Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Jugendwohlfahrtsträger Niederösterreich - hier konkret die Bezirkshauptmannschaft Amstetten - ermächtigt wird, anstelle des gesetzlichen Vertreters alle für die Taufe des Minderjährigen erforderlichen Anträge zu stellen und die dafür notwendigen Erklärungen abzugeben; dieser Jugendwohlfahrtsträger wird ferner ermächtigt, alle für eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung des Minderjährigen erforderlichen Anträge zu stellen.
Text
Begründung
Am 23. 1. 2002 beantragte der Jugendwohlfahrtsträger Wien, ihn mit der Obsorge "im Bereich Pflege und Erziehung" für den am 11. 1. 2002 von einer Ausländerin unehelich geborenen Minderjährigen zu betrauen. Mit Schreiben vom 22. 3. 2002 teilte dieser Jugendwohlfahrtsträger dem Erstgericht mit, der Minderjährige befinde sich seit 4. 3. 2002 "in Pflege und Erziehung" bei Pflegeeltern in Amstetten. Mit Schreiben vom 18. 4. 2002 erklärte die Bezirkshauptmannschaft Amstetten gegenüber dem Erstgericht, die Übertragung der Obsorge für den Minderjährigen nicht zu beantragen. Mit Beschluss vom 6. 5. 2002 übertrug das Erstgericht dem Jugendwohlfahrtsträger Wien "die Obsorge" für den Minderjährigen "im Bereich Pflege und Erziehung". Dieser Beschluss erwuchs in Rechtskraft.
Mit Beschluss vom 10. 7. 2002 ermächtigte das Erstgericht den Jugendwohlfahrtsträger Wien, "an Stelle des gesetzlichen Vertreters alle für die Taufe dieses Kindes erforderlichen Erklärungen abzugeben und Anträge zu stellen" sowie "alle für eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung notwendigen Anträge zu stellen", weil diesem Jugenwohlfahrtsträger "bereits das Sorgerecht bei Pflege und Erziehung" zustehe.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Nach dessen Ansicht kann der Jugendwohlfahrtsträger eines Bundeslands seine Aufgaben nach einem Wechsel des Aufenthalts des Minderjährigen in ein anderes Bundesland gemäß § 215a ABGB dem Jugenwohlfahrtsträger dieses Bundeslands mit dessen Einwilligung übertragen. Mangle es - wie hier - an einer "Zustimmungerklärung", so bedürfe es einer gerichtlichen Entscheidung nach § 213 ABGB, mit der ein bestimmter Jugendwohlfahrtsträger "auch gegen seinen Willen zum Sachwalter bestellt werden" könne. Der angefochtene Beschluss sei zutreffend, weil der Jugendwohlfahrtsträger Wien mit der Pflege und Erziehung des Minderjährigen betraut, aber noch nicht beurteilbar sei, ob sich der Minderjährige künftig dauerhaft bei den Pflegeeltern in Niederösterreich aufhalten werde.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Jugenwohlfahrtsträgers Wien ist zulässig und berechtigt.
1. Der erkennende Senat erläuterte in der Entscheidung 1 Ob 119/03m, dass die Übertragung der Aufgaben eines Jugendwohlfahrtsträgers auf einen anderen nicht bloß bei einem Wechsel des schlichten Aufenthalts des Minderjährigen, sondern auch bei einem Wechsel des ständigen Aufenthalts bzw des Wohnsitzes gegen den Willen des anderen Jugendwohlfahrtsträgers durch gerichtlichen Beschluss - und zwar durch Enthebung des einen und Bestellung des anderen Jugendwohlfahrtsträgers - erfolgen könne. Rechtsgrundlage dafür sei jedoch nicht § 215a ABGB, sondern das allgemeine Aufsichtsrecht des Pflegschaftsgerichts gegenüber den mit der Obsorge betrauten Personen und Sachwaltern. Sei die Obsorge des (ersten) Jugendwohlfahrtsträgers durch gerichtlichen Beschluss begründet worden, so gebiete es die Rechtssicherheit, dass auch die Übertragung auf einen anderen durch eine nach außen hin in Erscheinung tretende Gerichtsentscheidung erfolge. Ein zwingender Übergang der Zuständigkeit auf den anderen Jugendwohlfahrtsträger bei Wechsel des ständigen Aufenthalts sei jedoch nicht vorgesehen. Die Umbestellung habe vielmehr aus Zweckmäßigkeitsgründen zur Wahrung des Wohls des Kindes zu erfolgen. Einer Zustimmung des Jugendwohlfahrtsträgers bedürfe es nicht. Im Regelfall sei die Bestellung desjenigen Jugendwohlfahrtsträgers zweckmäßig, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen ständigen Aufenthalt habe; im Einzelfall könne jedoch aufgrund besonderer Umstände bei einem Wechsel des ständigen Aufenthalts des Minderjährigen in den Sprengel eines anderen Jugendwohlfahrtsträgers die Aufrechterhaltung der Zuständigkeit des bisher mit der Obsorge betrauten Jugendwohlfahrtsträgers im Kindeswohl gelegen sein. So könnte etwa der Grundsatz der Erziehungskontinuität oder der Stetigkeit und Dauer der Obsorge die Beibehaltung der bisherigen Obsorgeregelung geraten sein lassen.
2. Im Anlassfall ist maßgebend, dass dem Jugendwohlfahrtsträger Wien mit Beschluss vom 6. 5. 2002 nur die Pflege und Erziehung des Minderjährigen - nach § 144 iVm § 166 ABGB somit nur ein Teilbereich der Obsorge - übertragen wurde. Von Bedeutung ist ferner, dass bei dem am 11. 1. 2002 geborenen Minderjährigen, der seit dem 4. 3. 2002 von Pflegeeltern in Amstetten betreut wird, die Beibehaltung der für die Ausübung der Pflege und Erziehung getroffenen Regelung nicht erforderlich ist, um aus besonderen Gründen die Erziehungskontinuität oder die Stetigkeit und Dauer der bestehenden Obsorgeverhältnisse zu gewährleisten. Demzufolge greift hier der für den Regelfall geltende Grundsatz ein, dass die Ausübung der Obsorge durch denjenigen Jugendwohlfahrtsträger, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen ständigen Aufenthalt hat, zweckmäßig ist. Es geht indes (noch) nicht um die Übertragung der Obsorge gemäß § 213 ABGB als Inbegriff aller nach § 144 ABGB bestehenden Rechte und Pflichten an einen bestimmten Jugendwohlfahrtsträger, wurde doch der kraft Beschlusses vom 6. 5. 2002 nur mit dem Aufgabenbereich Pflege und Erziehung betraute Jugendwohlfahrtsträger Wien nunmehr bloß zur Vornahme bestimmter Maßnahmen gesetzlicher Vertretung ermächtigt. Es ist jedoch kein plausibler Grund erkennbar, weshalb solche Vertretungsakte nicht bereits derjenige Jugendwohlfahrtsträger setzen soll, in dessen Wirkungsbereich der Minderjährige offenkundig seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wird doch dadurch die Realisierung der angestrebten Ziele (Taufe, Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung) im Verkehr mit den zuständigen Stellen (Verwaltungsbehörde, Kirche) erleichtert. Nach Auflösung des Jugendgerichtshofs Wien ist überdies das Bezirksgericht Amstetten, bei dem die Pflegschaftssache des Minderjährigen fortgeführt wird, das zuständige Pflegschaftsgericht. Dieses Gericht wird daher zu prüfen haben, ob die Obsorge für den Minderjährigen aus Zweckmäßigkeitsgründen auf den Jugendwohlfahrtsträger Niederösterreich übertragen werden soll. Dessen Zustimmung ist für einen solchen Übertragungsakt, wie bereits unter 1. festgehalten wurde, keine Voraussetzung.
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