Spruch:
Voraussetzungen der Geltendmachung von Schadenersatzforderungen gegen die Witwe eines bei einem Verkehrsunfall getöteten Verkehrsteilnehmers.
Entscheidung vom 17. Oktober 1963, 2 Ob 226/63.
I. Instanz: Kreisgericht Leoben; II. Instanz: Oberlandesgericht Graz.
Text
Am 14. Oktober 1958 um 17.40 Uhr ereignete sich in der W.-Straße in M. ein Verkehrsunfall, bei dem der auf einem Fahrrad fahrende Engelbert M. von dem in derselben Richtung auf einem Motorrad fahrenden Beklagten niedergestoßen wurde. M. erlag am 19. Oktober 1958 seinen Verletzungen. Der Beklagte wurde vom Strafgericht freigesprochen.
Die klagende Partei, die für die Witwe M. Pflichtleistungen aus der Sozialversicherung erbringt, begehrt den Ersatz ihrer Aufwendungen vom Beklagten gemäß § 332 ASVG. und die Feststellung, daß ihr der Beklagte im Rahmen der zitierten Gesetzesstelle auch die zukünftigen Leistungen zu ersetzen habe. Sie anerkannte ein 50%iges Mitverschulden des E. M. Der Beklagte begehrte Klagsabweisung und wandte das alleinige Verschulden des E. M. ein. Dieser habe die Straße von links nach rechts in schräger Richtung überquert und sei ganz unvermittelt in die Fahrbahn des Beklagten hineingefahren, so daß er einen Zusammenstoß nicht mehr vermeiden konnte. Der Beklagte wendete auch einen Schmerzengeldanspruch von 10.000 S als Gegenforderung zur Kompensation mit der Behauptung ein, daß er beim Unfall schwere Verletzungen erlitten habe.
Das Erstgericht erkannte die Klagsforderung und die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend und wies das Leistungs- und Feststellungsbegehren ab. Es hielt einen Beweis für ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten nicht erbracht und war der Ansicht, daß die Gegenforderung des Beklagten gemäß § 1489 ABGB. verjährt sei.
Das Berufungsgericht wiederholte die Beweisaufnahmen und gab sodann der Berufung der klagenden Partei Folge. Es ging davon aus, daß die Entscheidung über die Gegenforderung unangefochten geblieben sei und entschied dahin, daß der Klagsanspruch dem Gründe nach zu Recht bestehe. Es gab auch dem Feststellungsbegehren statt und fügte seiner Entscheidung auch die bereits vom Erstgericht getroffene und als unangefochten angesehene Entscheidung über die Gegenforderung bei.
Mit Beschluß vom 28. März 1963 gab der Oberste Gerichtshof der Revision der beklagten Partei Folge, hob die Entscheidung des Berufungsgerichtes auf und verwies die Rechtssache an dieses Gericht zurück. Der Oberste Gerichtshof war der Meinung, daß die Entscheidung des Erstgerichtes über die Gegenforderung nicht in Rechtskraft erwachsen sein konnte, weil das Erstgericht mit Rücksicht auf die Abweisung des Klagebegehrens über die Gegenforderung überhaupt nicht habe entscheiden dürfen. Die Gegenforderung sei erst von Bedeutung geworden, als das Berufungsgericht über das Klagebegehren positiv erkannt habe. Es sei daher auch über die Gegenforderung zu entscheiden.
Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil gab das Berufungsgericht der Berufung der klagenden Partei Folge und erkannte, daß der Klagsanspruch dem Gründe nach zu Recht und die Gegenforderung dem Gründe nach zur Hälfte zu Recht und zur Hälfte nicht zu Recht bestehe. Es gab auch dem Feststellungsbegehren statt. Das Berufungsgericht stellte auf Grund seiner Beweisaufnahme den Sachverhalt fest und beurteilte diesen dahin, daß sowohl E. M. als auch der Beklagte den Unfall je zur Hälfte verschuldet hätten. Die Gegenforderung sei nicht verjährt. Die Einwendung der Gegenforderung gegenüber der klagenden Partei als dem Legalzessionar sei zulässig, sie sei auch nicht verjährt.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge, änderte aber das Urteil des Berufungsgerichtes auf Grund der Revision der klagenden Partei dahin ab, daß die Gegenforderung der beklagten Partei als nicht zu Recht bestehend erkannt wurde.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
I. Zur Revision der klagenden Partei:
Die klagende Partei wendet sich gegen den Ausspruch des Berufungsgerichtes, daß die vom Beklagten eingewendete Gegenforderung von 10.000 S an Schmerzengeld dem Gründe nach zur Hälfte zu Recht und zur Hälfte nicht zu Recht bestehe. Sie ist der Meinung, daß der Beklagte im ersten Rechtsgang der zweiten Instanz weder in seiner Berufung noch auch bei der mündlichen Berufungsverhandlung die erstrichterliche Auffassung, es liege Verjährung der eingewendeten Gegenforderung vor, bekämpft habe. Diese Unterlassung habe die Bedeutung, daß diese Rechtsansicht des Erstgerichtes im weiteren Verfahren nicht mehr bekämpft werden könne.
Die klagende Partei übersieht hier die Ausführungen des Obersten Gerichtshofes im Beschluß vom 28. März 1963, wonach das Erstgericht über die Gegenforderung überhaupt nicht entscheiden durfte, diese Entscheidung nicht rechtskräftig werden konnte und daher so zu behandeln ist, als wäre sie nicht ergangen. Es kommt daher auch der Ansicht des Erstgerichtes, daß die Gegenforderung verjährt sei, keine Bedeutung zu und es war auch eine Anfechtung dieser Rechtsansicht des Erstgerichtes durch den Beklagten nicht notwendig. Die compensando-Einwendung des Beklagten wurde erst von Bedeutung, als die zweite Instanz über das Klagebegehren positiv entschied. Das Berufungsgericht erkannte damit zum erstenmal über die Gegenforderung und es ist daher im Revisionsverfahren im Rahmen der Anfechtung zu prüfen, ob diese Entscheidung richtig ist.
In rechtlicher Hinsicht macht nur die klagende Partei mit Recht geltend, daß der Beklagte diese Forderung ihr gegenüber überhaupt nicht compensando einwenden könne, weil weder behauptet noch nachgewiesen sei, daß ihre Rechtsvorgängerin, die Witwe nach E. M., auch Erbin nach ihrem getöteten Gatten sei. Der Anspruch der Witwe M. nach § 1327 ABGB. ist ein eigener (originärer) Schadenersatzanspruch gegenüber dem Schädiger und nicht ein ihrem getöteten Gatten zugestandener und auf sie übergegangener Anspruch aus dem Schadenereignis.
Nur in letzterem Fall könnte man der Ansicht sein, daß ein solcher Anspruch, belastet mit dein Ausgleichsanspruch des Schädigers aus demselben Schadenereignis, auf die Witwe übergegangen sei und der Schädiger daher auch berechtigt sei, der Witwe gegenüber seine Schadenersatzforderung aufrechnungsweise einzuwenden. Da es sich aber um einen eigenen Anspruch der Witwe handelt, ist ein solcher Einwand unzulässig. Der Schädiger hat nur die Möglichkeit, seinen Schadenersatzanspruch gegenüber dem Nachlaß des Getöteten oder gegen dessen Erben nach Maßgabe der Erbserklärung und der Einantwortung zu richten (in diesem Sinne auch Geigel, Haftpflichtprozesse[11] 26/86).
Der Beklagte hätte daher im Prozeß behaupten und beweisen müssen, daß die Witwe M. Erbin nach ihrem Gatten ist, daß sie sich unbedingt erbserklärte oder daß sie Aktiva aus der Verlassenschaft übernommen habe, in denen diese Forderung Deckung fände. Solche Prozeßbehauptungen wurden aber vom Beklagten nicht aufgestellt und es ist in dieser Hinsicht auch kein Beweis erbracht worden. Da ein anderer Haftungsgrund nicht dargetan wurde, ist die eingewendete Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend anzusehen. Eine Aufhebung dieser Entscheidung des Berufungsgerichtes kommt deshalb nicht in Frage, weil diese Behauptungen und Beweise vom Beklagten nicht mehr nachgetragen werden dürfen.
Der Hinweis des Beklagten, daß sich die Witwe des bei einem Verkehrsunfall getöteten Gatten gleich dem Mitverschulden auch die Ansprüche des Schädigers gegenüber ihrem Gatten einwenden lassen müsse, ist nicht stichhältig. Im Sinne der Rechtsprechung ist der Mitverschuldenseinwand gegen die Witwe des Getöteten nur deshalb zulässig, weil sie ihre Ansprüche aus dem ihrem Gatten zugestoßenen Unfall und aus der Verantwortlichkeit des Schädigers für diesen Unfall herleitet. Daraus folgt aber nicht zwingend, daß sie nunmehr auch verpflichtet ist, dem Schädiger den ihm durch ein Verschulden des Getöteten zugefügten Schaden zu ersetzen. Dies würde auch den Grundsätzen des Schadenersatzrechtes widersprechen. Nach § 1295 ABGB. kann der Schadenersatz nur vom Schädiger selbst begehrt werden. Diese Schuld geht allerdings gleich einer anderen Verbindlichkeit auf den Nachlaß oder auf die Erben über. Keineswegs aber kann eine solche Forderung gegen die Witwe des bei einem Verkehrsunfall getöteten und mitschuldigen Gatten aus dem Gründe ihrer Unterhaltsberechtigung geltend gemacht werden.
Es ist daher der Revision in der Richtung Folge zu geben, daß der Ausspruch des Berufungsgerichtes über die Gegenforderung abgeändert und die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannt wird.
Mit der Rechtsrüge wendet sich der Beklagte gegen die Annahme seines Mitverschuldens an dem Verkehrsunfall. Seine Ausführungen sind aber nicht geeignet, die Ansicht des Berufungsgerichtes als unrichtig erscheinen zu lassen, daß der Beklagte unaufmerksam und zu schnell gefahren sei. Es ist nicht erwiesen, daß M. von der linken Straßenseite auf die rechte Straßenseite gefahren ist. Diese Annahme des Beklagten stellt eine bloße Vermutung dar, die er nicht einmal durch seine eigene Aussage als Partei stützen konnte. Die Rekonstruktion des Unfalles wurde vom Berufungsgericht unter Zugrundelegung des Sachverständigengutachtens vorgenommen und hat nicht nur die größte Wahrscheinlichkeit für sich, sondern läßt sich auch zwanglos aus den wenigen objektiven Anhaltspunkten ableiten. Der Beklagte vermag selbst nicht zu bestreiten, daß sich M. mit seinem Fahrrad vor ihm auf der Straße befand. Nun steht fest, daß der Beklagte mit angeblendetem Scheinwerferlicht fuhr, die Straße vor und nach der Unfallstelle auf 150 m und 80 m gerade verläuft und
6.15 m breit ist. Es ist daher auch die Annahme gerechtfertigt, daß der Beklagte den vor ihm befindlichen Radfahrer selbst dann hätte wahrnehmen müssen, wenn sich dieser auf der linken Straßenseite befunden hätte. Das Berufungsgericht hat aber angenommen, daß M. sich auf der rechten Fahrbahnhälfte fortbewegte und daß er nicht am rechten Fahrbahnrand fuhr. Wäre der Beklagte aufmerksam gefahren, dann hätte er den vor ihm fahrenden Radfahrer rechtzeitig wahrnehmen und sich auf seine Fahrweise einstellen können. Die Darstellung des Beklagten, wonach der Radfahrer ganz plötzlich aufgetaucht und in seine Fahrbahn hineingefahren sei, ist durch den vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt widerlegt. Schließlich hätte aber der Radfahrer M., wenn er von links nach rechts die Straße überquert hätte, wie der Beklagte vermutet, dazu eine gewisse Zeit benötigt, so daß ihn der Beklagte noch rechtzeitig wahrnehmen und sich auf ihn einstellen hätte können und müssen. Da der Beklagte mit seinem Motorrad in die rechte Seite des Fahrrades anfuhr und das Fahrrad eine Schrägstellung von zirka 30 Grad hatte, ist auch der Schluß gerechtfertigt, daß der Beklagte den links vor ihm fahrenden Radfahrer überholen wollte.
Die Ansicht des Beklagten, daß er nichts unternehmen habe können, um den Unfall zu verhindern, ist somit nach dem festgestellten Sachverhalt nicht gerechtfertigt.
Der Beklagte fuhr unaufmerksam und wollte den Radfahrer rechts überholen; dadurch verstieß er gegen die Vorschriften der §§ 7 und 16 Abs. 1 StPolG. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob der Beklagte auch mit einer für die damaligen Verhältnisse zu hohen Geschwindigkeit fuhr. Bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte er seine Geschwindigkeit so rechtzeitig herabmindern können, daß ein Zusammenstoß vermieden worden wäre. Es ist daher dem Beklagten nicht so sehr die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit, sondern der Umstand anzulasten, daß er den vor ihm fahrenden Radfahrer M. nicht rechtzeitig wahrnahm und dadurch wesentlich zu dem Unfall beitrug.
Dem aufgezeigten schuldhaften Verhalten des Beklagten steht die vorschriftswidrige Fahrweise des E. M. gegenüber, der entgegen der Vorschrift des § 70 Z. 2 StPolO. nicht rechts am Rande der Fahrbahn fuhr und dem nachkommenden Verkehr keine oder zu wenig Beachtung schenkte. Da ein klares Überwiegen des einen oder anderen schuldhaften Verhaltens nicht erkennbar ist, erscheint auch dem Obersten Gerichtshof eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 im Sinne des § 1304 ABGB. gerechtfertigt.
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