OGH 13Os79/23a

OGH13Os79/23a18.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Oktober 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Maringer in der Strafsache gegen * M* und einen Angeklagten wegen Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten * M* und * V* sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 16. März 2023, GZ 50 Hv 2/23k-191, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, der Angeklagten * M* und * V*, des Verteidigers Mag. Isbetcherian sowie der Dolmetscherin Anabela Kukla zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00079.23A.1018.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerden wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der Subsumtion der von den Schuldsprüchen 1 umfassten Taten nach § 106 Abs 3 StGB, demzufolge auch in den Strafaussprüchen (einschließlich der Vorhaftanrechnung), aufgehoben und es wird in diesem Umfang in der Sache selbst erkannt:

Für die ihnen nach dem Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 16. März 2023 (ON 191) weiterhin zur Last liegenden Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB und der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB sowie Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB werden unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB und des § 39a Abs 2 Z 4 StGB iVm § 39a Abs 1 Z 4 und 5 StGB

* M* gemäß § 31 Abs 1 und 2 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil des Amtsgerichts Tettnang vom 9. Juni 2022, AZ 4 Cs 36 Js 12297/22 93 VRs, zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von sechs Jahren und

* V* zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

Gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB wird die von * M* vom 30. Juni 2022, 08:10 Uhr, bis zum 2. März 2023, 00:00 Uhr, und vom 8. März 2023, 01:00 Uhr, bis zum 16. März 2023, 15:14 Uhr, sowie die von * V* vom 30. Juni 2022, 08:10 Uhr, bis zum 16. März 2023, 15:14 Uhr, erlittene Vorhaft auf die verhängten Strafen angerechnet.

 

Mit ihrer Sanktionsrüge wird die Angeklagte * M* auf die Strafaufhebung verwiesen.

Im Übrigen werden die Nichtigkeitsbeschwerden verworfen.

Mit ihren Berufungen gegen den Ausspruch über die Strafe werden die Angeklagten ebenso auf die Strafneubemessung verwiesen wie die Staatsanwaltschaft.

Den Berufungen gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche wird nicht Folge gegeben.

Den Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurden * M* und * V* jeweils eines Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 3 dritter Fall StGB (1), mehrerer Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB (2 und 3) und eines Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB (4) schuldig erkannt.

[2] Danach haben sie am 19. März 2022 in W* im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 erster Fall StGB)

1) * W* und * B* unter Anwendung schwerer Gewalt zu einer Handlung, nämlich der Herausgabe von vermeintlich vorhandenen Videoaufzeichnungen, zu nötigen versucht, indem * V* auf die beiden mehrfach mit einem Brecheisen einschlug, wobei * M* die Herausgabe der Aufzeichnungen forderte, * V* aufforderte, auf die beiden weiter einzuschlagen, sowie * W* selbst packte und dessen Kopf an den Haaren hochzog (US 6),

2) und 3) durch die zu 1 beschriebenen Tathandlungen anderen eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) absichtlich zugefügt, und zwar jeweils verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, * W* mehrere Rissquetschwunden am Kopf, eine Nasenbeinfraktur sowie eine an sich schwere Verletzung, nämlich eine Stichverletzung am linken Knie mit eröffnetem Gelenk, sowie * B* Prellungen an beiden Knien und eine etwa 1,5 cm tiefe Stichverletzung am linken Oberarm, weiters

4) * W* und * B* dadurch geschädigt, dass sie in deren Eigentum stehende Wertgegenstände, nämlich zwei Mobiltelefone, einen Laptop und ein Tablet teilweise auf der Autobahn, teilweise an einem unbekannten Ort entsorgten und solcherart dauernd aus deren Gewahrsam entzogen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richten sich die auf Z 5, 5a, 9 lit a, 10 und 11 des § 281 Abs 1 StPO gestützten, gemeinsam ausgeführten Nichtigkeitsbeschwerden der Angeklagten.

[4] Aus deren Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem angefochtenen Urteil nicht geltend gemachte Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 10 StPO anhaftet, die den Angeklagten zum Nachteil gereicht und daher von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):

Nach § 106 Abs 3 StGB ist nach dem höheren Strafsatz des Abs 2 zu bestrafen, wer eine Nötigung zur Prostitution oder zur Mitwirkung an einer pornographischen Darstellung gegen eine unmündige Person, im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, unter Anwendung schwerer Gewalt oder so begeht, dass durch die Tat das Leben der Person vorsätzlich oder grob fahrlässig (§ 6 Abs 3 StGB) gefährdet wird oder die Tat einen besonders schweren Nachteil für die Person zur Folge hat.

[5] Grundvoraussetzung für die Anwendung des Strafsatzes des § 106 Abs 3 StGB ist somit, dass der Täter sein Opfer vorsätzlich mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zur Prostitution oder zur Mitwirkung an einer pornographischen Darbietung veranlasst (Schwaighofer in WK2 StGB § 106 Rz 21; Fabrizy/Michel-Kwapinsky/Oshidari, StGB14 § 106 Rz 7, Kienapfel/Schroll, StudB BT15 § 106 Rz 11; siehe dazu auch das in den Materialien zum Strafrechtsänderungsgesetz 2004 angeführte Ziel, die Reform des Sexualstrafrechts fortzuführen und dem Recht des Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung Rechnung zu tragen [EBRV 294 BlgNR 22. GP  1 und 4]).

[6] Konstatierungen zum angesprochenen Tatbestandselement enthält das Urteil nicht, womit der Urteilssachverhalt die Subsumtion nach § 106 Abs 3 StGB nicht trägt.

[7] Dieser (von keiner der Beschwerden aufgegriffene) Rechtsfehler stellt per se keinen Nachteil für die Angeklagten im Sinn des § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO dar, wohl aber – unter dem Aspekt des § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO – die durch ihn bedingte Annahme eines (zusätzlichen) Erschwerungsgrundes (US 18). Wenngleich das Oberlandesgericht bei der Entscheidung über die Berufungen durch den Hinweis auf den Subsumtionsfehler insoweit von der Bindungsanordnung des § 295 Abs 1 erster Satz StPO entbunden wäre (zum Ganzen eingehend mwN Ratz, WK‑StPO § 290 Rz 22 f und 27/1), sah sich der Oberste Gerichtshof mit Blick auf eine weitere – von der Beschwerde der * M* zu Recht aufgezeigte – Nichtigkeit des Sanktionsausspruchs infolge rechtsirrigen Unterlassens einer Bedachtnahme (§ 31 StGB) aus prozessökonomischen Gründen veranlasst, das angefochtene Urteil wie aus dem Spruch ersichtlich aufzuheben (§ 288 Abs 2 Z 3 StPO iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO).

[8] Ein Eingehen auf die (nur für die Angeklagte * M* ausgeführte) Sanktionsrüge erübrigt sich daher.

 

[9] Im Übrigen waren die Nichtigkeitsbeschwerden zu verwerfen (§ 288 Abs 1 StPO):

[10] Erhebliche Bedenken im Sinn der Z 5a können – soweit hier relevant (Fehler in der Sachverhaltsaufklärung werden nicht behauptet) – nur aus in der Hauptverhandlung Vorgekommenem (§ 258 Abs 1 StPO), nicht aber, wie hier vorgebracht, aus dem (angeblichen) Fehlen von Beweisen abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0128874).

[11] Mit dem Hinweis auf die (vom Erstgericht als unglaubwürdig erachtete [US 8]) Verantwortung der Angeklagten * M* und das (von den Tatrichtern ebenfalls gewürdigte [US 13]) Aussageverhalten der Zeugen * B* und * W* zu Beginn der Ermittlungen weckt die Tatsachenrüge (Z 5a) beim Obersten Gerichtshof keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen.

[12] Nach den Feststellungen des Erstgerichts kam es den Angeklagten, als sie gegen * W* und * B* die im Urteil beschriebene Gewalt anwendeten, sowohl darauf an, diese zur Herausgabe vermeintlich vorhandener Videoaufzeichnungen zu nötigen (US 6 iVm 17), als auch darauf, den beiden Tatopfern eine an sich schwere Körperverletzung verbunden mit einer mehr als 24-tägigen Gesundheitsschädigung zuzufügen (US 6 f).

[13] Warum die im Schuldspruch 1 vorgenommene Subsumtion Feststellungen verlangen sollte, wonach es der Angeklagten M* „einzig und allein darauf ankam, die Videos zu erhalten, damit diese nicht später gegen die EA verwendet werden können bzw. sie damit erpresst werden kann“, leitet die Rechtsrüge (Z 9 lit a, nominell verfehlt auch Z 5) nicht aus dem Gesetz ab (siehe aber RIS-Justiz RS0116565).

[14] Entgegen dem Vorwurf offenbar unzureichender Begründung (nominell Z 10, der Sache nach Z 5 vierter Fall) der Feststellungen zur subjektiven Tatseite zu den Schuldsprüchen 2 und 3 (US 6) ist deren Herleitung aus dem objektiven Tatgeschehen (US 17), also insbesondere aus dem mehrfachen Einsatz eines Brecheisens als Schlagmittel gegen den Körper der Tatopfer (US 5 f), unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit nicht zu beanstanden (RIS-Justiz RS0098671 und RS0116882).

 

[15] Da Feststellungen zur Prostitution oder zur Mitwirkung an einer pornographischen Darbietung als Nötigungsziel – nach der Aktenlage – auch in einem weiteren Rechtsgang nicht zu erwarten sind (RIS‑Justiz RS0118545), konnte der Oberste Gerichtshof in der Sache selbst erkennen, indem er seiner Entscheidung die Tatsachen zugrunde legte, die das Schöffengericht festgestellt hat (§ 288 Abs 2 Z 3 erster Satz StPO iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO).

Zur Strafneubemessung:

[16] * M* weist in Deutschland bisher zwei Vorverurteilungen wegen (teils qualifizierter) Körperverletzungen auf (ON 181 S 4 und 6). Zudem wurde sie mit Urteil des Amtsgerichts Tettnang (Deutschland) vom 9. Juni 2022, AZ 4 Cs 36 Js 12297/22 93 VRs (rechtskräftig seit 29. Juni 2022) wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt (ON 181 S 7). Da ausländische Verurteilungen unter dem Aspekt der Bedachtnahme inländischen gleichstehen (§ 31 Abs 2 StGB) und die gegenständlichen Taten schon in diesem früheren ausländischen Verfahren hätten abgeurteilt werden können, war – wie auch die Generalprokuratur sowie die Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigen und das Erstgericht nachträglich erkannt hat (US 18) – gemäß § 31 Abs 1 StGB auf dieses Urteil Bedacht zu nehmen und die verhängte Sanktion bei der Strafneubemessung im Sinn des § 40 StGB zu berücksichtigen.

[17] Der Angeklagte * V* wurde in Serbien bereits mehrfach wegen Delikten gegen Leib und Leben, unter anderem wegen versuchten Mordes, zu Freiheitsstrafen verurteilt (ON 114 .1.2 iVm ON 209).

[18] Bei der Strafneubemessung war unter Bedachtnahme auf § 28 Abs 1 StGB und – auf der Basis der Feststellungen zum Einsatz einer Waffe und der Tatbegehung in verabredeter Verbindung mit einer weiteren Person (US 5 ff) – unter Anwendung des § 39a Abs 2 Z 4 StGB iVm § 39a Abs 1 Z 4 und 5 StGB bei beiden Angeklagten auf der Basis der Strafdrohung des § 87 Abs 1 StGB von einem Strafrahmen von zwei Jahren bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe auszugehen.

[19] Dabei wertete der Oberste Gerichtshof jeweils das Zusammentreffen von mehreren Verbrechen mit mehreren Vergehen (§ 33 Abs 1 Z 1 StGB), die Vorverurteilungen wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Taten (§ 33 Abs 1 Z 2 StGB) und die jeweils mehrfach qualifiziert schwere Körperverletzung beim Schuldspruch 2 als erschwerend, das teilweise Verbleiben im Versuchsstadium (§ 34 Abs 1 Z 13 StGB) als mildernd.

[20] Da die Angeklagte * M* hinsichtlich sämtlicher Taten die subjektive Tatseite bestritt, lag kein reumütiges Geständnis vor. Zudem trug ihre Aussage – gemessen an der Bedeutung zur Beweisführung – nicht wesentlich zur Wahrheitsfindung bei, sodass ihr der Milderungsgrund nach § 34 Abs 1 Z 17 StGB insgesamt nicht zugutekam.

[21] Im Rahmen der allgemeinen Grundsätze der Strafbemessung (§ 32 Abs 2 und 3 StGB) war bei * M* die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit (RIS‑Justiz RS0090597 und RS0091096 [T1]) aggravierend.

[22] Ausgehend von den dargestellten Erschwerungs- und Milderungsgründen (§ 32 Abs 2 erster Satz StGB) sowie unter Berücksichtigung der nach den Kriterien des § 32 Abs 2 und 3 StGB relevanten Umstände sind auf der Grundlage der Schuld der Angeklagten (§ 32 Abs 1 StGB) die im Spruch genannten Freiheitsstrafen schuldangemessen.

[23] Die Anrechnung der Vorhaftzeiten beruht auf § 38 Abs 1 Z 1 StGB. Über die Anrechnung der nach der Fällung des Urteils erster Instanz in Vorhaft zugebrachten Zeiten (§ 38 StGB) hat gemäß § 400 StPO die Vorsitzende des Erstgerichts mit Beschluss zu entscheiden (RIS-Justiz RS0091624).

 

[24] Mit ihren Berufungen gegen die Strafaussprüche waren die Angeklagten ebenso auf die Strafneubemessung zu verweisen wie die Staatsanwaltschaft.

Zu den Berufungen gegen den Zuspruch an die Privatbeteiligten:

[25] Gemäß § 369 Abs 1 StPO verpflichtete das Erstgericht die Angeklagten zur ungeteilten Hand, binnen 14 Tagen samt 4 % Zinsen ab 17. März 2023 an den Privatbeteiligten * W* 5.000 Euro und an den Privatbeteiligten * B* 2.000 Euro zu bezahlen.

[26] Diese vom Erstgericht in freier Überzeugung (Spenling, WK-StPO § 369 Rz 6 mwN) zuerkannten (Teil-)Schmerzengeldbeträge (§ 1325 ABGB) sind mit Blick auf die erfolglos bekämpften Feststellungen zu den Verletzungsfolgen und die damit verbundenen Schmerzperioden (US 6) angemessen und somit nicht zu beanstanden.

 

[27] Der Kostenausspruch – der die amtswegige Maßnahme nicht umfasst (RIS‑Justiz RS0101558) – beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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