OGH 15Os27/08x

OGH15Os27/08x10.3.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. März 2008 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. T. Solé in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pulker als Schriftführerin in der Strafsache gegen Loms M***** wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 4 Z 3 SMG, §§ 12 zweiter Fall, 15 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 061 Hv 137/06x des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 30. Jänner 2008, AZ 18 Bs 16/08x (ON 213), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Loms M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 700 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

1. Über Loms M***** wurde im Verfahren AZ 061 Hv 137/06x des Landesgerichts für Strafsachen Wien am 21. Juli 2006 die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 und 3 lit a und b StPO aF verhängt (ON 45).

Er beantragte mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2007 (ON 203) seine Enthaftung, die in der für den 4. Jänner 2008 anberaumten Haftverhandlung abgelehnt wurde (ON 206, 209). Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem angefochtenen Beschluss vom 30. Jänner 2008 nicht Folge; es ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr (§ 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit a und b StPO) an (ON 213).

2. Mit der vorliegenden Grundrechtsbeschwerde macht der Angeklagte eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§ 9 Abs 2 iVm § 177 Abs 1 erster Satz StPO) geltend, die vor allem auf das Vorgehen des Gerichts in Bezug auf die Einholung eines - noch immer nicht vorliegenden - Stimmerkennungsgutachtens an Hand von Tonaufnahmen zurück gehe. Der zugrunde liegende Antrag des Angeklagten zielte auf Klärung der Frage, ob der Angeklagte Sprecher bei den überwachten Telefongesprächen sei. Erst im Dezember 2007, sieben Monate nach Weiterleitung des Akts an das Institut für Schallforschung, sei die Aufnahme der Stimme des Angeklagten zu Vergleichszwecken für die Gutachtenserstattung erfolgt.

Darüber hinaus habe das Erstgericht gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen dadurch verstoßen, dass es trotz der diesbezüglichen Instruktion durch den Obersten Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. Juni 2007, AZ 15 Os 69/07x, über die vorangegangene Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten keine Aktenkopien angefertigt habe. Dadurch habe erst am 4. Jänner 2008, nach Rückforderung der Akten vom Institut für Schallforschung, über den Enthaftungsantrag vom 13. Dezember 2007 entschieden werden können. Das Verfahren stehe seit November 2007 still.

3. Aus dem Akt ergibt sich folgender bisheriger Verfahrensverlauf:

3.1. Nach Einlangen der Anklageschrift gegen Loms M***** und zwei weitere Angeklagte am 5. Oktober 2006 schrieb der Vorsitzende die Hauptverhandlung für den 24. November 2006 aus. An diesem Tag beantragte der Angeklagte erstmals die Einholung eines Schallgutachtens zum Beweis dafür, dass er nicht der Sprecher der überwachten Telefongespräche sei. Der öffentliche Ankläger erhob dagegen keinen Einwand. Während die beiden Mitangeklagten rechtskräftig verurteilt wurden, wurde das Verfahren gegen Loms M***** zwecks Durchführung des beantragten Beweises ausgeschieden und auf unbestimmte Zeit vertagt (S 193/V). In Ansehung des Angeklagten blieb das Erstgericht bis zum 15. Jänner 2007 ganz untätig. In der an diesem Tag für den 6. Februar 2007 anberaumten neuen (§ 276a StPO) - und abermals auf unbestimmte Zeit vertagten - Hauptverhandlung wurde mit dem für den Straffall zuständigen Kriminalbeamten abgeklärt, auf welche Weise die Zuordnung der Telefongespräche konkret erfolgte (S 283 ff, 297/V), ob eine Übertragung der zu untersuchenden Gesprächspassagen für die beantragte Beweisaufnahme technisch möglich ist (S 285/V) und in welchem Umfang diese zur Verfügung gestellt werden müssten (S 291 f/V). Außerdem wurde der den Angeklagten Loms M***** belastende, am 24. November 2006 rechtskräftig verurteilte Ramon G***** als Zeuge vernommen.

Nachdem beim Erstgericht am 7. März 2007 von der Polizei die CD mit Protokollen der Telefonüberwachung eingelangt war (ON 181), schrieb der Vorsitzende am 19. März 2007 (ON 183) wieder eine neue Hauptverhandlung (§ 276a StPO) aus, und zwar für den 24. April 2007. Diese Verhandlung diente der neuerlichen Vernehmung des Angeklagten, sonst aber, abgesehen vom Referat der „bisherigen Verfahrensergebnisse" und der Hauptverhandlungsprotokolle, keiner Beweisaufnahme; der Vorsitzende konfrontierte den Angeklagten wieder mit den ihn belastenden Verfahrensergebnissen und stellte ihm in Aussicht, dass die von ihm begehrte Beweisaufnahme „in ca zwei Jahren erledigt sein wird" (S 327/V). Dennoch stellte der Angeklagte erneut und konkreter den Antrag auf Einholung eines schalltechnischen Gutachtens, zum Beweis dafür, dass „sämtliche der von der ON 181, insbesondere S 309 und 311 geführten Telefonate nicht die Stimme des Angeklagten enthalten". Der öffentliche Ankläger schloss sich diesem Antrag an (S 327/V). Weiters beantragte der Angeklagte seine Enthaftung, die das Schöffengericht ablehnte (S 320/V). Gegen den infolge Beschwerde des Angeklagten, die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 und 3 lit a und b StPO aF anordnenden Beschluss des Beschwerdegerichts erhob Loms M***** am 30. Mai 2007 eine Grundrechtsbeschwerde. Er machte - wie schon in der vorangegangenen Beschwerde an das Oberlandesgericht - eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§ 193 StPO aF) geltend, die sich aus einer Verzögerung von fünf Monaten mit Erteilung des Gutachtensauftrags ergebe, nachdem die Hauptverhandlung an jenem Tag „zwecks Durchführung des beantragten Beweises" auf unbestimmte Zeit vertagt worden sei.

Erst am 27. April 2007 - nach Einlangen der CD mit den Telefonüberwachungsprotokollen am 7. März 2007 - erteilte das Erstgericht den die Analyse von 26 Gesprächen umfassenden Auftrag zur Gutachtenserstattung (ON 188), den es am 16. Mai 2007, als die Akten vom Oberlandesgericht Wien rücklangten, dem Institut für Schallforschung übermittelte, wobei es unter Hinweis auf die Haft des Angeklagten um dringende Erledigung ersuchte (ON 192). Bei sämtlichen Verfügungen unterließ der Vorsitzende das Setzen eines Kalenders. Zur Entscheidung über die erste Grundrechtsbeschwerde vom 30. Mai 2007 mittelte das Institut für Schallforschung die Akten, allerdings unter Rückbehalt von Kopien der erforderlichen Aktenteile, an das Erstgericht zurück.

3.2. Der Oberste Gerichtshof sprach in der Folge mit Erkenntnis vom 21. Juni 2007 zu AZ 15 Os 69/07x aus, dass Loms M***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde, hob den angefochtenen Beschluss aber nicht auf (§ 7 Abs 1 GRBG). In der vorliegenden Haftsache könne, wie der Oberste Gerichtshof aussprach, angesichts der beschriebenen Vorgangsweise keine Rede davon sein, dass das Gericht alles ihm Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen hätte; vielmehr liege eine durchaus ins Gewicht fallende Säumigkeit in einer Haftsache vor. In seiner Begründung wies der Oberste Gerichtshof das Erstgericht unter anderem ausdrücklich auf die Bestimmung des § 115 StPO aF hin, wonach beim Erstgericht zur Vermeidung von Verzögerungen ein Kopienakt anzulegen ist.

4. Der weitere, der nunmehrigen Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten zu Grunde liegende Verfahrensverlauf ergibt sich aus den Akten wie folgt:

4.1. Das genannte Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs langte am 18. Juli 2007 beim Erstgericht ein (ON 197) und der Vorsitzende verfügte am darauf folgenden Tag dessen Zustellung an den Verteidiger sowie die neuerliche Übermittlung der Akten an das Institut für Schallforschung. Dies ohne Kalendierung und - trotz diesbezüglichen Hinweises in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs - abermals ohne die Anfertigung von Aktenkopien zu veranlassen (ON 198).

4.2. Am 21. November 2007 veranlasste der Vorsitzende infolge Ersuchens des Instituts für Schallforschung die Vorführung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft zum Zweck der Befundaufnahme am 5. Dezember 2007, erstmals unter erkennbarer Kalendierung des Akts mit 1. März 2008 (ON 199). Am 3. Dezember langte beim Erstgericht ein „Ergebnis der Voranalyse/Zwischenbericht" des Instituts ein, demzufolge zehn der 26 Telefongespräche von einem Dolmetscher satzsegmentiert und transkribiert werden mussten. Von 26 aufgezeichneten Gesprächen seien lediglich drei von ausreichender Qualität. Weiters könne mit der Erstellung eines Gutachtens in ca zwei bis drei Monaten nach Herstellung der Stimmvergleichsaufnahme gerechnet werden.

Rechtliche Beurteilung

5. Auch die nunmehrige Grundrechtsbeschwerde ist im Recht.

5.1. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft prüft der Oberste Gerichtshof in zwei Schritten, ob angesichts der vom Oberlandesgericht in der Beschwerdeentscheidung angeführten Tatsachen der von diesem gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war und - zusätzlich nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung (vgl Ratz, ÖJZ 2005, 419) auch - ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 177 Abs 1 erster Satz StPO). Eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen ist demnach auch ohne Verletzung des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO grundrechtswidrig im Sinne einer Verletzung des § 177 Abs 1 erster Satz StPO.

5.2. Dass, wie sich aus den Akten ergibt, seit 24. April 2007 keine neue Hauptverhandlung mehr stattfand, stellt zwar für sich allein keine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen dar, weil die Einholung des schalltechnischen Gutachtens die einzige noch ausständige Beweisaufnahme ist. Die Umstände, die erst geraume Zeit nach Antragstellung zu einem Gutachtensauftrag führten, waren wie erwähnt bereits Gegenstand der früheren Grundrechtsbeschwerde.

Eine Anfrage des Beschwerdegerichts beim Institut für Schallforschung ergab, dass die besonderen Schwierigkeiten im konkreten Fall auf die notwendigen und umfangreichen Transkriptionsarbeiten im Vorfeld der eigentlichen Stimmanalyse zurückzuführen sind. Das Institut verfügt aber über genügend Mitarbeiter, um in angemessener Frist Stimmanalysen vorzunehmen und Gutachten zu erstatten.

5.3. Der Vorsitzende hat trotz einer Haftdauer von bereits mehr als neun Monaten im Zeitpunkt der Erteilung des Gutachtensauftrags weder eine Kalendierung des Akts zwecks Überwachung der Tätigkeit des Gutachters vorgenommen noch irgendwelche Schritte zur besonderen Beschleunigung des ohnehin schon verzögert in Auftrag gegebenen Gutachtens gesetzt. Weder Nachfragen noch Urgenzen durch das Erstgericht sind dem Akt zu entnehmen. Die Arbeit eines Sachverständigen in einem Gerichtsverfahren ist aber vom Richter zu überwachen, der für die Vorbereitung und für die Durchführung des Verfahrens verantwortlich bleibt (EGMR, 8. 7. 2004, Wohlmeyer Bau GmbH gg Österreich, Z 52).

5.4. Der Vorsitzende hat nach Einlangen des Enthaftungsantrags am Montag, den 17. Dezember 2007, am selben Tag die Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft verfügt; diese retournierte die Akten am 19. Dezember 2007 nach Einsichtnahme unter ablehnender Stellungnahme. Am 20. Dezember beraumte der Vorsitzende die Haftverhandlung erst für Freitag, den 4. Jänner 2008 an (ON 203 ff).

5.5. Der vom Beschwerdeführer relevierte Zeitpunkt des Rücklangens der Akten vom Institut für Schallforschung, wo sie sich ohne vorherige Anfertigung von Aktenkopien (s aber § 115 StPO aF, nunmehr § 88 Abs 3 StPO, wonach beim Erstgericht zur Vermeidung von Verzögerungen ein Kopienakt anzulegen ist) seit 19. Juli 2007 befanden, geht aus dem Akt nicht hervor, ist aber im gegebenen Zusammenhang nicht von Bedeutung. Letztendlich wurde am 14. Februar 2008 - nach einer Verfahrens- und Haftdauer von mehr als eineinhalb Jahren, mehreren Rechtsmitteln und einem Gutachtensauftrag - durch einen Vertretungsrichter die Anfertigung eines Kopienaktes verfügt (ON 219).

Aus diesen Gründen kann keine Rede davon sein, dass das Gericht alles ihm Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen hat (vgl 15 Os 24/07d); vielmehr liegt erneut eine durchaus ins Gewicht fallende Säumigkeit in einer Haftsache vor (§ 9 Abs 2 iVm § 177 Abs 1 StPO).

6. Die Säumigkeit machte jedoch im gegebenen Fall keine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erforderlich (§ 7 Abs 1 GRBG).

Entgegen der im Enthaftungsantrag vom 13. Dezember 2007 vertretenen Ansicht des Angeklagten ist bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung ohne Bedeutung, ob der Verurteilte bedingt entlassen werden wird (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 Rz 14 mwN).

Zwar ist seit Inkrafttreten der SMG-Novelle (BGBl I 110/2007) mit 1. Jänner 2008 die Rechtslage für den Angeklagten günstiger als die frühere: Die Anlastung der Qualifikation der Gewerbsmäßigkeit hat nunmehr eine Vorstrafe nach § 28a Abs 1 SMG oder § 28 Abs 2 SMG aF zur Voraussetzung (§ 28a Abs 2 Z 1 SMG); doch droht dem Angeklagten auch nach der neuen Rechtslage eine Freiheitsstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

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