OGH 2Ob64/22h

OGH2Ob64/22h27.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, den Senatspräsidenten Dr. Musger sowie die Hofräte Dr. Nowotny, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch Dr. Ralph Vetter und Dr. Andreas Fritsch, Rechtsanwälte in Lustenau, gegen die beklagte Partei L*, vertreten durch Dr. Hanno Lecher, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen zuletzt 5.063 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse [richtig]: 5.010,50 EUR sA) gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgericht vom 27. Jänner 2022, GZ 3 R 419/21x‑24, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Bregenz vom 25. Oktober 2021, GZ 3 C 29/21y‑20, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00064.22H.0627.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 501,91 EUR (darin enthalten 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 6. 8. 2021 ereignete sich in Höchst auf dem vier Meter breiten Rheinauweg (Geh- und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO) ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Fahrradfahrerin und die Beklagte als Fußgängerin beteiligt waren. In Fahrtrichtung der Klägerin gesehen befinden sich auf der rechten Seite mehrere PKW‑Stellplätze und auf der linken Seite, gegenüber denStellplätzen, ein Kiosk. Zwischen den Stellplätzen und dem Rheinauweg sind als Abgrenzung Poller sowie eine Pflastersteinbegrenzung mit einer Breite von 0,6 Metern angebracht.

[2] Die Beklagte stieg als Beifahrerin bei den Stellplätzen aus einem PKW aus und beabsichtigte, den Rheinauweg zu überqueren, um den gegenüberliegenden Kiosk aufzusuchen. Nach Verlassen des PKW ging sie zügig in Richtung späterer Unfallstelle. Ca eine Sekunde vor der späteren Kollision befand sie sich unmittelbar vor Betreten des Rheinauwegs. Vor Betreten des Wegs blickte sie weder nach links in Fahrtrichtung der Klägerin noch blieb sie stehen.

[3] Die Klägerin fuhr mit ihrem E‑Bike auf dem Rheinauweg in Richtung Kiosk. Im Abstand von ca einem Meter vom – in Fahrtrichtung der Klägerin gesehenen – rechten Rand des Rheinauwegs kam es zur Kollision mit der querenden Beklagten. Die Kollisionsgeschwindigkeit der Klägerin betrug jedenfalls weniger als 20 km/h. Sie wurde erst durch die Kollision auf die Beklagte aufmerksam. Auch die Beklagte nahm die Klägerin erst unmittelbar vor der Kollision wahr.

[4] Die Beklagte hätte durch Drehen des Kopfes nach links die herannahende Klägerin wahrnehmen und den Unfall durch Abstandnahme von der Querung des Rheinauwegs vermeiden können. Die Klägerin konnte die Beklagte erst unmittelbar vor Betreten des Rheinauwegs als Gefahr erkennen.

[5] Die Klägerin begehrt von der Beklagten zuletzt die Zahlung von 5.063 EUR sA zur Abdeckung unfallskausaler Schäden. Die Beklagte habe plötzlich, für die Klägerin nicht erkennbar und ohne auf den Verkehr zu achten, den Rheinauweg betreten. Die Klägerin habe eine Kollision nicht mehr verhindern können.

[6] Die Beklagte wendet im Wesentlichen ein, vor dem Geh‑ und Radweg angehalten und nach links bzw rechts geschaut zu haben. Sie sei bereits in der Mitte des Wegs gewesen, als sie plötzlich von links vom E‑Bike der Klägerin erfasst worden sei. Die Örtlichkeit sei gut einsehbar und die Beklagte leicht erkennbar gewesen. Die Klägerin habe daher nicht die notwendige Aufmerksamkeit an den Tag gelegt und zu stark beschleunigt. Sie treffe daher das Alleinverschulden. Der Beklagten stünden – näher bezifferte – Gegenforderungen zu.

[7] Das Erstgericht stellte die Klageforderung als mit 5.010,50 EUR zu Recht bestehend (1.), die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend fest (2.), verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 5.010,50 EUR sA (3.), wies ein Zahlungsmehrbegehren von 52,50 EUR sA – unbekämpft – ab (4.) und verhielt die Beklagte zum Kostenersatz. Diese wäre verpflichtet gewesen, sich unmittelbar vor Betreten des Geh‑ und Radwegs zu vergewissern, ob eine Überquereung ohne Gefährdung der diesen benützenden und ihr gegenüber im Vorrang befindlichen Klägerin möglich sei. Die Klägerin habe die Beklagte erst eine Sekunde vor der Kollision als Gefahr erkennen können. Eine Abwehrmaßnahme sei daher nicht mehr möglich gewesen. Das Alleinverschulden treffe die Beklagte.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Gemäß Art 3 des Haager Straßenverkehrsübereinkommens komme österreichisches Sachrecht zur Anwendung. Auch wenn ein kombinierter Geh‑ und Radweg keine Fahrbahn gemäß § 2 Abs 2 Z 2 StVO sei, seien die in § 76 Abs 4 und 5 StVO enthaltenen Regelungen, die das Queren einer Fahrbahn durch einen Fußgänger regeln, anzuwenden, weil auch auf einer derartigen Verkehrsfläche ein Verkehrsfluss in Längsrichtung stattfinde. Die in § 68 Abs 1 letzter Satz StVO getroffene Anordnung, wonach Radfahrer auf Geh‑ und Radwegen Fußgänger nicht gefährden dürfen, beziehe sich lediglich auf Fußgänger, die den Geh‑ und Radweg in Längsrichtung bereits benützen und nicht auf solche, die in der Absicht, die Verkehrsfläche zu queren, diese erst betreten. Die im Fließverkehr befindliche Klägerin habe daher darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte den Geh- und Radweg nicht unmittelbar vor ihrem Herannahen und für sie überraschend betrete. Erst unmittelbar vor Betreten des Geh‑ und Radwegs habe sie ihr Verhalten als Gefahr und Aufforderung zur Reaktion wahrnehmen können. Bei Zubilligung einer Reaktionszeit von einer Sekunde sei eine kollisionsvermeidende Reaktion nicht mehr möglich gewesen. Ergänzender Feststellungen zur Einsehbarkeit der Unfallörtlichkeit und Wahrnehmbarkeit der Annäherung der Beklagten bedürfe es daher nicht. Eine Haftung der Klägerin nach den Bestimmungen des EKHG komme mangels Beteiligung eines Kraftfahrzeugs iSd § 2 Abs 2 EKHG nicht in Betracht. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu fehle, ob ein Fußgänger beim Betreten eines Geh‑ und Radwegs gemäß § 76 Abs 1 StVO gegenüber einem dort fahrenden Radfahrer verpflichtet sei, dies nicht überraschend zu tun, oder ob sich aus § 68 Abs 1 letzter Satz StVO eine Verpflichtung des Radfahrers ergebe, einem erkennbar herannahenden Fußgänger das Überqueren des Geh‑ und Radwegs zu ermöglichen.

[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Abänderungsantrag, die Klage vollinhaltlich abzuweisen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Beklagte argumentiert, die Klägerin sei verpflichtet, die vor ihr liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite einschließlich der beiden Fahrbahnränder und anschließender Verkehrsflächen zu beobachten. Sie habe ihre Fahrgeschwindigkeit dem Straßenverkehr und den Sichtverhältnissen anzupassen. Aus § 68 Abs 1 letzter Satz StVO ergebe sich folglich die Verpflichtung eines Radfahrers, einem erkennbar herannahenden Fußgänger das Überqueren des Geh‑ und Radwegs zu ermöglichen. § 76 Abs 4 und 5 StVO seien nicht anzuwenden, weil es sich um einen kombinierten Geh‑ und Radweg und um keine Fahrbahn handle. Es wäre ergänzend festzustellen gewesen, dass die Unfallörtlichkeit auch für die Klägerin uneingeschränkt einsehbar gewesen sei und sie die Annäherung der Beklagten wahrnehmen hätte können, sodass sie ihre Geschwindigkeit verringern und das E‑Bike zum Stillstand bringen hätte müssen. Überdies wären nähere Feststellungen zum E‑Bike zu treffen gewesen, um die Anwendbarkeit des EKHG beurteilen zu können.

[13] 1. Verhältnis § 68 Abs 1 letzter Satz StVO§ 76 Abs 4 und Abs 5 StVO

[14] 1.1 Gemäß § 76 Abs 1 StVO haben Fußgänger auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen und dürfen die Fahrbahn nicht überraschend betreten. Gemäß § 76 Abs 4 lit b StVO dürfen Fußgänger (zum Überqueren) an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt wird, und ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann auf die Fahrbahn treten, wenn sie sich vergewissert haben, dass sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden.

[15] § 2 Abs 2 Z 2 StVO definiert die Fahrbahn als den für den Fahrzeugverkehr bestimmten Teil der Straße. Grundsätzlich sind alle befahrbaren Teile einer Straße zur Fahrbahn zu rechnen (RS0073184), wenn nicht die Widmung bestimmter Teile ausschließlich für andere Zwecke auffällig wird (RS0073196).

[16] Beim Rheinauweg handelt es sich um einen – in § 76 StVO nicht genannten – Geh‑ und Radweg, der nach § 2 Abs 1 Z 11a StVO als für den Fußgänger‑ und Fahrradverkehr bestimmter und als solcher gekennzeichneter Weg definiert ist. Ein Fahrrad ist nach § 2 Abs 1 Z 22 lit ad StVO jedenfalls ein Fahrzeug. Der Oberste Gerichtshof beurteilte bereits einen Radweg, dessen Benützung Fußgängern verboten ist (2 Ob 146/07w), als Fahrbahn iSd § 76 StVO (2 Ob 31/08k).

[17] § 76 StVO unterscheidet aber zwischen dem für den Fahrzeugverkehr bestimmten Teil einer Straße (Fahrbahn) einerseits und den für den Fußgängerverkehr bestimmten, von der Fahrbahn abgegrenzten Straßenteilen (§ 2 Abs 1 Z 10 StVO: Gehsteigen) bzw als solchen gekennzeichneten Wegen (§ 2 Abs 1 Z 11 StVO: Gehwegen) andererseits. Die Regelungen des § 76 StVO sind vom Grundsatz beherrscht, dass die Fahrbahn in erster Linie für den Fahrzeugverkehr bestimmt ist (so explizit zu § 76 Abs 5 StVO: RS0073163), was auf einen Geh- und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO bereits per definitionem nicht zutrifft.

[18] Ein Geh- und Radweg ist daher nicht als Fahrbahn iSd § 76 Abs 1 StVO zu qualifizieren (vgl auch VfGH 11. 6. 2019 V22/2019: Ein Geh- und Radweg dient der gemeinsamen Nutzung durch Fußgänger und Radfahrer und steht ein Geh- und Radweg – im Gegensatz zu einer Fahrbahn oder einer Nebenfahrbahn – dem gesamten Fahrzeugverkehr nicht offen, sodass ein Geh- und Radweg kein Teil der Fahrbahn ist).

[19] 1.2 Nach § 68 Abs 1 letzter Satz StVO haben sich Radfahrer auf Geh‑ und Radwegen so zu verhalten, dass Fußgänger nicht gefährdet werden. Diese Bestimmung wurde durch die 19. Straßenverkehrsnovelle, BGBl 1994/518, eingeführt. In den Materialien (ErläutRV 1580 BlgNR 18. GP  32) heißt es dazu: „Da es auf Geh- und Radwegen immer wieder zu Konflikten zwischen Radfahrern und Fußgängern kommt, wird hier dahin gehend eine Klarstellung getroffen, dass sich Radfahrer gegenüber Fußgängern so zu verhalten haben, dass die Fußgänger nicht gefährdet werden. Dadurch wird von den Radfahrern eine erhöhte Sorgfaltspflicht gegenüber den Fußgängern gefordert.

[20] Sowohl aus dem Gesetzeswortlaut als auch aus den Materialien ist abzuleiten, dass der Zweck der Norm der Schutz der Fußgänger ist, die sich schon auf dem Geh‑ und Radweg befinden, nicht aber derjenigen, die diesen bloß zum Zweck der Überquerung betreten. § 68 Abs 1 letzter Satz StVO schafft – wie auch der insoweit vergleichbare § 67 Abs 3 StVO im Verhältnis zwischen den Lenkern von Fahrzeugen und Radfahrern (vgl dazu Pürstl, StVO‑ON15.00 § 67 Anm 13) – keine besonderen Privilegien für Fußgänger dahingehend, dass ein Radfahrer verpflichtet wäre, einem herannahenden Fußgänger das Überqueren des Geh- und Radwegs zu ermöglichen.

[21] 1.3 § 76 Abs 1 StVO ist Schutznorm mit dem Zweck, Zusammenstöße zwischen Fußgängern und anderen Straßenbenützern zu vermeiden (RS0027740). Auch § 76 Abs 4 StVO ist eine Schutznorm mit dem Zweck der Vermeidung von Zusammenstößen von Fußgängern mit herannahenden Fahrzeugen (RS0027740 [T1]). Dieser Schutzzweck trifft aber in gleicher Weise im Verhältnis zwischen auf einem Geh- und Radweg herannahenden Fahrrädern einerseits und Fußgängern andererseits zu, die diesen zum Überqueren betreten. Es ist daher von einer planwidrigen, im Wege der Analogie zu schließenden Unvollständigkeit (vgl RS0098756) des § 76 Abs 4 und 5 StVO auszugehen und der Anwendungsbereich auch auf Geh- und Radwege auszudehnen.

[22] Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:

[23] Fußgänger dürfen an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt wird, und ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann (zum Überqueren) auf einen Geh- und Radweg treten, wenn sie sich vergewissert haben, dass sie hiebei andere Benützer des Geh- und Radwegs nicht gefährden (§ 76 Abs 4 lit b StVO analog).

[24] Gegen die Schutznorm des § 76 Abs 4 lit b StVO analog hat die Beklagte verstoßen, indem sie nach Verlassen des PKW zügig, ohne nach links oder rechts zu schauen den Geh- und Radweg zum Überqueren betreten hat.

[25] 2. Entgegen der Ansicht der Revision bedarf es nicht näherer Feststellungen zur Einsehbarkeit der Unfallstelle sowie der Erkennbarkeit der Annäherung der Beklagten. Nach den getroffenen Feststellungen bewegte sich diese nach Verlassen des PKW zügig in Richtung späterer Kollisionsstelle und befand sich eine Sekunde vor der späteren Kollision unmittelbar vor Betreten des Geh- und Radwegs. Erst zu diesem Zeitpunkt musste die Klägerin das Verhalten der Beklagten als verkehrswidrig und Gefahr erkennen (objektive Reaktionsaufforderung), sodass ihr unter Zubilligung einer – von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogenen – Reaktionszeit von einer Sekunde keine Möglichkeit verblieb, den Unfall zu vermeiden. Auch wenn die Unfallörtlichkeit gut einsehbar und der Klägerin die (gesamte) Annäherung der Beklagten erkennbar gewesen sein sollte, durfte sie mangels gegenteiliger Anhaltspunkte bis zu diesem Zeitpunkt auf eine Einhaltung der Vorschrift des § 76 Abs 4 lit b StVO durch die Beklagte vertrauen.

[26] 3. Mangels ausreichenden Sachvorbringens der für die Anwendung der gefärdungshaftungsrechtlichen Bestimmungen behauptungspflichtigen Beklagten (RS0109832) in erster Instanz begründet das Unterbleiben näherer Feststellungen zu den Eigenschaften des E‑Bikes der Klägerin keinen sekundären Feststellungsmangel (RS0053317 [T2]).

[27] 4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Bemessungsgrundlage im Revisionsverfahren ist nur der noch strittige Betrag von 5.010,50 EUR, was aber keinen Tarifsprung zur Folge hat.

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