OGH 1Ob57/97g

OGH1Ob57/97g24.6.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Cornelia D*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Eltern Josef und Veronika D*****, vertreten durch Dr.Dietmar Gollonitsch, Rechtsanwalt in Scheibbs, gegen den Beschluß des Landesgerichts St.Pölten als Rekursgericht vom 4.Dezember 1996, GZ 10 R 422/96b-41, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Mank vom 26.Oktober 1996, GZ P 1055/95x-37, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird mit der Maßgabe bestätigt, daß er zu lauten hat:

„Die Obsorge für die mj. Cornelia D***** steht deren Eltern in Hinkunft mit der Einschränkung zu, daß der Jugendwohlfahrtsträger für die Angelegenheiten des Schulbesuchs sowie der ärztlichen und therapeutischen Betreuung der Minderjährigen zu deren Sachwalter bestellt wird.“

Text

Begründung

Die Eltern der Minderjährigen sind in aufrechter Ehe verheiratet; sie betreiben eine Landwirtschaft. Bereits im November 1989 wurde bei der Minderjährigen eine auffällige Gangstörung mit unvermittelter und plötzlicher Sturzneigung durch Stolpern ohne adäquate Abstützreaktion festgestellt. Der Gesundheitszustand des Kindes verschlechterte sich in der Folge dergestalt, daß das Kind nun nicht mehr in der Lage ist, für längere Zeit den Körper aufrecht zu halten. Gehen ist nur mit massiver Fremdhilfe möglich. Sitzt das Kind ungestützt in einem Sessel, sackt es zusammen. Bei der Minderjährigen liegt eine muskuläre Inaktivitätsatrophie mit Spitzfuß beiderseits vor. Die exakte Ursache dieser Krankheit ist bisher nicht zuletzt deshalb unklar geblieben, weil die Eltern systematische Untersuchungen des Kindes verweigerten. Feststeht jedoch, daß das Krankheitsgeschehen chronisch und langsam fortschreitend ist. Neben dieser rein körperlichen Erkrankung besteht eine psychosomatisch bedingte Retardiertheit des Kindes. Die Sprache ist verwaschen und für den Außenstehenden nur nach Gewöhnung teilweise verständlich. Neben einer dringend notwendigen, konsequent durchgeführten Physiotherapie ist eine Förderung im intellektuellen Bereich sowie eine logopädische Betreuung vonnöten. Nur so kann gewährleistet werden, daß sich der Zustand des Kindes nicht weiter verschlechtert.

Sowohl die physiotherapeutische Behandlung als auch die sonstige Förderung des Kindes wurden von den Eltern bisher nicht ausreichend gewährleistet. Behandlungstermine wurden unregelmäßig wahrgenommen und sogar einmal für ein Jahr zur Gänze unterbrochen. Sowohl der Besuch des Kindergartens als auch der Sonderschule erfolgte nur unregelmäßig.

Die für die Minderjährige unerläßliche Förderung auf geistigem und körperlichem Gebiet kann nur in der Waldschule Wiener Neustadt, Sonderschule für körperbehinderte Kinder, ausreichend gewährleistet werden. Nur dort ist eine umfassende und integrative Betreuung der Minderjährigen zu erwarten, wobei es in ganz Niederösterreich keine vergleichbare Institution gibt. In Anbetracht des Krankheitsbildes der Minderjährigen ist eine langfristige, über mehrere Jahre gehende Therapie erforderlich, die ein hohes Maß an Einsicht in die Therapienotwendigkeit, die Zuverlässigkeit der betreuenden Personen und ein hohes Maß an persönlichem Engagement erfordert.

Zwischen der Minderjährigen und ihrer Mutter besteht ein enger Kontakt. Die Mutter ist überbesorgt und will das Kind vor jeglicher Belastung bewahren. Dadurch verwehrt sie ihm aber auch für die Entwicklung sinnvolle Herausforderungen und Möglichkeiten, sich weiter zu entwickeln. Die Pflege der Mutter ist zwar sorgsam, unterfordert das Kind aber kontinuierlich und fördert es nicht.

Mit Antrag vom 19.6.1995 begehrte die Bezirkshauptmannschaft Melk, Jugendabteilung, den Eltern der Minderjährigen die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung zu entziehen und der BH Melk, Jugendabteilung, die Obsorge für die Teilbereiche Pflege und Erziehung und aus dem Bereich der gesetzlichen Vertretung die Ermächtigung, ärztliche Behandlungsverträge abzuschließen, zu übertragen. Den Eltern fehle die Einsicht in die Notwendigkeit, das Kind einer ununterbrochenen zielgerichteten Therapie zuzuführen. Wegen der mehrfachen Behinderung und des dadurch bedingten besonderen Therapieaufwands könne die für die Stabilisierung des Gesundheitszustands erforderliche Behandlung nur in der Waldschule Wiener Neustadt durchgeführt werden. Das Kind würde dort in einem Internat untergebracht und an den Wochenenden und in den Ferien zu den Eltern geführt. Das Einvernehmen mit den Eltern könne nicht hergestellt werden.

Die Eltern sprachen sich vehement gegen die Unterbringung im Internat aus, weil das Kind im Familienverband verbleiben solle. Nur dort sei die erforderliche liebevolle Betreuung gewährleistet.

Im nunmehr zweiten Rechtsgang übertrug das Erstgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens der BH Melk, Jugendabteilung, die Obsorge für die Minderjährige „teilweise im Bereich der Pflege und Erziehung“. Es traf die eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Feststellungen, aus welchen es den Schluß zog, daß eine Unterbringung in der Waldschule in Wiener Neustadt für die gesamte körperliche und persönliche Entwicklung der Minderjährigen so positiv wäre, daß selbst eine zeitlich begrenzte Trennung von den Eltern gerechtfertigt erscheine.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Eltern nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Das Erstgericht habe den festgestellten Sachverhalt richtig beurteilt, soweit es gemäß § 176 Abs 1 ABGB die Obsorge für das Kind den Eltern teilweise entzogen habe. Die Eltern hätten durch ihr Verhalten, selbst wenn man ihnen zugestehe, daß sie subjektiv dem Kind die bestmögliche Pflege angedeihen lassen wollten, objektiv das körperliche und geistige Wohl des Kindes aufs Äußerste gefährdet. Nach den gesicherten Beweisergebnissen hätten die motorischen Funktionen sowie das Sprech- und Denkvermögen der Minderjährigen in einem wesentlich besseren Zustand erhalten werden können, wenn die Eltern die empfohlenen Therapien von Anfang an gezielt durchgeführt hätten. Tatsächlich hätten sie jedoch beginnende Therapieerfolge dadurch zunichte gemacht, daß sie begonnene Behandlungen nicht zu Ende geführt hätten. Auch regelmäßigen Kindergarten- und Schulbesuch hätten sie nicht für notwendig erachtet, wodurch die geistige Entwicklung des Kindes erheblich beeinträchtigt worden sei. Mit der Abwesenheit von Schule und Kindergarten sei auch die soziale Integration des Kindes unterbunden worden, obwohl sämtliche Betreuungspersonen von einer auffallend guten Eingliederung der Minderjährigen in die Gesellschaft gesprochen hätten. Nicht zuletzt aufgrund des Fehlverhaltens der Eltern sei das Kind wegen der beiderseits ausgeprägten Spitzfüße nicht mehr in der Lage, zu gehen. Ein Vergleich des Status im November 1989 und des derzeitigen Zustands zeige, wie drastisch sich die Lage des Kindes seither verschlechtert habe. Die Zukunftsprognose wäre bei einem Therapieeinsatz zu einem früheren Zeitpunkt zwar deutlich günstiger ausgefallen, doch bestehe noch immer die Möglichkeit, durch gezielte Therapien zumindest den derzeitigen Stand zu erhalten, ja sogar vielleicht auch geringe Fortschritte zu erzielen. Das notwendige Therapieangebot finde die Minderjährige aber nur in der Waldschule in Wiener Neustadt, wo die individuellen Bedürfnisse des behinderten Kindes in einer optimalen Umgebung erfüllt würden. Abgesehen davon, daß die Eltern in der Vergangenheit den Förderbedarf ihres Kindes vollkommen verkannt hätten, wären sie auch mit einer ambulanten weiteren Behandlung des Kindes überfordert. Sie könnten kaum die Zeit aufbringen, das Kind zu all den notwendigen Therapien zu bringen. Es werde nicht verkannt, daß die Unterbringung des Kindes während der Woche in der Waldschule einen Trennungsschmerz für Eltern und Kind mit sich bringen werde. Das Kind habe jedoch bisher bewiesen, daß es Ängste in einer fremden Umgebung rasch abbaue und sich in der Gemeinschaft mit anderen Kindern überaus wohl fühle. Demgegenüber werde die Mutter die Trennung von ihrer Tochter wesentlich schlechter verkraften als das Kind selbst. Da für die Entscheidungsfindung jedoch ausschließlich das Wohl des Kindes ausschlaggebend sei, könne auf das Befinden der Mutter keine Rücksicht genommen werden. Sie sei auf die Möglichkeit häufiger Kontaktaufnahmen zu verweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobene Revisionsrekurs der Eltern des Kindes ist schon wegen der erforderlichen Klarstellung des Umfangs des Eingriffs in die Obsorge der Eltern zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Gemäß § 176 Abs 1 ABGB hat das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Eine Gefährdung des Kindeswohls setzt nicht geradezu einen Mißbrauch der elterlichen Befugnisse voraus. Es genügt, daß elterliche Pflichten objektiv nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt werden (SZ 51/112; SZ 53/142; SZ 57/207; 8 ObA 2282/96p ua). Den Vorinstanzen ist uneingeschränkt darin beizupflichten, daß die Eltern - gleichgültig, aus welchen Motiven - objektiv ihre Pflichten in einer das Wohl der Minderjährigen grob gefährdenden Art vernachlässigt haben. Wie sich aus dem Akteninhalt ergibt, haben sämtliche mit dem Fall befaßten Institutionen und Personen wiederholt in persönlichen Gesprächen versucht, den Eltern die besondere Problematik des Falles und das Erfordernis einer dauerhaften ununterbrochenen Förderung des Kindes auf mehreren Gebieten klarzumachen. Trotzdem haben sich die Eltern nicht kooperativ gezeigt und die Notwendigkeit einer ununterbrochenen Förderung des Kindes nicht erkennen können oder wollen. Seit Jahren wird den Eltern auch erläutert, daß die zur Verfügung stehenden ambulanten Therapiemöglichkeiten, selbst wenn sie voll ausgeschöpft würden, den Krankheitsverlauf nicht so positiv beeinflussen können wie eine Unterbringung in der Waldschule Wiener Neustadt, deren hohe medizinische und therapeutische Qualität nun selbst von den Eltern nicht mehr geleugnet wird. Die starre und kompromißlose Weigerung, das Kind während der Woche dieser Betreuungseinrichtung zu überlassen, gefährdet das Wohl der Minderjährigen in nahezu lebensbedrohendem Ausmaß. Durch das eingeholte Sachverständigengutachten ist nunmehr klargestellt, daß der Trennungsschmerz vom Kind relativ leicht verkraftet werden kann und die Vorteile einer effizienten therapeutischen Betreuung bei weitem überwiegen. Die trotzdem aufrechterhaltene Weigerung der Eltern erfordert die Intervention durch das Gericht gemäß § 176 ABGB.

Allerdings bildet diese Bestimmung nicht nur die Grundlage für die Entziehung der Obsorge, die nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs angeordnet werden darf (SZ 65/84; JBl 1996, 714 ua), sondern auch für jede sonst zur Sicherung des Kindeswohls notwendige Verfügung. So wurden als Einschränkung der Obsorge beispielsweise angeordnet die Abnahme des Reisepasses bei Gefahr der Verbringung des Kindes ins Ausland (EFSlg 45.901), das Zustimmungserfordernis des Pflegschaftsgerichts zur Übersiedlung des Kindes (7 Ob 615/78) oder Verfügungen im Zusammenhang mit einer Heilbehandlung des Kindes (EFSlg 35.985). Gegenstand des Antrags des Jugendamts und der im Verfahren ergangenen Beschlüsse ist ausschließlich die Unterbringung in der Waldschule Wiener Neustadt sowie die Gewährleistung der erforderlichen ärztlichen und therapeutischen Betreuung. Aus dem Akteninhalt ergibt sich klar, daß darüberhinaus eine Einschränkung der Pflege und Erziehung des Kindes durch seine Eltern etwa an den Wochenenden oder in den Ferien zumindest so weit nicht erfolgen soll, als sich nicht die Notwendigkeit weiterer Therapien herausstellt. Inhaltlich wollten daher die Vorinstanzen gar nicht die sich vordergründig aus der Formulierung des Spruchs ergebende Teilung der (Personen-)Obsorge, sondern lediglich deren Einschränkung in den Teilbereichen des Schulbesuchs sowie der ärztlichen und therapeutischen Betreuung verfügen. Wie der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung JBl 1996, 714 ausgesprochen hat, können die aus der Obsorge erfließenden Befugnisse der Eltern unter den Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB zum Wohl des Kindes eingeschränkt werden und ist sodann in diesem Umfang ein Sachwalter zu bestellen (so auch Pichler, Probleme der gemeinsamen Obsorge, in ÖJZ 1996, 92, 96; RZ 1996/65).

Der angefochtene Beschluß ist daher mit der Maßgabe zu bestätigen, daß die den Eltern weiterhin zukommende Obsorge in dem aus dem Spruch ersichtlichen Umfang eingeschränkt wird.

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