OGH 15Os171/08y

OGH15Os171/08y14.10.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Oktober 2009 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek, Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Dr. Walcher als Schriftführerin in der Strafsache des Privatanklägers Gunnar P***** gegen Michael G***** wegen des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und Abs 2 StGB, AZ 093 Hv 21/07z des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Gründe:

In der Strafsache des Privatanklägers Gunnar P***** gegen Michael G*****, AZ 093 Hv 21/07z des Landesgerichts für Strafsachen Wien, wurde - soweit vorliegend von Bedeutung - der Angeklagte Michael G***** mit Urteil dieses Gerichts vom 19. September 2007 (ON 18) des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und Abs 2 StGB schuldig erkannt und nach § 111 Abs 2 StGB zu einer zum Teil bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt.

Nach dem Inhalt des Schuldspruchs hat Michael G***** am 1. Jänner 2007 in Wien durch die auf der Internet‑Website www.***** verbreiteten Behauptungen „Die gute Meldung zum Jahresbeginn: Liese P*****, Bundesministerin für Folter und Deportation, ist tot.", sowie „Frau P***** war eine Schreibtischtäterin, wie es viele gab in der grausamen Geschichte dieses Landes: völlig abgestumpft, gleichgültig gegen die Folgen ihrer Gesetze und Erlässe, ein willfähriges Werkzeug einer rassistisch verseuchten Beamtenschaft. Kein anständiger Mensch weint ihr eine Träne nach.", die am 31. Dezember 2006 verstorbene Bundesministerin für Inneres Liese P***** in einem Medium einer verächtlichen Gesinnung geziehen bzw eines unehrenhaften Verhaltens beschuldigt.

Der gegen dieses Urteil (soweit hier von Interesse) erhobenen Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit sowie der Aussprüche über die Schuld und die Strafe gab das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 7. Mai 2008, AZ 17 Bs 44/08g (ON 30 des Hv‑Aktes) nicht Folge.

Gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht richtet sich, gestützt auf die Behauptung einer Verletzung in den Grundrechten auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 MRK und auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 sowie Art 6 Abs 3 lit b MRK und eines „Verstoßes gegen das Anklageprinzip nach Art 90 Abs 2 B‑VG", der Antrag des Verurteilten Michael G***** auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO per analogiam (RIS‑Justiz RS0122228) iVm § 41 Abs 1 MedienG.

Dem Antrag kommt keine Berechtigung zu.

Rechtliche Beurteilung

1./ Zur behaupteten Verletzung im Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 MRK:

Nach gesicherter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gewährt Art 10 MRK dem kritischen Werturteil - zumal in der politischen Auseinandersetzung - eine sehr weitreichende verfassungsrechtliche Privilegierung, räumt aber keineswegs eine schrankenlose Meinungs- und Kritikfreiheit ein (vgl Art 10 Abs 2 erster Halbsatz MRK). Denn auch gegenüber Politikern sind (Un‑)Werturteile ohne (einzelfallbezogen) hinreichendes Tatsachensubstrat oder Wertungsexzesse vom Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht gedeckt (Grabenwarter, EMRK³ § 23 Rz 26 f; statt mehrerer: EGMR 2. 11. 2006, Standard Verlags GmbH und Krawagna‑Pfeifer gegen Österreich, Newsletter Menschenrechte 2006/6, 291; EGMR 12. 7. 2001, Feldek gegen Slowakei, ÖJZ 2002/34 [MRK]; EGMR 22. 10. 2007, Lindon ua gegen Frankreich, MR 2007, 419 [422]). Solcherart ist der Persönlichkeitsschutz von Politikern zwar insofern eingeschränkt, als die Grenzen der zulässigen Kritik bei ihnen weiter gezogen sind als bei Privatpersonen (für viele: EGMR 1. 7. 1997 Oberschlick gegen Österreich; Grabenwarter, EMRK³ § 23 Rz 27 mwN zur Judikatur des EGMR), die Grenze aber dort zu ziehen ist, wo unabhängig von den zur Debatte gestellten rein politischen Verhaltensweisen persönlich unehrenhaftes Verhalten vorgeworfen wird und bei Abwägung der Interessen ein nicht mehr vertretbarer Wertungsexzess vorliegt (RIS‑Justiz RS0082182). Damit findet auch die Zulässigkeit politischer Kritik, die durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung weithin privilegiert ist, ihre Grenze im (durch entsprechendes Tatsachensubstrat nicht gedeckten) Vorwurf einer vorsätzlichen strafbaren Handlung (RIS‑Justiz RS0075554). Auch in einer heftigen politischen Auseinandersetzung vorgebrachte Äußerungen haben daher, gemessen am Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 MRK, stets einem Minimum an Mäßigung und Anstand zu entsprechen, insbesondere weil auch das Ansehen eines umstrittenen Politikers den von der MRK gewährleisteten Schutz genießt (neuerlich EGMR, Lindon ua gegen Frankreich, MR 2007, 419 [423]; durch die Gleichstellung eines selbst kontroversiell zu beurteilenden Politikers [nämlich des Vorsitzenden des französischen Front National Jean‑Marie Le Pen] mit dem „Chef einer Mörderbande" sowie die Behauptung, dass „ein Mord von diesem befürwortet" wird, werden die zulässigen Grenzen der durch das in Rede stehende Grundrecht geschützten Meinungsäußerungsfreiheit jedenfalls überschritten).

Bei Anwendung dieser Beurteilungsgrundsätze ergibt sich, dass die hier befasst gewesenen Gerichte eine Deckung der inkriminierten Textstellen durch das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit zu Recht verneint haben. Denn nach den - mängelfreien und daher hier zu Grunde zu legenden (vgl RIS‑Justiz RS0110146 zu § 10 GRBG) ‑ Urteilsfeststellungen zum Bedeutungsinhalt der inkriminierten Äußerungen wurde damit dem Medienkonsumenten der Eindruck vermittelt, die Bundesministerin für Inneres Liese P***** habe Folter und Deportation von Schubhäftlingen tatsächlich angeordnet bzw toleriert und ihre politische Funktion in unvergleichlich verwerflicher und verabscheuenswürdiger Art und Weise aus rassistischen, ausländerfeindlichen und sadistischen Motiven (mit Affinität zu nationalsozialistischem Gedankengut) ausgeübt, wodurch sie als „beispiellose Verbrecherin" dargestellt wurde (S 9 f und 19 des Ersturteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19. September 2007). Dieser - ohnehin zu Gunsten des Angeklagten als Werturteil und nicht als Tatsachenbehauptung beurteilte - Vorwurf eines massiven gerichtlich strafbaren Verhaltens entbehrt indes jeglichen Tatsachensubstrats (vgl S 6 f und 19 f des zuvor genannten Urteils). Indem der Erneuerungswerber - in Verkennung des zuvor dargestellten Erfordernisses einer (hinreichenden) Sachverhaltsbasis für ein Werturteil - mit eigenständigen und spekulativen Erwägungen zu einer vom Antragsteller bloß geäußerten politischen Kritik und politischen Bewertung der Amtstätigkeit der Bundesministerin die dazu konträren, zuvor bezeichneten Urteilsfeststellungen zum Bedeutungsinhalt der inkriminierten Textstellen in Frage stellt, verfehlt er den Bezugspunkt des geltend gemachten Rechtsbehelfs (vgl neuerlich RIS‑Justiz RS0110146 zu § 10 GRBG).

Nicht verkennend, dass die Frage der staatlichen Migrations- und Flüchtlingspolitik ein Thema von besonderem öffentlichen Interesse ist, haben die mit dem Verfahren befassten Gerichte zutreffend beurteilt, dass die Äußerungen des Antragstellers keinerlei Beitrag zur öffentlichen Debatte leisteten, weil sie - bar jeder Sachlichkeit - primär auf eine Diffamierung der Person der Verstorbenen abzielten. Auch wenn Kritik verletzen, schockieren oder verstören darf (EGMR 7. 12. 1976, Handyside gegen Vereinigtes Königreich) und dem Vertreter einerNGO auch ein gewisses Maß an Provokation zuzubilligen ist, gaben die vom Kontext einer politischen Diskussion losgelösten und die in Abs 2 des Art 10 MRK angesprochenen Pflichten und Verantwortungen („duties and responsibilities") gänzlich negierenden (zudem durch unangemessene Vergleiche das NS‑Unrecht nivellierenden) Textstellen den Gerichten maßgebende und ausreichende Gründe für die in der Verurteilung des Antragstellers gelegene Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Auch die gefundene Sanktion erweist sich mit Blick auf die in der unmittelbaren zeitlichen Nähe zum Tod der Angegriffenen gelegene besondere Pietätlosigkeit als moderat (vgl auch EGMR 2. 10. 2008, Leroy gegen Frankreich, newsletter 2008, 273).

Die teils polemische und eines juristischen Gehalts entbehrende Kritik an den Rechtsausführungen des Berufungsgerichts entzieht sich einer sachbezogenen Erwiderung.

Wenn der Erneuerungswerber mit der Kritik an der „Zulassung" der Privatanklage durch die Gerichte die Klagslegitimation des Privatanklägers in Frage stellt, verkennt er die eben eine solche begründende Bestimmung des § 117 Abs 5 StGB, die solcherart - dem Einwand eines in der Zulassung der Privatanklage gelegenen „Verstoßes gegen Art 10 MRK" zuwider - einen gesetzlichen Eingriffstatbestand (Art 10 Abs 2 MRK) darstellt (s auch bei 3./).

2./ Zur behaupteten Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b MRK):

Für einen - wie hier vorliegenden - nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich solcherart um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten demgemäß alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß. Damit ist (auch) die Ausschöpfung des Instanzenzugs (Art 35 Abs 1 MRK) ein Zulässigkeitskriterium für den in Rede stehenden Erneuerungsantrag. Diesem Erfordernis wird indes nur dann entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und (horizontale Erschöpfung) die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (RIS‑Justiz RS0122737 [T2 und T13]; Grabenwarter aaO § 13 Rz 23 und 31).

Vorliegend behauptet der Erneuerungswerber eine Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren, weil im Hinblick auf die Zustellung der Ladung zum für den 7. Mai 2008 anberaumten Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung erst am 5. Mai 2008 in dem in Anbetracht der Frist des § 73 StPO aF verbleibenden Zeitraum von „nur rund 24 Stunden" die Geltendmachung der behaupteten Befangenheit des Senatspräsidenten des Berufungsgerichts, „nicht möglich" gewesen (Art 6 Abs 1 MRK) und dem Angeklagten solcherart auch die dreitägige Vorbereitungsfrist (§ 471 Abs 2 StPO aF) nicht offen gestanden sei (Art 6 Abs 3 lit b MRK).

Wodurch der Erneuerungswerber aber an der - an keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen geknüpften - Geltendmachung der behaupteten Befangenheit des Senatspräsidenten mittels Ablehnungsantrags (§ 73 StPO aF) gehindert gewesen wäre, macht er nicht plausibel, sodass in Anbetracht der unterbliebenen Antragstellung auf Ablehnung des Senatspräsidenten wegen Befangenheit mit Blick auf die behauptete Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK der Instanzenzug nicht erschöpft ist. Dies trifft im Hinblick auf die - vom Erneuerungswerber gar nicht in Frage gestellte - Möglichkeit eines - hier aber gar nicht gestellten - Antrags auf Vertagung der Berufungsverhandlung zur Vorbereitung derselben auch auf den behaupteten Verstoß gegen Art 6 Abs 3 lit b MRK zu.

3./ Zum behaupteten „Verstoß gegen das Anklageprinzip":

Mit der Behauptung eines im vorliegenden Einschreiten des Privatanklägers anstatt des öffentlichen Anklägers gelegenen Verstoßes gegen das Anklageprinzip verkennt der Erneuerungswerber, dass Art 90 Abs 2 B‑VG, wonach im Strafverfahren der Anklageprozess gilt, keine Regelung einer Zuständigkeitsverteilung zwischen Privatankläger und öffentlichem Ankläger enthält, sondern dies vielmehr der einfachen Gesetzgebung überlässt (vgl § 4 Abs 1 StPO; konkret von Bedeutung § 117 Abs 5 StGB). Nach der vorliegend interessierenden - bis 31. Dezember 2009 in Kraft stehenden (BGBl I 2009/98) - Bestimmung des § 117 Abs 5 StGB sind, wenn sich eine der in den §§ 111, 113 und 115 StGB mit Strafe bedrohten Handlungen gegen die Ehre eines Verstorbenen oder Verschollenen richtet, sein Ehegatte, seine Verwandten in gerader Linie und seine Geschwister berechtigt, die Verfolgung zu verlangen. Der nicht am aktuellen Gesetzestext orientierten Rechtsansicht des Erneuerungswerbers zuwider sind bei Ehrverletzungen gegenüber Verstorbenen die genannten Personen daher - ausschließlich und originär - zur Erhebung der Privatanklage ungeachtet einer früheren Beamteneigenschaft des Verstorbenen berechtigt.

Zu einer Antragstellung nach Art 89 Abs 2 B‑VG sah sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst. Eine Verfassungswidrigkeit des § 117 Abs 5 StGB vermögen im Übrigen die rechtspolitischen und -historischen Ausführungen des Beschwerdeführers nicht aufzuzeigen.

Der Antrag war daher - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hierzu erstatteten Äußerung des Antragstellers - als offenbar unbegründet zurückzuweisen. Einer mündlichen Verhandlung bedurfte es - entgegen dem in der Äußerung gestellten Antrag - nicht, weil die Voraussetzungen des § 363b Abs 2 Z 3 StPO gegeben waren und die Notwendigkeit eines mündlichen Austauschs der - schriftlich bereits vorliegenden - rechtlichen Argumente nicht ersichtlich ist.

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