilligungen in medizinische Behandlungen“ bestellt werden darf, muss das Gericht zum Ergebnis gekommen sein, dass die behinderte Person diese Angelegenheiten krankheits‑ oder behinderungsbedingt nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann (Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 283 Rz 2).
Der vom Rekursgericht aus § 283 Abs 1 ABGB gezogene Schluss, dass es nicht schaden könne, wenn trotz Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit der behinderten Person für diese Angelegenheiten ein Sachwalter bestellt werde, weil die diesbezüglich einsichts‑ und urteilsfähige behinderte Person ohnedies nur selbst die Einwilligung in eine medizinische Behandlung erteilen könne (vgl ErlRV 1420 BlgNR 22. GP 20), ist unzutreffend.
Das Gegenteil ergibt sich aus dem erklärten Willen des Gesetzgebers des SWRÄG 2006: Die Sachwalterbestellung soll zu keiner ungezielten Reduzierung der Geschäftsfähigkeit des Betroffenen führen. Es ist daher das Ausmaß der fehlenden Einsichtsfähigkeit festzustellen und (nur) für genau diesen Bereich ein Sachwalter zu bestellen (Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 268 Rz 22). Durch die Einfügung der Wendung „soweit dies unvermeidlich ist“ in § 268 Abs 3 Z 3 ABGB hat der Gesetzgeber des SWRÄG 2006 klargestellt, dass eine Sachwalterbestellung zur Besorgung aller Angelegenheiten einer behinderten Person nur als ultima ratio in Betracht kommt (ErlRV 1420 BlgNR 22. GP 11; Weitzenböck § 268 Rz 23 aE).
Dem Revisionsrekurs ist darin beizupflichten, dass weder die wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen noch seine mündliche Stellungnahme vor dem Erstgericht ein konkretes Tatsachensubstrat enthalten, wonach sich beurteilen ließe, ob die Sachwalterbestellung für medizinische Behandlungen aufrecht bleiben muss: Ob jemand den Grund und die Bedeutung einer Behandlung einzusehen und seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen vermag, ist nach dem konkreten Einzelfall zu beurteilen. Bei der Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit geht es darum, ob die behinderte Person ‑ bezogen auf eine medizinische Behandlung ‑ hinsichtlich der Diagnose, der therapeutischen Möglichkeiten und der denkbaren Alternativen sowie hinsichtlich der jeweiligen Chancen und Risken den Wert der von der Entscheidung betroffenen Güter und Interessen erfassen und ihr Verhalten nach dieser Einsicht ausrichten kann. In diesem Sinn ist zwischen einem kognitiven (Fähigkeit, Grund und Bedeutung einer Behandlung einzusehen: Einsichtsfähigkeit) und einem voluntativen Element (Fähigkeit, den Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen: Urteilsfähigkeit) zu unterscheiden. Beide Elemente müssen kumulativ verwirklicht sein (Tschugguel/Parapatits in ABGB‑ON1.03 § 283 Rz 2).
Im vorliegenden Fall geht zwar aus dem Akteninhalt hervor, dass der Betroffene an einem starken Raucherhusten leidet und zu Alkoholmissbrauch neigt. Im Revisionsrekurs wird allerdings zutreffend darauf verwiesen, dass dem Akteninhalt ebenso zu entnehmen ist, dass eine Untersuchung der Lunge des Betroffenen ohne Zutun des Sachwalters erfolgte. Es bestehen also keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dem Betroffenen die Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit bezogen auf medizinische Behandlungen fehlt. Außerdem geht aus dem Akteninhalt hervor, dass sich nach ohnedies erfolgter Untersuchung der Lunge herausgestellt hat, dass eine konkrete Behandlungsbedürftigkeit gar nicht besteht. Daher liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass überhaupt die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung des im Jahr 1959 geborenen Betroffenen im Raum steht.
3. Gemäß § 284a ABGB entscheidet eine behinderte Person, soweit sie einsichts‑ und urteilsfähig ist, über ihren Wohnort selbst. (Nur) wenn es der behinderten Person an der Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Wahl des Wohnorts mangelt, kommt die Disposition hierüber dem Sachwalter mit entsprechendem Wirkungskreis zu. Von der Bestimmung des Wohnorts ist die dem Bereich der Geschäftsfähigkeit in Vermögensangelegenheiten zuzu-ordnende Frage zu unterscheiden, inwieweit eine behinderte Person für die im Zusammenhang mit der Wahl des Wohnorts erforderlichen Rechtsgeschäfte eines Sachwalters oder der gerichtlichen Genehmigung bedarf (Hopf in KBB4 § 284a Rz 2; ErlRV 1420 BlgNR 22. GP 21).
Auch in diesem Umfang fehlen nach der derzeitigen Aktenlage Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene nicht ausreichend einsichts‑ und urteilsfähig ist, seinen Wohnort zu bestimmen. Eine Rückkehr des Betroffenen und/oder seiner Mutter in eine eigene Wohnung steht nach Angaben des Sachwalters nicht zur Debatte und eine vom Rekursgericht thematisierte Gefahr für den Betroffenen durch die Möglichkeit eines Heimwechsels ist ebenfalls nicht erkennbar; hat doch sogar der Sachwalter selbst diesen möglichen Wechsel ausdrücklich mit dem Betroffenen besprochen und einen solchen Wunsch des Betroffenen und seiner Mutter offenbar nicht als Gefährdung für den Betroffenen angesehen.
4. Daraus folgt zusammengefasst, dass die ausschließlich auf den Ausführungen des Sachverständigen fußenden erstgerichtlichen „Feststellungen“ für die Beurteilung, ob die beantragte Einschränkung der Sachwalterschaft zu beschließen ist, nicht ausreichen. Das gilt auch für die vom Rekursgericht hervorgehobene „Beeinflussbarkeit“ des Betroffenen, auf die sich der Sachverständige zwar in seiner mündlichen Stellungnahme zum Gutachten beruft, die aber ebenfalls nicht durch konkrete Feststellungen belegt ist.
Alkoholmissbrauch allein ‑ der im Übrigen hier nach der Aktenlage derzeit zu keinen gravierenden Problemen führt ‑ rechtfertigt aber weder eine Sachwalterbestellung (5 Ob 178/11d; RIS‑Justiz RS0110324) noch die Verweigerung der Einschränkung einer Sachwalterbestellung.
Zur Klärung der Frage, ob die Sachwalterschaft (im bisherigen Umfang) aufrecht zu bleiben hat, bedarf es weiterer Erhebungen. Sinnvollerweise bietet sich dafür zunächst eine eingehende Befragung des Betroffenen an, wie er sich im Fall der Einschränkung der Sachwalterschaft seine künftigen Lebensverhältnisse, insbesondere betreffend seinen Wohnort und allenfalls erforderliche medizinische Behandlungen, vorstellt. Diese Befragung sollte insbesondere auch dazu einen Beitrag leisten, die im Raum stehende „Beeinflussbarkeit“ des Betroffenen von seinen Geschwistern und das Verhältnis zu seiner Mutter genauer einschätzen zu können. Der gerichtliche Sachverständige wird dann sein Gutachten zu ergänzen und herauszuarbeiten haben, wie sich eine Einschränkung der Sachwalterschaft im beantragten Umfang voraussichtlich auswirken wird und was konkret unter der vermeintlich fehlenden Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit des Betroffenen bezogen auf medizinische Behandlungen und die Wahl des Wohnortes zu verstehen ist. Auf der Grundlage des so ergänzten Verfahrens wird dann das Erstgericht eine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.
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