European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0160OK00001.22S.0512.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Mit Beschluss vom 21. 10. 2021 verhängte das Erstgericht wegen näher bezeichneter Zuwiderhandlungen gegen § 1 Abs 1 KartG und Art 101 Abs 1 AEUV im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017 gemäß § 29 Z 1 lit a und d KartG eine Geldbuße über die Antragsgegnerinnen. Die Entscheidung wurde am 3. 2. 2022 in der Ediktsdatei veröffentlicht.
[2] Mit Schriftsatz vom 1. 10. 2021, sohin noch vor der Entscheidung des Erstgerichts über den Geldbußenantrag, beantragte die Einschreiterin die uneingeschränkte Einsicht in den Akt des Erstgerichts. Sie brachte vor, gegen die Antragsgegnerinnen werde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt, weil diese im Verdacht stünden, in mehreren Vergabeverfahren der Einschreiterin wettbewerbsbeschränkende Absprachen getroffen zu haben, indem sie ihre Angebote der Höhe nach aufeinander abstimmten. Die Einschreiterin habe im Strafverfahren aufgrund ihrer Betroffenheit ihre Privatbeteiligung erklärt. Sie beabsichtige, Schadenersatz für ihre durch das Baukartell entstandenen Schäden geltend zu machen. Das sei bereits vor Abschluss des kartellrechtlichen Verfahrens möglich (stand alone‑Klage). Die Akteneinsicht sei erforderlich, um ihr die Geltendmachung von Schadenersatz nicht praktisch unmöglich zu machen. Die Rechte nach §§ 37j, 37k KartG reichten dafür nicht aus, weil sie erst im Schadenersatzprozess zur Anwendung kämen. Die Akteneinsicht sei auch für eine Schadenersatzklage nach Vorliegen einer (bindenden) kartellgerichtlichen Entscheidung erforderlich (follow on‑Klage). Aufgrund der Bindungswirkung der kartellgerichtlichen Entscheidung für den Schadenersatzprozess stünden den Geschädigten nach Art 6 EMRK und Art 47 GRC bereits im Kartellverfahren Parteienrechte, konkret das Recht auf Akteneinsicht, zu. Für die Akteneinsicht spreche, dass die relevanten Fakten bereits Jahre zurücklägen. Darüber hinaus könne der Einschreiterin nicht die Notwendigkeit des Geheimnisschutzes gegenüber Bewerbern entgegen gehalten werden, weil sie keine Wettbewerberin der Antragsgegnerinnen sei. Nach der Rechtsprechung beeinträchtige eine bloß beschränkte Veröffentlichung von kartellrechtlichen Entscheidungen den Zugang des Kartellgeschädigten zu Gericht; aus den gleichen Erwägungen müsse auch die Akteneinsicht unbeschränkt erfolgen.
[3] Die Bundeswettbewerbsbehörde, der Bundeskartellanwalt und die Antragsgegnerinnen sprachen sich gegen die Gewährung von Akteneinsicht aus. Sie brachten übereinstimmend vor, die durch einen Wettbewerbsverstoß Geschädigten hätten aufgrund der Einführung der §§ 37j, 37k KartG mit dem KaWeRÄG 2017 die Möglichkeit, sich die zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen erforderlichen Informationen zu beschaffen. Die Notwendigkeit, § 39 Abs 2 KartG unangewendet zu lassen, sei dadurch weggefallen. Dritte könnten daher gemäß § 39 Abs 2 KartG nicht ohne Zustimmung der Parteien Einsicht in die Akten des Kartellgerichts nehmen. Ergänzend brachten die Antragsgegnerinnen vor, die Akten des vorliegenden Verfahrens bestünden in einem erheblichen Ausmaß aus Informationen, die Teil der Kronzeugenerklärung der Antragsgegnerinnen und daher absolut vor Offenlegung geschützt seien.
[4] In ihrer Äußerung vom 8. 11. 2021 trat die Einschreiterin der Rechtsansicht der Verfahrensparteien entgegen. Ergänzend brachte sie vor, den Antragsgegnerinnen komme kein Kronzeugenstatus mehr zu.
[5] Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht den Antrag ab.
[6] Rechtlich führte es aus, bereits die Verweigerung der Verfahrensparteien, einer Akteneinsicht zuzustimmen, führe nach dem allein anwendbaren § 39 Abs 2 KartG zur Antragsabweisung.
[7] Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe zwar im Urteil C‑536/11 (Donau Chemie) ausgesprochen, dass der Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der die Einsicht in Kartellverfahrensakten durch nicht am Verfahren beteiligte Dritten, die Schadenersatzansprüche gegen Kartellteilnehmer erwägen würden, allein von der Zustimmung der Verfahrensparteien abhänge, ohne dass die nationalen Gerichte die Möglichkeit einer Interessenabwägung hätten. Demnach sei § 39 Abs 2 KartG nicht zur Anwendung gekommen. Durch die SchadenersatzRL sei aber die damals fehlende unionsrechtliche Regelung für die Offenlegung von Dokumenten aus Akten von Wettbewerbsbehörden geschaffen und in nationales Recht – §§ 37j und 37k KartG – umgesetzt worden. Darin seien nicht bloß Mindeststandards, sondern einheitliche Standards für die Offenlegung normiert worden.
[8] Nach § 37j KartG seien die Substanziierungserfordernisse für Klagen auf Kartellschadenersatz herabgesetzt. Zudem enthalte § 37k Abs 1 KartG eine Subsidiaritätsklausel, aus der zu schließen sei, dass der Schadenersatzkläger kein Wahlrecht zwischen einer Akteneinsicht beim Kartellgericht und einem Offenlegungsantrag beim Schadenersatzgericht habe. Das Offenlegungsverfahren gemäß § 37k KartG solle nämlich gerade in den Fällen zur Anwendung kommen, in denen der Kläger mangels Zustimmung der Verfahrensparteien keine Einsicht in den Kartellakt erhalten habe. Eine andere Auslegung führe dazu, dass § 37k KartG kein Anwendungsbereich verbleibe. Die Entscheidung des EuGH C‑536/11 sowie die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs 16 Ok 9/14f und 16 Ok 10/14b seien daher nicht mehr einschlägig. Es bestünden weder Bedenken im Hinblick auf Art 6 EMRK und Art 47 GRC noch Zweifel an der Primärrechtskonformität der SchadenersatzRL 2014/104/EU . Die begehrte Akteneinsicht könne auch nicht aus der Bindung des Schadenersatzgerichts an die Feststellung der Wettbewerbsverletzung im Kartellverfahren abgeleitet werden. § 39 Abs 2 KartG sei daher auch gegenüber potentiellen Schadenersatzklägern wie der Einschreiterin voll anwendbar.
[9] Dagegen richtet sich der – vom Bundeskartellanwalt, der Bundeswettbewerbsbehörde und den Antragsgegnerinnen beantwortete – Rekurs der Einschreiterin, mit dem sie die Abänderung und Antragsstattgebung beantragt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[10] Sie rügt zusammengefasst, an der vom EuGH in der Rechtssache C‑536/11 , Donau‑Chemie, konstatierten Unionsrechtswidrigkeit von § 39 Abs 2 KartG habe sich durch die Erlassung der SchadenersatzRL und deren Umsetzung ins österreichische Recht nichts geändert.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Rekurs ist nicht berechtigt.
Akteneinsicht Dritter im Kartellverfahren und das Urteil Donau Chemie des EuGH
[12] 1.1. Die Akteneinsicht im Kartellverfahren richtet sich nach § 22 AußStrG iVm § 38 KartG und § 219 Abs 2 ZPO (16 Ok 10/14b; 16 Ok 9/14f, ÖBl 2015/37, 171 [Ablasser‑Neuhuber]; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG² § 22 Rz 28 ff). Über die darin festgelegten Voraussetzungen hinaus können am Verfahren nicht als Partei beteiligte Personen gemäß § 39 Abs 2 Satz 1 KartG nur mit Zustimmung der Parteien in die Akten des Kartellgerichts Einsicht nehmen.
[13] 1.2. Allerdings beurteilte der EuGHeine nationale Regelung wie § 39 Abs 2 KartG, die den Aktenzugang Dritter, die Schadenersatzklagen gegen Kartellteilnehmer erwägen, zu den Akten eines die Anwendung von Art 101 AEUV betreffenden nationalen Verfahrens generell von der Zustimmung der Parteien abhängig macht, als mit dem Unionsrecht, insbesondere dem Effektivitätsgrundsatz, nicht vereinbar (EuGH C‑536/11 , Donau Chemie, Rz 49). Das nationale Gericht muss demnach die Möglichkeit haben, die Interessen, die die Übermittlung von Informationen und den Schutz dieser Informationen rechtfertigen, im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Interessen abzuwägen (EuGH C‑536/11 , Donau Chemie, Rz 29, 34; vgl C‑360/09 , Pfleiderer, Rz 31; C‑365/12 P , EnBW, Rz 107).
[14] Wesentlicher Gesichtspunkt der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Donau-Chemie ist die Erwägung, dass dem Geschädigten im Fall der Verweigerung der Akteneinsicht keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich die für die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs erforderlichen Beweise zu beschaffen (Rz 32, 39).
[15] 1.3. Ausgehend von dieser Entscheidung sowie unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Gesetzgeber mit der Novellierung des Kartellgesetzes durch das KaWeRÄG 2012 (BGBl I 2013/13) gezielt die private Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen fördern wollte, erachtete der Oberste Gerichtshof die Wertung, dass nationale Rechtsvorschriften die Erlangung von Schadenersatz für Wettbewerbsverstöße nicht praktisch unmöglich machen dürfen, als verallgemeinerungsfähig und auch auf Verstöße gegen das nationale österreichische Kartellrecht übertragbar. Die in jenem Verfahren vom Erstgericht vorgenommene Interessenabwägung, aufgrund derer – mit in Rechtskraft erwachsenen Teilabweisungen – die Akteneinsicht zugesprochen wurde, wurde vom Obersten Gerichtshof gebilligt (16 Ok 9/14f ÖBl 2015, 171 [Ablasser-Neuhuber]; 16 Ok 10/14b; RS0129809).
[16] 1.4. In der Literatur wurde kritisiert, der Oberste Gerichtshof habe in diesen Entscheidungen andere zumutbare Möglichkeiten der Informationsgewinnung durch einen Schadenersatzkläger – konkret die Entscheidungsveröffentlichung gemäß § 37 KartG, die Möglichkeit eines Urkundevorlageantrags gemäß § 303 ZPO, das Fragerecht nach § 184 ZPO sowie die freie Beweiswürdigung durch das Gericht – außer Acht gelassen; die „weitherzige“ Handhabung der Akteneinsicht widerspreche zudem „letztlich“ den Vorgaben der – zum damaligen Zeitpunkt erst umzusetzenden – Richtlinie über den Kartellschadenersatz 2014/104/EU (Ablasser‑Neuhuber, Entscheidungsanmerkung, ÖBl 2015/37, 171 [177 f]).
[17] 1.5. In der Folge wurde das KartG mehrfach in für die Beurteilung des vorliegenden Antrags auf Akteneinsicht relevanter Weise novelliert.
Änderungen durch das KaWeRÄG 2012
[18] 2.1. Mit dem KaWeRÄG 2012 (BGBl I 2013/13) wollte der Gesetzgeber gezielt die private Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen fördern (vgl 16 Ok 9/14f, 16 Ok 10/14b je ErwGr 7.4. mwN).
[19] 2.2. Mit dieser Novelle erfolgte nicht nur die Einführung des § 37a KartG über Schadenersatz wegen Wettbewerbsverstößen, sondern auch eine Neuregelung der Veröffentlichung kartellgerichtlicher Entscheidungen, durch die dem Wunsch nach Transparenz der Entscheidungen des Kartellgerichts entsprochen werden sollte (vgl ErläutRV 1804 BlgNR 24. GP 10). Die Regelung des § 37 Abs 1 KartG hatte bis dahin nur eine antragsgebundene und von einem berechtigten Interesse abhängige Veröffentlichungsermächtigung der obsiegenden Partei vorgesehen; zusätzlich sah § 10b Abs 3 WettbG eine Information „über“ die Entscheidungen des Kartell‑ und des Kartellobergerichts auf der Website der BWB vor. Mit § 37 Abs 1 KartG idF KaWeRÄG 2012 wurde die antragsunabhängige Veröffentlichung rechtskräftiger Entscheidungen durch das Kartellgericht durch Aufnahme in der Ediktsdatei angeordnet. Der Kreis der zu veröffentlichenden Entscheidungen wurde in der Folge durch das KaWeRÄG 2017 (BGBl I 2017/56) und das KaWeRÄG 2021 (BGBl I 2021/176) erweitert.
[20] 2.3. Stattgebende Entscheidungen über die Verhängung von Geldbußen (wie im vorliegenden Fall) unterliegen seit dem KaWeRÄG 2012 der Veröffentlichung. Seit dem KaWeRÄG 2017 sind auch ab‑ oder zurückweisende Entscheidungen über die Verhängung von Geldbußen von der Veröffentlichung gemäß § 37 KartG erfasst.
[21] 2.4. Die Veröffentlichung hat den zugrunde liegenden Sachverhalt möglichst deutlich wiederzugeben, um damit bereits eine Grundlage für die zivilrechtliche Beurteilung von Schadenersatzansprüchen gemäß dem damaligen § 37a Abs 3 KartG (vgl nunmehr § 37i KartG) zu schaffen, zumindest aber, um jedermann die Prüfung zu ermöglichen, ob die Erhebung derartiger Schadenersatzansprüche im konkreten Fall für ihn überhaupt in Betracht kommt. Aus diesem Grund ist auch die namentliche Anführung von am Kartell beteiligten Unternehmen im Sinn einer möglichst umfassenden und zielgerichteten Information grundsätzlich zweckmäßig (16 Ok 14/13 EvBl 2014/111 [Rittenauer]; 16 Ok 15/13; 16 Ok 6/14i ÖBl 2015/27, 126 [Mildner]; vgl 16 Ok 2/21m; RS0129323).
[22] 2.5. § 37 KartG idF KaWeRÄG 2012 trat am 1. 3. 2013 in Kraft (§ 86 Abs 3 KartG) und galt für Verfahren, bei denen der verfahrenseinleitende Antrag nach dem 28. 2. 2013 eingebracht wurde (§ 86 Abs 4 KartG).
[23] In dem der Rechtssache Donau‑Chemie zugrunde liegenden Fall sowie in den Verfahren 16 Ok 9/14f, 16 Ok 10/14b, in denen der verfahrenseinleitende Antrag im Jahr 2002 gestellt worden war, war daher noch § 37 KartG idF vor dem KaWeRÄG 2012 anzuwenden, sodasseine Ediktalveröffentlichung der kartellgerichtlichen Entscheidungen nicht in Betracht kam.
Änderungen durch das KaWeRÄG 2017
[24] 3.1. Mit dem KaWeRÄG 2017 (BGBl I 2017/56) wurde die Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 11. 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadenersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (SchadenersatzRL, ABl L 349 vom 5. 12. 2014) im 5. Abschnitt des KartG (§§ 37a bis 37m) umgesetzt.
[25] 3.2. Mit der SchadenersatzRL verfolgte der Unionsgesetzgeber unter anderem das Ziel, private zivilrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen und die öffentliche Rechtsdurchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Wettbewerbsbehörden kohärent und mit dem Ziel der höchstmöglichen Wirkung unter anderem im Hinblick auf den Zugang zu Unterlagen, die sich im Besitz der Wettbewerbsbehörden befinden, zu koordinieren (vgl SchadenersatzRL ErwGr 6).
[26] 3.3. Die Richtlinie adressiert den strukturellen Konflikt zwischen dem Bestreben, Geschädigten den Zugang zu Informationen für eine erfolgversprechende Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen aus Wettbewerbsrechtsverstößen zu ermöglichen und gleichzeitig zu verhindern, dass Unternehmen von einer Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden Abstand nehmen, wenn Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, in denen sie sich selbst belasten, offengelegt werden (vgl SchadenersatzRL ErwGr 26).
[27] 3.4. Im Hinblick auf das private enforcement betont der Richtliniengesetzgeber die große Bedeutung der Beweismittel für die Erhebung von Schadenersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht und leitet daraus ab, dass Kläger das Recht erhalten müssten, die Offenlegung der für ihren Anspruch relevanten Beweismittel zu erwirken, ohne diese konkret benennen zu müssen (SchadenersatzRL ErwGr 15). Um den wirksamen Schutz des Rechts auf Schadenersatz zu gewährleisten, sei es aber nicht erforderlich, jedes zu einem Verfahren nach Art 101 oder 102 AEUV gehörende Schriftstück dem Kläger nur aufgrund einer von ihm geplanten Schadenersatzklage zu übermitteln (SchadenersatzRL ErwGr 22; in diesem Sinn bereits EuGH C‑536/11 , Donau Chemie, Rz 33; C‑365/12 P , EnBW, Rz 106). Es sei nämlich wenig wahrscheinlich, dass eine Schadenersatzklage auf sämtliche Bestandteile des Akts des Kartellverfahrens gestützt werden müsse (EuGH C‑536/11 , Donau Chemie, Rz 33; C‑365/12 P , EnBW, Rz 106; 16 Ok 10/14b, 16 Ok 6/14f je ErwGr 4.4.). Offenlegungsanträge sollten daher nicht als verhältnismäßig angesehen werden, wenn sie sich ganz allgemein auf die Offenlegung der Unterlagen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde zu einem bestimmten Akt bezögen (SchadenersatzRL ErwGr 23; vgl EuGH C‑365/12 P , EnBW, Rn 107 sowie OGH 16 Ok 10/14b, 16 Ok 6/14f je ErwGr 4.5. mwN).
[28] 3.5. Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sollten als besonders wichtige – und sensible – Instrumente der öffentlichen Rechtsdurchsetzung von der Offenlegung ausgenommen werden (vgl SchadenersatzRL ErwGr 26), gleichzeitig aber mit den Vorschriften der SchadenersatzRL über die Offenlegung von Unterlagen, bei denen es sich nicht um Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen handelt, dafür gesorgt werden, dass Geschädigte ausreichend alternative Möglichkeiten des Zugangs zu den relevanten Beweismitteln haben, die für die Erstellung ihrer Schadenersatzklagen erforderlich sind (SchadenersatzRL ErwGr 27).
[29] 3.6. Entsprechend den dargestellten Zielsetzungen umschreibt Art 1 der SchadenersatzRL ihren Gegenstand und Anwendungsbereich damit, Vorschriften festzulegen, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung […] gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens […] zu verlangen, wirksam geltend machen kann (Art 1 Abs 1 Satz 1). Nach Art 1 Abs 2 enthält die Richtlinie Vorschriften für die Koordinierung der Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften durch die Wettbewerbsbehörden und der Durchsetzung dieser Vorschriften im Weg von Schadenersatzklagen vor nationalen Gerichten.
[30] 3.7. Die Offenlegung von Beweismitteln ist in Kapitel II der SchadenersatzRL geregelt. Nach deren Art 5 Abs 1 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die nationalen Gerichte „in Verfahren über Schadenersatzklagen“ über Antrag des Klägers, der eine substanziierte Begründung vorgelegt hat, die mit zumutbarem Aufwand zugängliche Tatsachen und Beweismittel enthält, die die Plausibilität seines Schadenersatzanspruchs ausreichend stützen, unter den im weiteren umschriebenen Voraussetzungen die Offenlegung von Beweismitteln durch den Beklagten oder einen Dritten anordnen können. Nach Art 5 Abs 2 muss sich die Offenlegung auf bestimmte einzelne oder relevante Kategorien von Beweismitteln beziehen, die soweit zumutbar genau abzugrenzen sind; nach Art 5 Abs 3 muss die Offenlegung verhältnismäßig sein.
[31] 3.8. Art 6 SchadenersatzRL regelt die Offenlegung von Beweisen, die sich in den Akten einer Wettbewerbsbehörde befinden. Demnach gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass bei einer von den nationalen Gerichten „für die Zwecke von Schadenersatzklagen“ angeordneten Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind, über Art 5 hinaus die Einhaltung der in Art 6 der Richtlinie normierten Bedingungen. So werden Kategorien von Dokumenten definiert, deren Offenlegung erst nach Beendigung des Verfahrens vor der nationalen Wettbewerbsbehörde (Art 6 Abs 5) bzw für die Zwecke von Schadenersatzklagen gar nicht („zu keinem Zeitpunkt“; Art 6 Abs 6) angeordnet werden darf. Letztere Kategorie umfasst Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen. Im Übrigen kann die Offenlegung von Beweismitteln in den Akten einer Wettbewerbsbehörde „in Verfahren über Schadenersatzklagen“ jederzeit angeordnet werden (vgl Art 6 Abs 9 SchadenersatzRL).
[32] 3.9. In Umsetzung der SchadenersatzRL regelt § 37j KartG die Offenlegung von Beweismitteln, § 37k KartG die Offenlegung und Verwendung von Beweismitteln, die sich in den Akten von Gerichten oder Behörden befinden.
[33] Beide Bestimmungen ermöglichen eine Offenlegung von Beweismitteln (erst) in Verfahren, die Ersatzansprüche aus einer Wettbewerbsrechtsverletzung zum Gegenstand haben.
[34] 3.10. Nach § 37j Abs 2 KartG kann das Gericht über Antrag einer Partei der Gegenpartei oder einem Dritten nach ihrer Anhörung die Offenlegung von Beweismitteln auftragen, die sich in ihrer Verfügungsgewalt befinden. Die Verweigerung der Offenlegung kann erst mit der Endentscheidung angefochten werden (§ 37j Abs 8 KartG).
[35] 3.11. Nach § 37k Abs 1 KartG kann das Gericht auch um Offenlegung von Beweismitteln, die sich in Akten von Gerichten oder Behörden befinden, im Weg der Rechts‑ oder Amtshilfe ersuchen (zum Rechtsschutz bei nicht oder nicht vollständiger Entsprechung des Ersuchens oder bei Meinungsverschiedenheiten darüber siehe 8 Nc 40/21f).
[36] Dazu ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen (§ 37k Abs 2 KartG). § 37k Abs 3 (iVm Abs 5) KartG legt fest, hinsichtlich welcher Inhalte eine Offenlegung erst nach Beendigung des Verfahrens der Wettbewerbsbehörde angeordnet werden darf; § 37k Abs 4 (iVm Abs 5) KartG verbietet die Offenlegung von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen.
[37] 3.12. Die Bestimmung des § 39 KartG selbst blieb durch das KaWeRÄG 2017 unverändert.
Änderungen durch das KaWeRÄG 2021
[38] 4. Durch das KaWeRÄG 2021 wurde der Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen erweitert (§ 37a Abs 3, § 39 Abs 2 KartG). Die Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG, nach der die Akteneinsicht Dritter die Zustimmung der Parteien voraussetzt, blieb neuerlich unverändert. Allerdings wurden in § 39 Abs 2 KartG weitere Einschränkungen der Einsicht in Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sowie der Verwendung der dadurch gewonnenen Informationen eingeführt (§ 39 Abs 2 Satz 2 und 3 KartG).
Zum Verhältnis der Wertungen des Urteils Donau-Chemie zu den §§ 37j, 37k KartG
[39] 5.1. Im vorliegenden Fall ist zu beurteilen, ob die in der Entscheidung des EuGH in der Rs Donau Chemie und in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs 16 Ok 9/14f, 16 Ok 10/14b ausgeführten Erwägungen zu § 39 Abs 2 KartG nach wie vor Gültigkeit beanspruchen können und ob sie gegebenenfalls im vorliegenden Fall zum Tragen kommen.
[40] 5.2. Die Bestimmung des § 39 Abs 2 KartG wurde im Lichte des Urteils Donau Chemie des EuGH und im Lichte der SchadenersatzRL als „wohl extrem“ (Mederer, Richtlinienvorschlag über Schadensersatzklagen im Bereich des Wettbewerbsrechts, EuZW 2013, 847 [850]) und verfassungswidrig (Kaps, Parteistellung und Akteneinsicht in Kartellsachen, ÖBl 2017/2, 4 [7 f]) bezeichnet.
[41] 5.3. Nach In‑Kraft‑Treten des KaWeRÄG 2017 – das § 39 KartG unverändert ließ – wurde das Verhältnis dieser Bestimmung zu den neu eingeführten Regelungen über die Offenlegung von Beweismitteln mehrfach thematisiert.
[42] 5.4. Dokalik (Schadenersatz wegen Wettbewerbsverletzungen nach dem KaWeRÄG 2017, RdW 2017/178, 219 [224]) hält fest, der österreichische Gesetzgeber habe sich dafür entschieden, kein vorprozessuales Offenlegungsverfahren vorzusehen. Der Geschädigte, der einen Offenlegungsantrag stellen wolle, müsse zunächst eine Schadenersatzklage einbringen. Da er diese ohne die offenzulegenden Beweismittel womöglich nicht hinreichend substanziieren könne, sei an die Schlüssigkeit der Klage ein abgemilderter Maßstab anzulegen. Die Frage, wie weit § 39 Abs 2 KartG noch den unionsrechtlichen Erfordernissen entspreche, lässt Dokalik ausdrücklich offen (aaO 226).
[43] 5.5. Mehrere Autorinnen und Autoren bezeichnen das Verhältnis des § 39 Abs 2 KartG zu den mit dem KaWeRÄG 2017 eingeführten §§ 37j, 37k KartG als unklar und durch die Rechtsprechung auslegungsbedürftig (Ablasser‑Neuhuber/Stenitzer, Das KaWeRÄG 2017 – Die wichtigsten Neuerungen, ÖBl 2017/32, 116 [118]; Hoffer/Barbist, Das neue Kartellrecht³ [2017] 168; Reidlinger/Hartung, Das österreichische Kartellrecht4 [2019] 281).
[44] Von Teilen der Literatur wird die vorsichtige Schlussfolgerung gezogen, nach Einführung der §§ 37j, 37k KartG sei eine Nichtanwendung des § 39 Abs 2 KartG nicht mehr unionsrechtlich geboten, namentlich deshalb, weil die neuen Bestimmungen die vom EuGH geforderte Interessenabwägung vorsehen (Ablasser-Neuhuber/Stenitzer, ÖBl 2017/32, 118; Hoffer/Barbist, Das neue Kartellrecht³ 168; Solé/A. Kodek/Völkl-Torggler, Das Verfahren vor dem Kartellgericht² [2019] Rz 247).
[45] 5.6. Aus deutscher Sicht beurteilen Thiede/Klumpe die österreichische Umsetzung der Regeln über die Offenlegung von Beweismitteln im Weg einer Vorlagepflicht innerhalb des Schadenersatzprozesses als ausreichende und gegenüber der deutschen Lösung vorzugswürdige Umsetzung (Thiede/Klumpe, Abyssus abyssum invocat – Rechtsvergleichende Überlegungen zur Umsetzung der Kartellschadenersatzrichtlinie im österreichischen KaWeRÄG 2017 und in der deutschen 9. GWB‑Novelle, ÖZK 2018, 50 [57]; dies, Keeping the Floodgates Shut – Kartellschadenersatz nach der 9. GWB‑Novelle, NZKart 2017, 332 [336]; vgl Hellmann/Steinbrück, Discovery Light – Informations‑ und Beweismittelbeschaffung im Rahmen von Kartellschadenersatzklagen, NZKart 2017, 164 [169]). Zum Verhältnis der mit dem KaWeRÄG 2017 eingeführten Offenlegungsbestimmungen zu § 39 Abs 2 KartG wird von den genannten Autoren nicht Stellung genommen.
[46] 5.7. Vor allem im Hinblick auf die praktischen Auswirkungen wurde aber auch Kritik an der Normierung einer Offenlegungspflicht erst im Schadenersatzprozess geäußert und moniert, der Wortlaut der Richtlinie hätte auch eine Umsetzung als Offenlegungsantrag vor Klageeinbringung ermöglicht. Nach der österreichischen Umsetzung müsse der Kläger „mit unbekanntem Ausgang beweismäßig im Trüben fischen“ (Brand, Schadenersatz im Kartellrecht [2017] 255 f).
Zur Rechtslage in Deutschland
[47] 6. Im deutschen Recht wurde die SchadenersatzRL mit der 9. GWB‑Novelle umgesetzt (BGBl I, 1416 vom 1. 6. 2017; vgl dazu die Literaturnachweise bei Weitbrecht, Kartellschadenersatz 2017, NZKart 2018, 106 [107 Fn 8]). § 33g GWB sieht einen eigenen materiellen Anspruch auf Herausgabe von Beweismitteln und Erteilung von Auskünften im Sinn eines Discovery-Regimes vor (Mallmann/Lübbig in Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung [2019] § 13 Rz 1).
[48] Nach § 33g Abs 1 GWB ist derjenige, der sich im Besitz von Beweismitteln befindet, die „für die Erhebung eines auf Schadenersatz gerichteten Anspruchs nach § 33a Abs 1 [GWB] erforderlich sind“, unter näher bezeichneten Voraussetzungen und mit im Einzelnen angeordneten Ausnahmen zur Herausgabe verpflichtet. Das Gericht kann nach § 89c Abs 1 Nr 2 GWB in einem Rechtsstreit wegen eines Anspruchs nach § 33a Abs 1 GWB (ie Schadenersatz) oder nach § 33g Abs 1 oder 2 GWB auf Antrag einer Partei bei der Wettbewerbsbehörde um Vorlage von Urkunden oder Gegenständen ersuchen, die sich in Verfahrensakten befinden.
Zur weiteren Maßgeblichkeit der Wertungen des Urteils Donau Chemie
[49] 7.1. Entscheidend für die Beurteilung, ob § 39 Abs 2 KartG im vorliegenden Fall uneingeschränkt anzuwenden – und die Akteneinsicht daher mangels Zustimmung der Parteien abzulehnen – ist, ist die Beurteilung, ob der Einschreiterin ausreichende und dem Konzept der SchadenersatzRL genügende Informationsmöglichkeiten zur Geltendmachung ihrer behaupteten, durch die Kartellverstöße der Antragsgegnerinnen verursachten Schäden zur Verfügung stehen.
[50] 7.2. Die im Urteil Donau Chemie des EuGH aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz abgeleitete Wertung, der Zugang zu Beweismitteln dürfe nicht so ausgestaltet sein, dass dadurch die Erlangung von Schadenersatz durch den Kartellgeschädigten praktisch unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werde, ist durch die Erlassung der SchadenersatzRL und deren Umsetzung keineswegs obsolet. Die SchadenersatzRL kann vielmehr als Konkretisierung des bei Beurteilung der Effektivität heranzuziehenden Maßstabs dienen.
[51] 7.3. Soweit die Einschreiterin in ihrem Rekurs die SchadenersatzRL als relevanten Maßstab ablehnt, überzeugt dies nicht. Im in der Rechtssache Donau Chemie ergangenen Urteil wies der EuGH ausdrücklich auf das Fehlen einschlägiger Regeln der Union hin (Rz 25). Die in der Folge in der SchadenersatzRL niedergelegten abgestuften Regelungen zum Vertraulichkeitsschutz können dahin verstanden werden, dass damit dem vom EuGH richterrechtlich entwickelten Abwägungsgebot Genüge getan wird (Mallmann/Lübbig in Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsudrchsetzung [2019] § 13 Rz 49). Ein Verstoß gegen das Primärrecht ist darin nicht zu erblicken (Mallmann/Lübbig aaO).
[52] 7.4. Betrachtet man die Regelungen der SchadenersatzRL zur Offenlegung von Beweismitteln, so ist zunächst festzuhalten, dass die Richtlinie keine eindeutige Vorgabe dahin enthält, die Offenlegung von Beweismitteln erst und ausschließlich im Schadenersatzprozess zu ermöglichen (Hoffer/Barbist, Das neue Kartellrecht³ 149; vgl Weitbrecht, Kartellschadenersatz 2017, NZKart 2018, 106 [107, 109], der „erhebliche Umsetzungsspielräume“ ortet).
[53] Die vom Erstgericht angenommene Harmonisierung besteht vielmehr nur im Hinblick auf den Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gemäß Art 6 Abs 6 SchadenersatzRL (vgl Mallmann/Lübbig in Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung § 13 Rz 48; in diesem Sinn auch Fiedler/Huttenlauch, Der Schutz von Kronzeugen‑ und Settlementerkärungen vor der Einsichtnahme durch Dritte nach dem Richtlinien‑Vorschlag der Kommission, NZKart 2013, 350 [354]). Im Übrigen wird kein einheitliches Schutzniveau festgelegt; Art 5 Abs 8 SchadenersatzRL gestattet vielmehr – unter Beachtung der Notwendigkeit geeigneter Schutzmaßnahmen für bestimmte Kategorien von offenzulegenden Beweismitteln – ausdrücklich die Beibehaltung oder Einführung nationaler Vorschriften, die zu einer umfassenderen Offenlegung von Beweismitteln führen.
[54] 7.5. Der Richtlinie kann aber auch nicht entnommen werden, dass eine Offenlegung erst und ausschließlich im Schadenersatzprozess für die Ermöglichung einer effektiven privaten Rechtsdurchsetzung jedenfalls und in allen denkbaren Fallkonstellationen ausreicht.
[55] Art 5 Abs 1 SchadenersatzRL sieht zwar (bloß) vor, dass die nationalen Gerichte „in Verfahren über Schadenersatzklagen“ die Offenlegung von Beweismitteln anordnen könnten. Die Erwägungsgründe formulieren aber die Zielsetzung, durch Kartellverstöße geschädigten Rechtsträgern den „für die Erstellung ihrer Schadenersatzklage“ notwendigen Zugang zu Beweismitteln zu ermöglichen (ErwGr 27).
[56] Ihrem Gesamtkonzept nach bezweckt die SchadenersatzRL eine möglichst effiziente öffentliche und private Rechtsdurchsetzung. In diesem Sinn ist es geboten, im Hinblick auf die private Durchsetzung des Kartellrechts mit Hilfe des Schadenersatzrechts eine Gesamtbetrachtung der Möglichkeiten zur Informationsgewinnung vorzunehmen, die einem durch einen Wettbewerbsverstoß geschädigten Rechtsträger zur Verfügung stehen.
[57] Diese Möglichkeiten dürfen im Sinn des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes nicht so ausgestaltet sein, dass dadurch die Geltendmachung von Schadenersatz aus Kartellverstößen praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (vgl EuGH C‑360/09 , Pfleiderer, Rz 30 f; C‑536/11 , Donau Chemie, Rz 10).
[58] 7.6. Bei isolierter Betrachtung der durch das KaWeRÄG 2017 ins KartG eingeführten §§ 37j und 37k ist festzuhalten, dass ein Rechtsträger, der sich durch einen Kartellverstoß geschädigt erachtet, die Schadenersatzklage einbringen, daher insbesondere seinen Schaden beziffern und auf dieser Basis die Pauschalgebühr entrichten muss, bevor er Anträge auf Offenlegung nach §§ 37j oder 37k KartG stellen kann. Im Fall der Abweisung eines Antrags nach § 37j KartG ist die abweisende Entscheidung zudem erst mit der Endentscheidung im Schadenersatzprozess bekämpfbar (§ 37j Abs 8 KartG). Der Kläger kann daher im Fall einer unberechtigten Abweisung seines Offenlegungsantrags mit der Situation konfrontiert sein, erst nach Vorliegen der Sachentscheidung – sohin nach einem beträchtlichen Prozessaufwand – die zur Substanziierung und Schlüssigstellung seiner Ansprüche erforderlichen Urkundenvorlageanträge im Rechtsmittelverfahren erfolgreich verfolgen zu können. Meinungsverschiedenheiten im Zuge der Amtshilfe nach § 37k KartG können überhaupt nur vom ersuchenden Gericht an das übergeordnete Gericht herangetragen werden (8 Nc 40/21f).
[59] Die Rechtsansicht des Erstgerichts, allein aus der Einführung der §§ 37j und 37k KartG sei abzuleiten, die in § 39 Abs 2 KartG vorgesehene Voraussetzung der Zustimmung aller Verfahrensparteien für die Einsicht in die Akten des Kartellgerichts sei unter keinen Umständen mehr als unionsrechtswidrig anzusehen, vermag daher nicht zu überzeugen.
[60] 7.7. Die isolierte Betrachtung der §§ 37j, 37k KartG greift aber zu kurz. Vielmehr kommt auch der Veröffentlichung kartellgerichtlicherEntscheidungen in der Ediktsdatei gemäß § 37 KartG (seit der Fassung KaWeRÄG 2012) – die wie ausgeführt in den Fällen Donau Chemie und 16 Ok 9/14f und 16 Ok 10/14b noch nicht zur Anwendung kam – Gewicht zu.
[61] 7.8. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass das Geldbußenverfahren zwar nicht primär den Zweck verfolgt, die Grundlagen für die Führung von Schadenersatzprozessen zu schaffen, dass aber bei Auslegung des § 37 KartG die gesetzgeberische Zielsetzung zu berücksichtigen ist, die Verfolgung privater Schadenersatzansprüche wegen Kartellverstößen zu erleichtern, sodass der zugrunde liegende Sachverhalt in der Geldbußenentscheidung möglichst deutlich wiederzugeben ist (16 Ok 14/13). Das Unterbleiben einer ausreichenden Veröffentlichung der Entscheidung würde für Geschädigte eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des durch Art 6 EMRK und Art 47 GRC garantierten Rechts auf Zugang zu einem Gericht bedeuten, wenn – wie nach dem Wortlaut des § 39 Abs 2 KartG – nur mit Zustimmung der Parteien Akteneinsicht in die Akten des Kartellverfahrens zusteht (16 Ok 14/13; 16 Ok 2/21m).
[62] 7.9. Die Veröffentlichung trägt wesentlich zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten bei. Bei Vorliegen einer Veröffentlichung wird es daher konkret zu behauptender Umstände bedürfen, aus denen sich ergibt, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs dennoch übermäßig erschwert (sodass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz verletzt wäre), etwa, weil Kategorien von Dokumenten benötigt werden, die in die veröffentlichte Entscheidung keinen Eingang gefunden haben oder typischer Weise in eine zu veröffentlichende Entscheidung keinen Eingang finden werden.
[63] 7.10. Diese Wertung gilt auch in Fällen wie dem vorliegenden, in denen eine Person, die eine Schadenszufügung durch einen Wettbewerbsrechtsverstoß behauptet, den Antrag auf Akteneinsicht bereits vor Abschluss des Kartellverfahrens oder zumindest vor Veröffentlichung der kartellgerichtlichen Entscheidung in der Ediktsdatei stellt.
[64] 7.11. Die Antragstellerin argumentiert im vorliegenden Fall, dass ihr die Möglichkeit einer Klageerhebung vor Abschluss des Geldbußenverfahrens ohne die Gewährung von Akteneinsicht in unzumutbarer Weise erschwert würde.
[65] Es trifft zwar zu, dass ein Rechtsträger, der sich durch einen Wettbewerbsrechtsverstoß geschädigt erachtet, bereits vor Abschluss des wettbewerbsrechtlichen Verfahrens eine Schadenersatzklage erheben kann. Es sind aber keine – auch keine unionsrechtlichen – Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die effiziente private Durchsetzung des Wettbewerberbsrechts die Erhebung derartiger stand alone‑Klagen unbedingt erfordert. Der Effizienzgrundsatz verlangt vielmehr (nur), dass die Geltendmachung von Schadenersatz aus Wettbewerbsrechtsverstößen nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Aufgrund der Hemmung der Verjährung von Ersatzansprüchen gemäß § 37h KartG (die Hemmung endet nach § 37h Abs 2 KartG ein Jahr nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des wettbewerbsrechtlichen Verfahrens oder der Beendigung der Untersuchungsmaßnahme) ist insbesondere nicht ersichtlich, dass durch das Abwarten der kartellgerichtlichen Entscheidung eine Verjährung der Schadenersatzansprüche drohen würde. Dies wurde von der Einschreiterin für den vorliegenden Fall jedenfalls nicht vorgebracht.
[66] 7.12. Ob in einem konkreten Fall der Effektivitätsgrundsatz verletzt ist, kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden.
[67] Es liegt daher an der Akteneinsicht begehrenden Person, darzutun, dass ihr unter Berücksichtigung aller ihr zu Gebote stehenden rechtlichen Möglichkeiten der Informationsgewinnung ohne die Gewährung einer von der Zustimmung der Parteien des Kartellverfahrens unabhängige Akteneinsicht die Geltendmachung ihres durch die Wettbewerbsrechtsverletzung verursachten (behaupteten) Schadenersatzanspruchs praktisch verunmöglichen oder übermäßig erschwert würde.
Zum vorliegenden Fall
[68] 8.1. Im vorliegenden Fall hatte die Einschreiterin Kenntnis von dem gegen die Antragsgegnerinnen aufgrund des verfahrenseinleitenden Antrags der Bundeswettbewerbsbehörde vom 14. 7. 2021 geführten Verfahrens vor dem Erstgericht. Die bevorstehende, dieses Verfahren beendende – stattgebende, ab‑ oder zurückabweisende – Entscheidung musste nach dem gemäß § 86 Abs 6 KartG anzuwendenden § 37 Abs 1 KartG idF KaWeRÄG 2017 in der Ediktsdatei veröffentlicht werden. Der Einschreiterin musste sohin bekannt sein, dass ihr die Entscheidungsveröffentlichung zur Verfügung stehen würde.
[69] 8.2. Darüber hinaus konnte sie davon ausgehen, dass in einem allfälligen – erst anhängig zu machenden – Schadenersatzprozess gegen die Antragsgegnerinnen die Offenlegungsvorschriften der §§ 37j und 37k KartG zur Anwendung kommen würden.
[70] 8.3. Soweit die Einschreiterin auf dem Standpunkt steht, die Offenlegungsvorschriften der SchadenersatzRL bzw die §§ 37j, 37k KartG kämen aufgrund des zeitlichen Übergangsrechts nicht zur Anwendung, trifft das nicht zu.
[71] Die Offenlegungsvorschriften der §§ 37j, 37k KartG sind gemäß § 86 Abs 9 Satz 3 KartG auf Verfahren anzuwenden, in denen der verfahrenseinleitende Schriftsatz nach dem 26. 12. 2016 eingebracht wird. Die Rechtsansicht der Einschreiterin, §§ 37j und 37k KartG erfassten nur Schäden, die nach dem 26. 12. 2014 entstanden sind, ist daher durch den Wortlaut des § 86 Abs 9 Satz 2 KartG nicht gedeckt. Sie lässt sich auch nicht aus Art 22 SchadenersatzRL ableiten.
[72] 8.4. Art 22 SchadenersatzRL differenziert zwischen den in Abs 1 geregelten materiell‑rechtlichen und den nicht unter Abs 1 fallenden, sohin verfahrensrechtlichen Vorschriften (vgl die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 28. 10. 2021, C‑267/20 , Rs AB Volvo, Rz 37). Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Richtlinie haben nach deren Art 22 Abs 2 nicht für Schadenersatzklagen zu gelten, die vor dem 26. 12. 2014 bei einem nationalen Gericht erhoben wurden; eine Klageerhebung vor diesem Zeitpunkt behauptet die Einschreiterin aber gar nicht. Da es sich bei den Bestimmungen über die Offenlegung von Beweismitteln zweifelsfrei um Bestimmungen verfahrensrechtlichen Charakters im Sinn der Richtlinie handelt, kommt es für ihre Anwendung nicht auf den Zeitpunkt des Schadenseintritts an.
[73] 8.5. Auch aus dem zeitlichen Anwendungsbereich der §§ 37a bis 37g KartG auf Schäden, die nach dem 26. 12. 2016 entstanden sind (§ 86 Abs 9 Satz 1 KartG), ergibt sich – entgegen dem Rekursvorbringen der Einschreiterin – keine Einschränkung der Offenlegungsvorschriften der §§ 37j, 37k KartG im Hinblick auf den Zeitpunkt des Schadenseintritts.
[74] 8.6. Die Regelung der Verjährung nach § 37h KartG, insbesondere der Hemmung der Verjährung gemäß § 37h Abs 2 KartG (für die Dauer eines auf die Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde gegen die Wettbewerbsrechtsverletzung gerichteten Verfahrens, die Dauer einer Untersuchungsmaßnahme einer Wettbewerbsbehörde gegen die Wettbewerbsrechtsverletzung und für die Dauer von Vergleichsverhandlungen gemäß § 37g KartG) ist nach § 86 Abs 9 Satz 2 KartG auf den Ersatz von Schäden anzuwenden, die am 26. 12. 2016 noch nicht verjährt sind, sofern nicht die Anwendung des bis dahin geltenden Rechts für den Geschädigten günstiger ist.
[75] 8.7. Betrachtet man die der Einschreiterin rechtlich zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten, so ergibt sich daraus noch nicht, dass ihr die Geltendmachung ihres Schadenersatzanspruchs aus den von den Antragsgegnerinnen begangenen Wettbewerbsverletzungen unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde.
[76] Die Einschreiterin legte in ihrem Antrag auf Akteneinsicht keine konkreten Umstände des Falls, aus denen sich eine Beeinträchtigung des Effektivitätsgrundsatzes ergäbe, dar. Ihr Antrag ist – entgegen ErwGr 23 SchadenersatzRL – auf die uneingeschränkte Einsicht in den Akt des Erstgerichts gerichtet und enthält keine nähere Bezeichnung der Dokumente oder der Kategorien von Dokumenten, die die Einschreiterin zur Verfolgung ihres Anspruchs benötigt. Sie zeigt auch keine Umstände auf, die die Einbringung einer Schadenersatzklage vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens des Erstgerichts und vor der Veröffentlichung der Endentscheidung in der Ediktsdatei erforderlich machen. So behauptet sie etwa nicht, dass ihr bei Abwarten der rechtskräftigen Entscheidung im Geldbußenverfahren eine durch frühere Klageerhebung abwendbare Anspruchsverjährung drohe. Es wird auch nicht dargetan, dass zum Antragszeitpunkt bereits damit zu rechnen war, über die zu erwartende Entscheidungsveröffentlichung hinaus noch weitere, in den Akten des Erstgerichts enthaltene Unterlagen oder Kategorien von Unterlagen für die Klagevorbereitung zu benötigen.
[77] 8.8. Ausgehend vom Antragsvorbringen der Einschreiterin ergibt sich unter Berücksichtigung der ihr zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten nicht, dass ihr durch die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG die Geltendmachung ihres Schadenersatzanspruchs aus den Wettbewerbsrechtsverletzungen der Antragsgegnerinnen praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.
[78] Die Anwendung der in der Rechtssache Donau Chemie vom EuGH ausgeführten Grundsätze erfordert daher im vorliegenden Fall nicht, von der Anwendung des § 39 Abs 2 KartG abzusehen.
[79] 8.9. Schließlich kann auch aus der Bindungswirkung gemäß § 37i KartG ein von der Zustimmung der Parteien gemäß § 39 Abs 2 KartG unabhängiges Recht auf Einsicht in die Akten des Erstgerichts nicht abgeleitet werden. Aus der Bindungswirkung ergibt sich auch keine materielle Parteistellung der Einschreiterin im Geldbußenverfahren.
[80] 8.9.1. Materielle Parteistellung genießt nach § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG jede Person, soweit ihre rechtlich geschützte Stellung durch die begehrte oder vom Gericht in Aussicht genommene Entscheidung oder durch eine sonstige gerichtliche Tätigkeit unmittelbar beeinflusst würde.
[81] Die Bestimmung ist nach der Judikatur eng auszulegen (RS0123029). Die rechtlich geschützte Stellung einer Person wird dann unmittelbar beeinflusst, wenn die in Aussicht genommene Entscheidung oder gerichtliche Tätigkeit Rechte oder Pflichten dieser Person ändert, ohne dass noch eine andere Entscheidung gefällt werden muss. Die Rechtsstellung ist daher unmittelbar vom Ausgang des Verfahrens abhängig (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² § 2 Rz 50; 16 Ok 2/20k).
[82] Die Parteistellung ist insoweit eingegrenzt, als im jeweiligen Verfahren oder Verfahrensabschnitt die rechtlich geschützte Stellung tangiert wird (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² § 2 Rz 56). Der mögliche Eingriff muss zu einer unmittelbaren Beeinflussung der rechtlichen Stellung führen, eine bloße Reflex‑ oder Tatbestandswirkung reicht nicht aus. Eine rechtlich geschützte Stellung fehlt, wenn die gerichtliche Maßnahme (nur) wirtschaftliche oder ideelle Betroffenheit herbeiführt. Auch das bloße rechtliche Interesse an einem bestimmten Verfahrensausgang (ohne dass eine Bindungswirkung der Entscheidung bestünde) bewirkt keine rechtlich geschützte Stellung (16 Ok 2/20k; RS0123029 [T5]; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² § 2 Rz 57 ff).
[83] 8.9.2. Nach § 37i Abs 2 KartG ist ein Gericht, das über den Ersatz des Schadens aus einer Wettbewerbsrechtsverletzung entscheidet, an die Feststellung der Wettbewerbsrechtsverletzung gebunden, wie sie in einer rechtskräftigen Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde oder eines Gerichts, das im Instanzenzug über die Entscheidung einer Wettbewerbsbehörde entschieden hat, getroffen wurde.
[84] Wie die Vorgängerbestimmung des § 37a Abs 3 KartG idF KaWeRÄG 2012 ordnet § 37i KartG keine Bindung an Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden und Gerichten an, die das Vorliegen einer Gesetzesverletzung verneinen (Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 37a Rz 59). Die Bindungswirkung erstreckt sich darüber hinaus allein auf die Feststellung des Wettbewerbsverstoßes; hingegen entfalten Feststellungen zur Schadenshöhe, die beispielsweise für die Zwecke der Bußgeldbemessung getroffen wurden, keine bindende Wirkung (Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG² [2016] § 37a Rz 60). Zu Recht zog das Erstgericht daraus die Schlussfolgerung, dass die Bindungswirkung gemäß § 37 Abs 2 KartG ausschließlich zu Gunsten der Einschreiterin wirken kann, sodass daraus ihre materielle Parteistellung nicht ableitbar ist.
[85] 8.10. Die von der Einschreiterin angeregte Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH gemäß Art 267 AEUV ist nicht erforderlich, weil der vorliegende Fall anhand der (dargestellten) Rechtsprechung des EuGH entschieden werden konnte.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)