OGH 15Os72/07p

OGH15Os72/07p8.8.2007

Der Oberste Gerichtshof hat am 8. August 2007 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. T. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Gutlederer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Werner K***** und Alexandra K***** wegen des im Versuchsstadium verbliebenen Verbrechens nach § 15 StGB, § 28 Abs 2 vierter Fall SMG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 15 Hv 94/05h des Landesgerichtes St. Pölten, über die vom Generalprokurator gegen das Unterbleiben der Erledigung eines im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufungen gestellten Beweisantrages durch das Oberlandesgericht Wien erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Gegenwart des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Mag. Knibbe, der Angeklagten Alexandra K*****, der Verteidiger Mag. Gallauner und Dr. Wagner, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten Werner K*****, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Berufungsverfahren AZ 22 Bs 316/06s des Oberlandesgerichtes Wien verletzt das Unterbleiben einer Begründung in der Berufungsentscheidung für die Abstandnahme von der im Berufungsverfahren beantragten Aufnahme eines Beweises für den geltend gemachten Milderungsgrund staatlicher Tatprovokation, obwohl das Berufungsgericht auch zuvor über diese Abstandnahme nichts bekanntgemacht hatte, Art 6 Abs 1 MRK.

Das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 6. Februar 2007, AZ 22 Bs 316/06s (ON 37 des Aktes AZ 15 Hv 94/05h des Landesgerichtes St. Pölten), wird in Ansehung der beiden Angeklagten Werner K***** und Alexandra K*****, jedoch mit Ausnahme der Entscheidung über den den Ausspruch über die Abschöpfung der Bereicherung betreffenden Teil der Berufung der Angeklagten Alexandra K*****, aufgehoben und dem Oberlandesgericht Wien in diesem Umfang die Erneuerung des Berufungsverfahrens aufgetragen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Schöffengericht vom 7. März 2006, GZ 15 Hv 94/05h-26 (das hinsichtlich Alexandra K***** auch einen Ausspruch über die Abschöpfung der Bereicherung und hinsichtlich beider Angeklagter Teilfreisprüche enthält), wurden Werner K***** und Alexandra K***** (richtig:) der in der Entwicklungsstufe des Versuchs gebliebenen Verbrechen nach § 15 StGB, § 28 Abs 2 vierter Fall SMG (I./1./), Werner K***** (richtig:) der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG (I./2./), Alexandra K***** der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 Z 2 erster Fall SMG (I./3./) sowie (richtig:) der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster, zweiter und sechster Fall, Abs 2 Z 2 erster Fall SMG (I./4./) und Werner K***** des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 2 (§ 17 Abs 1 Z 3) WaffG (I./5./) schuldig erkannt und unter Anwendung der §§ 28 Abs 1 und 43a Abs 4 StGB nach dem § 28 Abs 2 SMG zu jeweils zum Teil bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen verurteilt.

Danach haben sie - soweit hier von Bedeutung - in Neulengbach den bestehenden Vorschriften zuwider

im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) (I./1./) am 21. November 2004 ein Suchtgift in großen Mengen in Verkehr zu setzen versucht, indem sie 580 Stück Ecstasy-Tabletten und ca 150 Gramm Speed (Amphetamin) um 6.970 Euro einem verdeckten Ermittler der Sicherheitsbehörde zum Kauf anboten;

(I./2./ und 3./) zu nicht mehr feststellbaren Zeitpunkten im Jahr 2004 Suchtgift, nämlich 327,5 Stück Ecstasy-Tabletten, 75 Gramm Metamphetamin, ca 65 Gramm Marihuana und 2,77 Gramm Kokain, erworben und bis zum 21. November 2004 besessen, wobei Alexandra K***** diese Taten gewerbsmäßig beging;

(I./4./) Alexandra K***** allein bis 21. November 2004 Amphetamin, Ecstasy-Tabletten und Marihuana erworben und in wiederholten Angriffen unbekannten Suchtgiftkonsumenten durch gewinnbringenden Verkauf in nicht mehr feststellbaren Mengen gewerbsmäßig überlassen. Die dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerenden der beiden Angeklagten wurden mit Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 9. November 2006, GZ 15 Os 88/06i-7, in nichtöffentlichter Sitzung zurückgewiesen. Ihren Berufungen gab das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 6. Februar 2007, AZ 22 Bs 316/06s (ON 37 des Hv-Aktes), nicht Folge.

Alexandra K***** hatte in der Ausführung ihrer (im Übrigen auch gegen den sie betreffenden Ausspruch über die Abschöpfung der Bereicherung gerichteten) Berufung (ON 31) die Vernehmung der Zeugin Amalia D***** jun. zum Beweis einer nach dem Rechtsmittelvorbringen das Fairness-Gebot des Art 6 Abs 1 MRK verletzenden und solcherart bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden, von der Angeklagten schon in ihrer Verantwortung behaupteten Tatprovokation (Schuldspruchfaktum I./1./) durch jene vom verdeckten Ermittler eingesetzte - im Übrigen auch im Ersturteil erwähnte - (Vertrauens-)Person ausdrücklich beantragt. Im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufungen der beiden Angeklagten am 6. Februar 2007 (ON 36) trug der Verteidiger der Angeklagten den Inhalt dieser Berufungsschrift vor und stellte (auch) den genannten Beweisantrag. Eine Entscheidung des Berufungsgerichtes darüber im Gerichtstag ist jedoch ebenso unterblieben wie eine Erwähnung dafür maßgeblich gewesener Gründe oder auch bloße Erwägungen zum Gegenstand des (solcherart vielmehr gänzlich unerörtert gebliebenen) Beweisantrages im genannten Berufungsurteil.

In seiner gegen diese Vorgangsweise des Oberlandesgerichtes Wien erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes führt der Generalprokurator Folgendes aus:

Das (in §§ 294 bis 296 StPO geregelte) Verfahren über Berufungen gegen Urteile von Schöffen- und Geschworenengerichten ist nach der Konzeption der Strafprozessordnung ein neues, mit erhöhten Garantien ausgestattetes Hauptverfahren. Die Berufung zielt solcherart auf einen eigenständigen Ausspruch des Berufungsgerichtes ab, der an die Stelle des bekämpften treten soll. Im Unterschied zur Nichtigkeitsbeschwerde besteht daher im Berufungsverfahren kein Neuerungsverbot; der Berufungswerber kann somit (sowohl bei Anmeldung des Rechtsmittels oder in der Berufungsschrift als auch noch im Gerichtstag) neue Tatsachen oder Beweismittel zur Begründung der ergriffenen Berufung geltend machen, sodass auch die Stellung von auf Strafzumessungstatsachen bezogenen Beweisanträgen im Berufungsverfahren grundsätzlich zulässig ist (zum Ganzen jeweils mwN: Ratz WK-StPO § 295 Rz 2; Fabrizy StPO9 § 295 Rz 1).

§ 238 StPO ist Ausdruck des - auch durch das in Art 6 Abs 1 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren (vgl Grabenwarter EMRK2 zu Art 6 Abs 1: § 24 Rz 64, 66) geforderten - sachlogisch auch im zuvor beschriebenen Berufungsverfahren geltenden Verfahrensgrundsatzes der Entscheidungspflicht des Gerichtes über (Beweis-)Anträge der Parteien.

Das Oberlandesgericht Wien hätte daher im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufungen der Angeklagten Werner K***** und Alexandra K***** über den von der zuletzt genannten Berufungswerberin gestellten, zuvor genannten Beweisantrag auf Einvernahme der darin bezeichneten Zeugin zu entscheiden gehabt. Eine nach § 25 StPO unzulässige, einem staatlichen Organwalter zurechenbare und daher gegen das fair-trial-Gebot des Art 6 Abs 1 EMRK verstoßende Tatprovokation ist bei der Strafzumessung - zu Gunsten des Angeklagten - zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0119618). Ein aus der zuvor aufgezeigten Gesetzesverletzung resultierender Nachteil für die Angeklagte Alexandra K***** und auch den Angeklagten Werner K***** - für dessen in seiner Berufungsschrift (ON 30) behauptete, vom Berufungsgericht gleichfalls unerörtert gelassene Tatprovokation durch die in dem in Rede stehenden Beweisantrag genannte Zeugin die Verantwortung der Mitangeklagten Alexandra K***** (AS 25 verso/II) Anhaltspunkte zu bieten vermag - kann solcherart nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen werden.

Im Übrigen bleibt anzumerken, dass - entgegen dem ausdrücklichen Hinweis in dem eingangs erwähnten, die Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten zurückweisenden Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 9. November 2006 (darin S 6 f = AS 107 verso f/II) - darin aufgezeigte strafzumessungsrelevante Mängel der Feststellungen zu den Schuldsprüchen I./2./ und 3./ im Berufungsurteil unerörtert geblieben sind.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Das Verfahren über Berufungen gegen Urteile von Schöffen- und Geschworenengerichten zielt nach der Konzeption der Strafprozessordnung auf einen eigenständigen Ausspruch des Berufungsgerichtes ab, der an die Stelle des bekämpften treten soll. Im Unterschied zur Nichtigkeitsbeschwerde besteht daher für die Berufung gegen Urteile von Schöffen- und Geschworenengerichten kein Neuerungsverbot; der Berufungswerber kann somit (sowohl bei Anmeldung des Rechtsmittels oder in der Berufungsschrift als auch noch im Gerichtstag) neue Tatsachen oder Beweismittel zur Begründung der ergriffenen Berufung geltend machen, sodass auch die Stellung von auf Strafzumessungstatsachen bezogenen Beweisanträgen im Berufungsverfahren zulässig ist (zum Ganzen jeweils mwN Ratz, WK-StPO § 295 Rz 2 iVm § 288 Rz 28; Fabrizy StPO9 § 295 Rz 1). Eine eigene Beschlussfassung darüber, wie dies § 238 StPO für das Verfahren in erster Instanz vorsieht, verlangt das Gesetz vom Berufungsgericht hingegen nicht (vgl Ratz, WK-StPO § 473 Rz 16).

Das Grundrecht auf ein faires Verfahren enthält als Teilgarantie das Recht auf Begründung von Entscheidungen (Grabenwarter, EMRK² § 24 Rz 60, 66 mwN; vgl Danek, WK-StPO § 270 Rz 28). Im gegebenen Fall zielte der im Verfahren über die Strafberufung gestellte Antrag auf den Nachweis einer einem staatlichen Organwalter zurechenbaren, somit gegen Art 6 Abs 1 MRK verstoßenden Tatprovokation, die bei der Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten zu berücksichtigen ist: Art 6 MRK hindert zwar nicht, dass der Angeklagte im Fall des gesetzlichen Nachweises seiner Schuld (Art 6 Abs 2 MRK) selbst bei einer einem staatlichen Organwalter zurechenbaren Tatprovokation dennoch für die Tat verurteilt wird, ist doch aus diesem Konventionsverstoß kein materieller Straflosigkeitsgrund für die provozierte Straftat abzuleiten. Allerdings kann das Vorliegen einer Tatprovokation durch Organwalter des Staates bei der Sanktionsfindung angemessen in Rechnung gestellt und ein gerechter Ausgleich dafür gefunden werden, dass der Angeklagte das - dessen ungeachtet - verpönte Verhalten ohne diese Einflussnahme nicht gesetzt hätte (11

Os 126/04, EvBl 2005/106, 468 = JBl 2005, 531 [Pilnacek] = RZ 2006/3,

48 = SSt 2005/1). Dabei ist der mit Blick auf die Beseitigung der sog Opfereigenschaft aus Art 34 MRK folgenden Verpflichtung zu entsprechen, die Berücksichtigung einer solchen Tatprovokation durch eine ausdrückliche und messbare Strafmilderung zum Ausdruck zu bringen (Grabenwarter, EMRK² § 13 Rz 15, Meyer-Ladewig, EMRK2 Art 34 Rz 15d, je mwN).

Das Oberlandesgericht gab im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Strafberufung seine Erwägungen über die Abstandnahme von der beantragten Beweisaufnahme nicht bekannt. Indem es dann auch in der Begründung der Berufungsentscheidung nichts über seine diesbezüglichen Erwägungen anführte, verletzte es das Gesetz in der sich aus Art 6 Abs 1 MRK ergebenden Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen.

Ein aus der Gesetzesverletzung resultierender Nachteil für die Angeklagte Alexandra K***** und den Angeklagten Werner K***** ist nicht von der Hand zu weisen. Auch Letzterer hatte in seiner Berufungsschrift (ON 30) eine Tatprovokation behauptet, was vom Berufungsgericht gleichfalls unerörtert gelassen wurde. Daher sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, das Berufungsurteil in dem im Spruch genannten Umfang aufzuheben und dem Oberlandesgericht Wien die Erneuerung des Berufungsverfahrens aufzutragen (§ 292 letzter Satz StPO).

Dabei werden auch - was in der vorliegenden Entscheidung übrigens nicht geschah - die im Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 9. November 2006, AZ 15 Os 88/06i (ON 33 des Aktes), auf Zurückweisung der Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten aufgezeigten strafzumessungsrelevanten Mängel der Feststellungen zu den Schuldsprüchen I./2./ und 3./ zu berücksichtigen sein (siehe S 108 f/II).

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