OGH 13Os103/15v

OGH13Os103/15v23.9.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. September 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Wüstner als Schriftführer in der Strafsache gegen Mario S***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 8 U 20/08d des Bezirksgerichts Hermagor, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0130OS00103.15V.0923.000

 

Spruch:

In der Strafsache AZ 8 U 20/08d des Bezirksgerichts Hermagor verletzen

1. die Durchführung der Hauptverhandlung am 22. August 2008 (ON 9) und am 19. Dezember 2008 (ON 13) in Abwesenheit des Angeklagten § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG;

2. der in der Hauptverhandlung am 13. August 2010 (ON 19) erfolgte Vortrag von Aktenstücken § 252 Abs 2a iVm § 447 StPO, in Bezug auf die Protokolle über die polizeilichen Vernehmungen der Zeugen Thomas U*****, Manuela R*****, Birgit Un*****, Thomas M***** und Katrin M***** (ON 2) sowie über die gerichtlichen Vernehmungen der Zeugen Martin U***** und Manuela R***** (ON 9) auch iVm § 252 Abs 1 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Hermagor vom 13. August 2010, GZ 8 U 20/08d-20, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Hermagor verwiesen.

Gründe:

Im Verfahren AZ 8 U 20/08d des Bezirksgerichts Hermagor legte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt dem am 28. Juni 1989 geborenen Mario S***** mit Strafantrag vom 10. Juni 2008, 65 BAZ 171/08k, ein als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 4).

Der für den 22. August 2008 anberaumten Hauptverhandlung blieb der zu diesem Zeitpunkt 19‑jährige Angeklagte fern. Das Bezirksgericht beschloss daraufhin die Durchführung der Hauptverhandlung in dessen Abwesenheit und vernahm zwei Zeugen (ON 9). Nach Vertagung wurde die Hauptverhandlung am 19. Dezember 2008 ‑ ebenfalls in Abwesenheit des Angeklagten ‑ wiederholt und erneut vertagt (ON 13).

Auch zur für den 13. August 2010 anberaumten Hauptverhandlung erschien der zu jenem Zeitpunkt bereits 21‑jährige Angeklagte nicht. In dieser wurden, nach Beschlussfassung, sie in seiner Abwesenheit durchzuführen, die „Anzeige ON 2“ und das Protokoll der Hauptverhandlung vom 22. August 2008 (ON 9) ‑ in welchen Aktenstücken jeweils die Aussagen von Zeugen festgehalten sind ‑ sowie weitere Aktenbestandteile „dargetan“ (ON 19).

Mit dem daraufhin verkündeten ‑ unbekämpft gebliebenen ‑ Abwesenheitsurteil wurde der Angeklagte des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Den Urteilsgründen zufolge stützte das Bezirksgericht seine den Schuldspruch tragenden Feststellungen auf die erwähnten Zeugenaussagen (ON 20 S 3).

Im bezeichneten Verfahren wurde ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt ‑ das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind im Strafverfahren gegen junge Erwachsene die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden. Die Durchführung der Hauptverhandlung am 22. August 2008 (ON 9) und am 19. Dezember 2008 (ON 13) in Abwesenheit des zu diesem Zeitpunkt erst 19‑jährigen Angeklagten war daher nicht zulässig (Schroll in WK2 JGG § 32 Rz 5; RIS-Justiz RS0121343 [T1]).

2. Seit der jeweils vorangegangenen Vertagung der Hauptverhandlung waren am 19. Dezember 2008 und am 13. August 2010 jeweils mehr als zwei Monate verstrichen. Schon mangels eines ‑ aufgrund der Abwesenheit des Angeklagten ausgeschlossenen ‑ Wiederholungsverzichts der Verfahrensparteien war die Hauptverhandlung daher ‑ ohne formelle Beschlussfassung (Danek, WK-StPO § 276a Rz 3) ‑ jeweils neu durchzuführen (§ 276a zweiter Satz StPO). Protokolle über die Aussagen von Zeugen, die nicht in der Hauptverhandlung am 13. August 2010 vernommen wurden (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 230; RIS‑Justiz RS0117403, RS0099049), durften nur unter den Voraussetzungen des § 252 Abs 1 StPO in diese eingeführt werden.

Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung am 13. August 2010 aber konnte kein Einverständnis (im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO) zur Verlesung des Inhalts von Zeugenaussagen abgeleitet werden, die im Protokoll über die Hauptverhandlung vom 22. August 2008 (ON 9) und in den polizeilichen Vernehmungsprotokollen (ON 2) enthalten sind (RIS‑Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103). Da auch keiner der in § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 genannten Fälle vorlag, widersprach diese Verlesung § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO.

Dem Protokoll über die Hauptverhandlung am 13. August 2010 ist ferner ‑ mit Blick auf die Formulierung „dargetan“ (ON 19) ‑ zu entnehmen, dass die dort angeführten Akteninhalte im Sinn des § 252 Abs 2a StPO vom Einzelrichter zusammenfassend vorgetragen wurden (vgl 15 Os 37/13z; 15 Os 56/15x).

Auch die mit dieser Bestimmung normierte Zulässigkeit der Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1, Abs 2 StPO zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts hätte aber die ‑ hier nicht vorliegende (vgl RIS‑Justiz RS0117012 [T2]) ‑ Zustimmung (auch) des Angeklagten erfordert.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Einer förmlichen Aufhebung der auf dem kassierten Urteil beruhenden Anordnungen und Verfügungen bedurfte es nicht (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).

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