OGH 14Os71/12s

OGH14Os71/12s16.10.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Oktober 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Haberreiter als Schriftführerin in der Strafsache gegen Mehmet A***** wegen des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 17. Februar 2012, GZ 38 Hv 77/10b-44, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Mehmet A***** - abweichend von der auf das Verbrechen der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB gerichteten Anklage - der Vergehen der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 iVm § 81 Abs 1 Z 1 und Z 2 StGB (1) und der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 3 StGB (2) schuldig erkannt.

Danach hat er am 19. September 2010 in B*****, nachdem er sich vor der Tat durch den Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand versetzt hatte, obwohl er vorhergesehen hatte oder hätte vorhersehen können, dass ihm das Lenken eines Kraftfahrzeugs, mithin eine Tätigkeit bevorstehe, deren Vornahme in diesem Zustand ein entsprechendes Gefährdungspotenzial aufweist (§ 81 Abs 1 Z 2 StGB), als Lenker des PKW M***** mit dem polizeilichen Kennzeichen W*****, dadurch, dass er sein zunächst in Fahrtrichtung St. Pölten gelenktes Fahrzeug auf der A21 (Außenringautobahn) im Bereich des Straßenkilometers 35,8 wendete und sodann mit einer Geschwindigkeit von etwa 70 bis 80 km/h am ersten Fahrstreifen als „Geisterfahrer“ in Richtung der zuvor von ihm verpassten Ausfahrt B***** auf der Richtungsfahrbahn St. Pölten in Richtung Wien zurückfuhr, sodann mit dem von Daniel F***** gelenkten PKW V***** mit dem polizeilichen Kennzeichen C***** kollidierte und den Lenker eines weiteren entgegenkommenden Fahrzeugs, Alexandru-Ionut R*****, zur Abwehr eines Zusammenstoßes zu einer Notbremsung und einem Ausweichmanöver veranlasste, unter besonders gefährlichen Verhältnissen (§ 81 Abs 1 Z 1 StGB) fahrlässig

(1) eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit von Alexandru-Ionut R***** und Nicolae V*****, der sich im von Daniel F***** gelenkten Fahrzeug befand, herbeigeführt, und

(2) die weiteren Insassen dieses PKW Daniela F*****, Daniel F***** und Carlote V***** leicht am Körper verletzt.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen aus Z 3, 4 und 5 des § 281 Abs 1 StPO zum Nachteil des Angeklagten erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, die auf eine Verurteilung wegen des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB, in eventu wegen „§§ 15, 176 Abs 1, i.e. § 177 Abs 1 StGB“ abzielt, geht fehl.

Die Verfahrenrüge (Z 3) moniert als Verletzung der Bestimmungen über das Verlesungsverbot (§ 252 Abs 1 StPO) den in der Hauptverhandlung am 17. Februar 2012 erfolgten Vortrag des wesentlichen Inhalts der Protokolle über die Vernehmung der Zeugen Alexandru-Ionut R*****, Daniel F*****, Daniela F*****, Nicolae V***** und Carlote V***** vor der Kriminalpolizei (ON 43 S 21). Sie scheitert schon an der Nichterfüllung der - für die Geltendmachung eines Verfahrensmangels zum Nachteil des Angeklagten erforderlichen - dreifachen Rügeobliegenheit (§ 281 Abs 3 StPO; vgl dazu Ratz, WK-StPO § 281 Rz 735 f). Nach dem - nicht bestrittenen - Inhalt des Protokolls über die Hauptverhandlung hat die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft nämlich bloß bekundet, auf die Vernehmung der „beantragten Zeugen“ nicht zu verzichten und auch mit einer Verlesung „nicht einverstanden“ zu sein (ON 43 S 20 f), womit sie sich dem Vorgang weder ausreichend widersetzt (vgl zu den inhaltlichen Anforderungen an den - insoweit vergleichbaren - von § 281 Abs 1 Z 2 StPO verlangten Widerspruch: Ratz, WK-StPO § 281 Rz 191), noch eine diesbezügliche Entscheidung des Schöffengerichts begehrt hat. Ihre Erklärung, sich die Nichtigkeitsbeschwerde vorzubehalten (ON 43 S 21), bezog sich denn auch bloß auf die Abweisung des - gar nicht prozessordnungsgemäß gestellten (vgl dazu gleich unten) - Antrags auf neuerliche Ladung und Vernehmung der genannten Zeugen.

Im Übrigen trifft es zwar zu, dass die Verlesungsvoraussetzungen des § 252 Abs 1 Z 1 und 4 StPO aus den in der Beschwerde genannten Gründen nicht vorlagen (vgl RIS-Justiz RS0108361 [T5, T6, T10]).

Ein die Anklage beeinträchtigender Einfluss der Formverletzung auf die Entscheidung ist jedoch - aus der dabei relevanten Sicht des Obersten Gerichtshofs (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 740) - nicht erkennbar (§ 281 Abs 3 StPO). Es mag zwar richtig sein, dass die Genannten als Tatzeugen in der Lage gewesen wären, über Wahrnehmungen zu - für die Prüfung der Subsumierbarkeit des Täterverhaltens unter „§ 176 f StGB“ „unabdingbaren“ - Umständen, wie zum Verkehrsaufkommen und zur Anzahl der zur Tatzeit im räumlichen Gefahrenbereich befindlichen Personen, zu berichten. Wie die Beschwerde einräumt, fand aber eine entsprechende Befragung anlässlich ihrer kriminalpolizeilichen Vernehmung gar nicht statt. Auf die verlesenen Aussagen, die demnach zu den angesprochenen Themenkreisen keine Angaben enthielten, wurden die kritisierten Negativfeststellungen denn auch nicht gestützt (US 6; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 59, 734 ff, 742 f).

Der Verfahrensrüge (Z 4) kommt - ungeachtet des darüber ergangenen abweislichen Zwischenerkenntnisses (ON 43 S 21; vgl RIS-Justiz RS0099511 [T9]) - zufolge Unterlassung eines den Anforderungen des § 55 StPO entsprechenden Begehrens, die in Rede stehenden Zeugen zu vernehmen, keine Berechtigung zu. Die oben zitierte Erklärung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft (ON 43 S 20 f) ist auch einer entsprechenden Antragstellung im Sinn des § 238 StPO nicht gleichzuhalten (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 313). In der Begründung der - in der Hauptverhandlung vorgetragenen (ON 43 S 1) - Anklageschrift wurde eine entsprechende Beweisaufnahme hinwieder ohne Nennung von Beweisthema oder Relevanz desselben für die Schuld- oder die Subsumtionsfrage bloß unsubstantiiert begehrt (ON 4 S 2; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 321, 327; RIS-Justiz RS0099498, RS0099301, RS0099132). Ergänzungen im Rahmen der Beschwerde unterliegen dem - sich aus dem Wesen des Nichtigkeitsgrundes der Z 4 ergebenden - Neuerungsverbot und sind daher unbeachtlich.

Den Einwänden undeutlicher (Z 5 erster Fall) und widersprüchlicher (Z 5 dritter Fall) Feststellungen zuwider bringen die Urteilsannahmen unmissverständlich zum Ausdruck, dass durch das Verhalten des Angeklagten keine konkrete Gefahr für eine größere Zahl von Menschen oder für fremdes Eigentum in großem Ausmaß herbeigeführt wurde (US 5). Dass nach den weiteren Konstatierungen sowie den Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung die konkrete Anzahl der den räumlichen Gefahrenbereich passierenden Fahrzeuge und deren Insassen nicht festgestellt werden konnte, und auch nicht nachweisbar war, ob es sich um mehr als zehn Personen handelte (US 5, 11 und 15 f), begründet - dem Beschwerdestandpunkt zuwider - keinen gegen Denkgesetze verstoßenden Widerspruch (vgl § 14 StPO; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 439).

Ebensowenig stehen die - isoliert und aus dem Zusammenhang gerissen zitierte - Aussage des Zeugen Walter Fa***** (ON 43 S 11), wonach bei der Unfallstelle „ein Verkehrsknoten ist“, und die Angaben des Zeugen Alexander T***** zum dortigen Verkehrsaufkommen eine halbe Stunde nach dem verfahrensgegegenständlichen Vorfall (ON 43 S 17), in erörterungsbedürftigem Widerspruch (Z 5 zweiter Fall) zu der bekämpften Feststellung.

Offenbar unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall) wird in diesem Zusammenhang ohne inhaltliche Argumentation bloß behauptet, die - Gesetzen logischen Denkens und den grundlegenden Erfahrungssätzen entsprechenden - Erwägungen der Tatrichter werden prozessordnungswidrig übergangen (US 6; für viele: RIS-Justiz RS0119370).

Die Ableitung der Urteilsannahmen zur Geschwindigkeit, mit der der Angeklagte sein Fahrzeug gegen die Fahrtrichtung lenkte (etwa 70 bis 80 km/h; US 3), aus den polizeilichen Erhebungen (US 5) erfolgte aktenkonform (ON 2 S 5, 21). Die in einem Klammerzitat enthaltene ungenaue - weil nur auf die (im selben Satz vorgenommene) Begründung für die Feststellung des konkreten Wendepunkts zutreffende - Angabe der Fundstelle in den Akten (US 5 iVm ON 2 S 11), bewirkt - dem Beschwerdeeinwand zuwider - Nichtigkeit im Sinn der Z 5 fünfter Fall nicht (vgl dazu RIS-Justiz RS0099431; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 467).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d StPO).

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