Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
In Abänderung des berufungsgerichtlichen Urteiles wird das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt.
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 9.943,20 (darin S 1.157,30 Umsatzsteuer und S 3.000,- Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Bei einem am 15.7.1988 vom Erstbeklagten mit dem bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW verschuldeten Auffahrunfall erlitt der Kläger eine leichtgradige Zerrung der Halswirbelsäule (im Sinne von Erdmann I). Die ambulante Behandlung des Klägers in einem Unfallskrankenhaus wurde fünf Tage nach dem Unfall abgeschlossen, weil das Ende der Arbeitsunfähigkeit des Klägers angenommen wurde. Die durchgeführten Untersuchungen des Klägers hatten keine Hinweise auf das Vorliegen traumatisch bedingter Veränderungen (im Bereich der Halswirbelsäule) ergeben. Der Kläger nahm jedoch wegen anhaltender Beschwerden (Schmerzen im Nacken bei Kopfbewegungen nach rechts oder nach hinten, besonders bei Tiefdrucklage) weiterhin ärztliche Hilfe in Anspruch, unterzog sich auf ärztlichen Rat verschiedenen Therapien oder Kuren sowie zwei Computertomographien und einer bis zum Schluß der Verhandlung erster Instanz (31.8.1992) andauernden heilgymnastischen Behandlung, ohne damit eine völlige Heilung zu bewirken. Während im orthopädisch-unfallschirurgischen Sachverständigengutachten der Gesundheitsschaden des Klägers mangels jeglichen Hinweises auf das Vorliegen traumatisch bedingter Veränderungen mit konkret dargelegten Schmerzperioden von gerafft einem Tag starker, fünf Tagen mittelstarken und zehn bis zwölf Tagen leichten Schmerzen definiert wurde und weitere vom Kläger angegebene Schmerzen als mit dem vorliegenden Unfallsereignis praktisch unvereinbar und der medizinischen Erfahrung widersprechend bezeichnet wurden, kam das Erstgericht, dem Gutachten des Sachverständigen für Psychiatrie und Neurologie folgend, zur Persönlichkeitsstruktur des Klägers und den von ihm empfundenen Unfallsfolgen zu folgenden Feststellungen:
Der Kläger ist um seine Gesundheit übermäßig besorgt. Unter andauernder Belastung besteht bei ihm die Tendenz zu ausgeprägtem angstindiziertem Verhalten. Er äußert viele Beschwerden und zeigt keine Einsicht in die emotionale Basis der Symptome, sodaß körperliche Reaktionen auf psychische Probleme bei ihm sehr wahrscheinlich sind. Bei ihm liegt ein psychosomatisches Reaktionsmuster mit deutlichen Hinweisen auf eine Persönlichkeit mit ausgeprägten zwangshaften Verhaltensmustern vor. Es findet sich ein überdurchschnittliches Vorsichts- und Kontrollverhalten mit der Tendenz, mögliche unangenehme Situationen mit allen Mitteln zu verhindern oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Der Kläger fühlt sich dem Schmerz gegenüber relativ hilflos und ausgeliefert, obwohl er selbst beobachten kann, daß er unter bestimmten Bedingungen, in denen er sich offensichtlich entspannt, den Schmerz nicht wahrnimmt. Beim Kläger besteht eine ausgeprägte psychogene Fixierung auf der Basis einer zwangshaften-ängstlichen Persönlichkeit, jedoch liegt keine Simulation vor. Die wiedergegebenen Schmerzen sind nicht vorgetäuscht, sondern durch die individuelle Verarbeitungsweise des traumatischen Ereignisses begründet. Definiert man ein neurotisches Verhaltensmuster als "psychisches Fehlverhalten", dann kann man das Verhalten des Klägers auf den eingetretenen Unfall(serfolg) als solches psychisches Fehlverhalten klassifizieren. Der Kläger hätte diesem Verhalten jedoch nicht entgegensteuern können.
Der Kläger begehrte ursprünglich S 45.000,-, sodann (unter Berücksichtigung einer Teilzahlung von S 15.000,- -) S 75.000,-
Schmerzengeld und die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle künftigen Unfallsfolgen.
Die beklagten Parteien beantragten Abweisung des über den anerkannten und bezahlten Schmerzengeldbetrag hinausgehenden, als unberechtigt anzusehenden Klagebegehrens.
Das Erstgericht gab dem Schmerzengeldbegehren unter Berücksichtigung der Teilzahlung von S 15.000,- mit S 40.000,- und dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt, das Mehrbegehren von S 35.000,- wies es - unangefochten - ab. Es war der Auffassung, in Anwendung des § 273 ZPO sei ein weiteres Schmerzengeld von S 40.000,-
(insgesamt ein solches von S 55.000,-) angemessen, weil der Kläger auf Grund seiner ausgeführten psychogenen Fixierung auf das Unfallsereignis seit diesem Unfall Schmerzen erlitten habe und nach wie vor erleide. Weil er auch nicht simuliere, sei nicht auszuschließen, daß er in Zukunft noch Schmerzen erleiden werde, sodaß auch ein rechtliches Interesse für das Feststellungsbegehren vorliege.
Das Gericht zweiter Instanz gab der auf die weitere Abweisung des Schmerzengeldbegehrens von S 32.000,- und des gesamten Feststellungsbegehrens gerichteten, lediglich eine Rechtsrüge enthaltenden Berufung der beklagten Parteien Folge, bewertete den Entscheidungsgegenstand über S 50.000,- und sprach aus, daß die ordentliche Revisions zulässig sei. Es äußerte folgende Rechtsansicht:
Die vom Kläger nach wie vor bei gewissen Bewegungen im Nackenbereich empfundenen, nicht simulierten Schmerzen "psychosomatischer Natur" seien auf ein psychisches Fehlverhalten des Klägers nach dem Verkehrsunfall zurückzuführen, sodaß ihre Adäquanz zu bejahen sei. Solche auf emotionaler Basis, nämlich einer ausgeprägten psychogenen Fixierung und damit auf psychischen Problemen beruhenden Symptome seien rechtlich einer Hypochondrie oder Begehrungsneurose gleichzusetzen. In diesen Fällen sei eine maßlose Schmerzengeldforderung nicht als entschädigungspflichtig anzusehen, wenn der Schmerz auf ein solches psychisches Fehlverhalten zurückzuführen sei und der Geschädigte in der Lage wäre, dieses Fehlverhalten zu überwinden. Hier stehe zwar fest, daß der Kläger seinem festgestellten Fehlverhalten nicht entgegensteuern hätte können, doch ergebe sich aus dem psychiatrischen Gutachten, daß die Therapie der festgestellten Störung grundsätzlich möglich sei. Der Kläger sei sich seines psychischen Fehlverhaltens bewußt und müßte zumindest erkennen, daß seine Schmerzen nicht unmittelbar auf die erlittene Verletzung zurückzuführen seien, sondern durch ein sich einschiebendes Fehlverhalten bewirkt werden. Die darauf zurückzuführenden maßlos überhöhten Schmerzengeldforderungen, die nicht nur dem Willens-, sondern auch dem Verstandesbereich zugehörten, seien daher als mitwirkendes Verschulden des Klägers bei der rechtlichen Beurteilung des Umfangs des zu gewährenden Schmerzengeldes in Betracht zu ziehen und daher (in ihrer Maßlosigkeit) nicht zu berücksichtigen.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen die berufungsgerichtliche Entscheidung erhobene Revision des Klägers ist berechtigt.
Die in der Revision geltend gemachte Aktenwidrigkeit (als solche wird auch die Rüge der Aktenwidrigkeit als "Nichtigkeit gemäß § 477 ZPO" dargestellt) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
Das Berufungsgericht hat allerdings den vom Erstgericht festgestellten und im Berufungsverfahren nicht bekämpften Sachverhalt durch die Bejahung einer dem Kläger anzulastenden Verletzung der Schadenminderungspflicht rechtlich unrichtig beurteilt:
Zwar ist der Vorinstanz darin beizupflichten, daß die vom Kläger nach wie vor nach der beim Unfall erlittenen Halswirbelsäulenzerrung im Nackenbereich empfundenen, nicht simulierten Schmerzen adäquate Folgen des Unfallsgeschehens sind, wenn sie auch - über das sogenannte Normalmaß hinaus - auf das psychische (Fehl)Verhalten (= die psychogene Fixierung seiner zwangshaft ängstlichen Persönlichkeit) des Klägers auf das Unfallsgeschehen zurückzuführen sind, weil sie nach der Sachlage im unmittelbaren (Auslösungs- oder Verstärkungs-)Zusammenhang mit der beim Unfall erlittenen Halswirbelsäulenzerrung stehen (vgl zur [Renten-]Begehrungsneurose:
SZ 24/113; RZ 1954, 29; JBl 1988, 649; Reischauer in Rummel2 Rz 6 zu § 1325; Koziol, Haftpflichtrecht2 II 115 ff mwH; Geigel, Der Haftpflichtprozeß21 158; Grunsky im MünchKomm3 RN 71 vor § 249; Heinrichs in Palandt, BGB53 RN 69 zu Vorbemerkungen vor § 249 mwN). Der Schädiger hat grundsätzlich auch neurotische Störungen (Fehlhaltungen) des Geschädigten zu ersetzen, wobei es unerheblich ist, ob die Neurose erst durch den Unfall und seine Folgen entstanden ist oder durch eine schon vor dem Unfall bestehende psychische Beschaffenheit begünstigt wurde. Er muß sohin die Folgen anlagebedingter Schadensgeneigtheit beim Geschädigten mittragen, haftet also auch für neurotische Störungen, wie sie beim Kläger auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur durch den Unfall hervorgerufen wurden (JBl 1988, 649 mwH; ua). Korrektiv für überhöhte Schadenersatzforderungen eines derartig betroffenen Geschädigten ist seine Pflicht, einsichtsgemäß den Schaden zu vermeiden oder gering zu halten, bei deren schuldhafter (vorwerfbarer) Verletzung er den Schaden ganz oder teilweise im Sinne des § 1304 ABGB selbst zu tragen hat; kann der Geschädigte allerdings - wie hier festgestelltermaßen der Kläger - seiner durch den Unfall und dessen Folgen ausgelösten oder begünstigten psychotischen Verhaltensweise nicht wirksam begegnen, kann ihm eine schuldhafte Verletzung der Schadenminderungspflicht im oben dargestellten Sinn nicht anspruchsmindernd entgegengehalten werden (SZ 24/113; RZ 1954, 29; Reischauer aaO; Koziol aaO).
Im vorliegenden Fall wird die Auffassung des Berufungsgerichtes nicht geteilt, der Kläger könne schon deshalb, weil er durch das gesamte Prozeßgeschehen erfahren hat, daß seine Schmerzen im überwiegenden Ausmaß nicht aus der körperlichen Unfallsverletzung durch das mechanische Unfallsgeschehen, sondern aus seinen psychischen "Grund- oder Fehlhaltungen" zum Unfallsgeschehen herrühren, und weil der psychiatrische Sachverständige ausgeführt habe, eine solche seelische Störung könne theoretisch auch behoben werden, seiner dargestellten psychischen Fehlhaltung entgegenwirken und hafte daher für die entsprechende Unterlassung. Abgesehen davon, daß vom Erstgericht - dem psychiatrischen Sachverständigengutachen folgend - festgestellt wurde, daß das dargestellte Verhalten des Klägers nur unter der Voraussetzung seiner "Definition als Fehlverhalten" als Fehlverhalten zu bezeichnen ist, und daher eine negative Qualifikation dieses Verhaltens als Fehler vorweg ausscheidet, hat das Erstgericht auch ganz klar festgestellt, daß der Kläger diesem Verhalten nicht gegensteuern kann. Dies hat das Berufungsgericht zwar in seiner Betrachtung erwähnt, jedoch bei der Beurteilung der Zumutbarkeit und daher der Vorwerfbarkeit gegenläufigen Verhaltens nicht beachtet.
Da auch die Zufügung von Schmerzen ohne nachteilige (nachweisbare) Veränderungen am menschlichen Körper als Körperverletzung im Sinne des § 1325 ABGB anzusehen ist (Koziol aaO 115), kommt es im vorliegenden Fall für die Ersatzfähigkeit dieser Schmerzen nicht wesentlich darauf an, daß beim Kläger nach der erlittenen, als leichtgradige Halswirbelsäulenzerrung eingestuften Verletzung keine nachweisbaren körperlichen Verletzungsfolgen festgestellt werden konnten. Wird angemessen berücksichtigt, daß der Kläger im Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz (31.8.1992), also nach mehr als vier Jahren nach dem Unfall, immer noch an Schmerzen litt, die nach den dargelegten Ausführungen auf das Unfallsgeschehen zurückzuführen sind und in die Haftpflicht der beklagten Parteien fallen, dann begegnet die vom Erstrichter vorgenommene Ausmessung des Schmerzengeldes unter Anwendung des § 273 ZPO auch unter dem Gesichtspunkt keinem Bedenken, daß für andere, im somatischen Bereich wesentlich gravierendere Verletzungen annähernd gleich hohe oder nur unwesentlich höhere Schmerzengeldbeträge zugesprochen wurden.
Festgestelltermaßen hatte der Kläger noch im Zeitpunkt des Verhandlungsschlusses erster Instanz das Unfallsgeschehen psychisch nicht abschließend verarbeitet, sondern immer noch an den dargestellten psychisch bedingten Schmerzen gelitten, sodaß es auch der Rechtslage entspricht, daß weitere Unfallsfolgen bei ihm nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, und sohin der Ausspruch der begehrten Feststellung gerechtfertigt ist.
In Stattgebung der Revision des Klägers ist daher das Urteil des Erstgerichtes wieder herzustellen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.
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