OGH 1Ob155/53ff

OGH1Ob155/53ff1.4.1953

SZ 26/84

Normen

Bundesverfassungsgesetz Art65
GOG §85
StPO §411
ZPO §220
ZPO §522
Bundesverfassungsgesetz Art65
GOG §85
StPO §411
ZPO §220
ZPO §522

 

Spruch:

Die Zivilgerichte können rechtskräftig verhängte Ordnungsstrafen gnadenweise erlassen.

Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten erstreckt sich nicht auf den Erlaß von Ordnungsstrafen der Zivilgerichte. Eine analoge Anwendung des § 411 StPO. ist abzulehnen.

Entscheidung vom 1. April 1953, 1 Ob 155/53.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.

Text

Über Dr. Hans G. wurde gemäß § 85 GOG. vom Rekursgericht eine Ordnungsstrafe von 100 S verhängt. Er hat nun um Nachlaß der Ordnungsstrafe oder doch um Stundung auf unbestimmte Zeit, mindestens aber bis zum 1. Jänner 1954 angesucht und den Antrag gestellt, sein Ansuchen dem Herrn Bundespräsidenten vorzulegen, wenn das Gericht sich nicht selbst veranlaßt sehe, seinem Antrag Folge zu geben. Er hat weiter um Aufschiebung des Eintreibungsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag angesucht.

Das Rekursgericht hat den Antrag mit der Begründung abgewiesen, eine Nachsicht oder Stundung der nach § 85 GOG. verhängten Strafe sei im Gesetze nicht vorgesehen. Der § 411 StPO. beziehe sich nur auf die von einem Strafgericht verhängten Strafen. Es verwies auch auf die Bestimmung des § 9 Abs. 1 und 2 GEG. 1948, allerdings ohne zu beachten, daß diese Bestimmung nach § 5 Abs. 5 GEG. auf Geldstrafen jeder Art nicht anzuwenden ist.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurse des Dr. Hans G. Folge, hob den Beschluß auf und trug dem Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien neuerliche Entscheidung auf.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Bis zum Inkrafttreten der neuen Zivilprozeßgesetze waren die Zivilgerichte gemäß HKD. vom 18. Mai 1841, JG. 538, ermächtigt, verhängte Geldstrafen - sogar nach erfolgter Einzahlung - selbst nachzusehen. Dieses Hofkammerdekret mag durch Art. I Abs. 2 EGzZPO. außer Kraft gesetzt sein. Dennoch hat sich der Oberste Gerichtshof schon in der Entscheidung vom 16. Oktober 1934, 2 Ob 816/34 (AnwZ. 1935, S. 17) auf den Standpunkt gestellt, daß den Zivilgerichten der gnadenweise Nachlaß rechtskräftig verhängter Strafen zustehe. Dies liege in der Natur einer solchen Verfügung als eines dem Ermessen der Gerichte anheim gestellten Sühnemittels, das mit dem Schwinden des Zweckes entfallen kann. Es ist wohl angezeigt, aus § 522 Abs. 1 und § 333 Abs. 2 ZPO. einen Analogieschluß darauf zu ziehen, daß der Richter die Ordnungsstrafe auch noch nach Ablauf der Rekursfrist und auch in anderen als den im Gesetze ausdrücklich erwähnten Fällen nachsehen kann, und dies nicht im Wege eines Umkehrschlusses auszuschließen.

Die Entscheidung mußte daher aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung über den Antrag aufgetragen werden.

In zahlreichen Ausgaben in Kommentaren zur ZPO. wird darauf hingewiesen, daß der Bundespräsident im Zivilverfahren verhängte Ordnungsstrafen gnadenweise nachsehen könne. Der Oberste Gerichtshof kann dieser Meinung nicht folgen. Dieses Gnadenrecht könnte nur aus Art. 65 Abs. 2 lit. c B-VG. abgeleitet werden, nach welchem dem Bundespräsidenten zusteht: "In Einzelfällen die Begnadigung der von Gerichten rechtskräftig Verurteilten, die Milderung und Umwandlung der von Gerichten ausgesprochenen Strafen, die Nachsicht von Rechtsfolgen und die Tilgung von Verurteilungen im Gnadenwege." Eine Person, über die in einem Zivilverfahren eine Ordnungsstrafe verhängt worden ist, istaber nicht ein "gerichtlich Verurteilter" im Sinne der erwähnten Verfassungsbestimmung. Nur wer in einem Strafverfahren verurteilt wurde, wird unter diesem Ausdrucke verstanden. Aber selbst wenn man der Meinung sein sollte, daß dem Bundespräsidenten die Befugnis zustehe, eine im Zivilverfahren verhängte Ordnungsstrafe nachzusehen, so fehlt doch jede Möglichkeit, die Bestimmung des § 411 StPO. analog anzuwenden. Es besteht also zumindest nicht die Verpflichtung der Zivilgerichte, sich mit einem in diesem Sinne gestellten Gnadengesuch zu befassen und es allenfalls weiterzuleiten.

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