OGH 2Ob131/22m

OGH2Ob131/22m27.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. M*, vertreten durch Mag. Franz Kienast, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1. U*, und 2. E*, beide vertreten durch Dr. Robert Starzer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 42.234,73 EUR sA, Rente sowie Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 12. Mai 2022, GZ 11 R 31/22t‑27, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00131.22M.0927.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin begehrt aufgrund eines Verkehrsunfalls vom erstbeklagten Haftpflichtversicherer und der zweitbeklagten Halterin Schadenersatz sowie die Feststellung ihrer Haftung für zukünftige Schäden.

[2] Das von allen Parteien angerufene Berufungsgericht wies die Klage – soweit diese Gegenstand des Berufungsverfahrens war – ab. Die Klägerin habe im Ortsgebiet bei Kolonnenverkehr mit dem verkehrsbedingten starken Abbremsen des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs rechnen müssen. Ein Verstoß gegen § 21 Abs 1 StVO liege daher mangels überraschenden Bremsmanövers nicht vor. Dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs einen zu geringen Tiefenabstand zum vor ihm fahrenden Fahrzeug eingehalten und daher gegen § 18 Abs 1 StVO verstoßen hätte, habe die Klägerin nicht bewiesen. Sie selbst habe zwar einen gerade noch ausreichenden Tiefenabstand eingehalten, aber zunächst anstelle einer notwendigen Vollbremsung mit einer zur Kollisionsvermeidung nicht ausreichenden Betriebsbremsung reagiert. Die gewöhnliche Betriebsgefahr trete gegenüber ihrer Fehlreaktion zurück.

Rechtliche Beurteilung

[3] Mit ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine entscheidungserhebliche Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4] 1. Gemäß § 21 Abs 1 StVO darf ein Lenker sein Fahrzeug nicht jäh und für den Lenker eines nachfolgenden Fahrzeugs überraschend abbremsen, wenn andere Straßenbenützer dadurch gefährdet oder behindert werden, es sei denn, dass es die Verkehrssicherheit erfordert. Wenn es die Verkehrssicherheit erfordert, darf daher auch jäh und überraschend abgebremst werden (RS0074752).

[5] Fest steht, dass der Lenker des Beklagtenfahrzeugs verkehrsbedingt jäh bremste. Ungeklärt blieb, ob die jähe Bremsung allenfalls aufgrund der Einhaltung eines zu geringen Tiefenabstands notwendig wurde.

[6] 2. Dass sich ein Lenker, der sich „verschuldet“ in eine Situation gebracht hat, die dann eine plötzliche starke Bremsung erforderlich macht, nicht auf die Notwendigkeit einer „verkehrsbedingten“ Bremsung berufen kann (2 Ob 42/89; 2 Ob 80/16b Pkt 5.3 mwN), bedeutet nicht, dass der Bremsende im Rahmen des ihm bei objektiv nachgewiesener Schutzgesetzverletzung obliegenden Beweises mangelnden Verschuldens (RS0112234 [T17, T28]) auch nachzuweisen hätte, dass ihm kein zur „verkehrsbedingten“ Bremsung führendes (weiteres) verkehrswidriges Verhalten (bspw Reaktionsverzögerung, Verstoß gegen § 18 Abs 1 StVO, überhöhte Geschwindigkeit, Nichtbeachtung einer unklaren Verkehrslage, etc) zur Last liegt. Entsprechend der Beweislastverteilung im von § 21 Abs 1 StVO vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis (vgl generell: RS0040188) obliegt dem Geschädigten der Beweis einer „jähen“ und „überraschenden“ Bremsung und dem Bremsenden der (Entlastungs‑)Beweis, dass die Verkehrssicherheit eine solche erforderlich gemacht hat. Für die Gegenausnahme, dass das verkehrsbedingte, für die Verkehrssicherheit erforderliche Bremsen auf ein (weiteres) Fehlverhalten des Bremsenden beruht, ist aber entsprechend dem allgemeinen Grundsatz, dass jeder die für ihn günstigen Normen zu behaupten und zu beweisen hat (RS0109832), wieder der Geschädigte beweispflichtig. Sofern das (weitere) verkehrswidrige Verhalten auf eine Schutzgesetzverletzung gestützt ist, reicht wieder der Nachweis der objektiven Übertretung (RS0112234). Allfällige Beweisschwierigkeiten im Rahmen des Nachweises einer Übertretung des § 18 Abs 1 StVO aufgrund der Undurchsichtigkeit des Beklagtenfahrzeugs rechtfertigen eine Verschiebung der Beweislast nicht (RS0040182 [T13]).

[7] Auch in der Entscheidung 2 Ob 80/16b wurden die verbliebenen Unklarheiten im Sachverhalt nicht zum Nachteil des Bremsenden veranschlagt.

[8] 3. Da das Bremsmanöver aus Gründen der Verkehrssicherheit erforderlich war und keine Hinweise darauf vorliegen, der Lenker des Beklagtenfahrzeugs hätte dieses durch eigenes verkehrswidriges Verhalten (hier: Verstoß gegen § 18 Abs 1 StVO) erforderlich gemacht, kann ihm kein Verstoß gegen § 21 Abs 1 StVO angelastet werden, ohne dass es noch darauf ankäme, ob die Bremsung nach der Verkehrssituation überraschend war.

[9] 4. Nach gefestigter Rechtsprechung ist beim Hintereinanderfahren ein Sicherheitsabstand, der etwa der Länge des Reaktionswegs entspricht, als ausreichend zu bezeichnen, sofern nicht Umstände hinzutreten, die einen größeren Sicherheitsabstand geboten erscheinen lassen. Aufmerksamkeit, Geschwindigkeit und Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug stehen beim Lenken eines Kraftfahrzeugs in einem untrennbaren Zusammenhang. Konnte der nachfahrende Lenker sein Fahrzeug hinter einem plötzlich abgebremsten Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig anhalten, war entweder der eingehaltene Sicherheitsabstand zu gering oder er hat verspätet reagiert (2 Ob 169/19w Rz 9). Wenn das Berufungsgericht daher in der zu schwach ausgefallenen Bremsung ein Fehlverhalten der Klägerin erblickt, ist dies nicht korrekturbedürftig. Entweder war der Sicherheitsabstand nach den Umständen eben doch zu gering oder die Reaktion verspätet.

[10] 5. Soweit die Klägerin argumentiert, es fehle Rechtsprechung zur Verschuldensteilung, wenn ein Fehlverhalten des Geschädigten dem nicht erbrachten Entlastungsbeweis für fehlendes Verschulden durch den Unfallgegner gegenüberstehen, ist sie auf obige Ausführungen im Zusammenhang mit der Beweislastverteilung bei § 21 Abs 1 StVO zu verweisen. Die aufgeworfene Rechtsfrage stellt sich nicht.

[11] 6. Dass die durch die starke Bremsung begründete gewöhnliche Betriebsgefahr (vgl RS0128516) durch das Verschulden der Klägerin zurückgedrängt wird, ist ebenfalls durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gedeckt (RS0058551).

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