OGH 13Ns20/03

OGH13Ns20/0324.9.2003

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. September 2003 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Bauer als Schriftführer, in der Strafsache gegen Karl F***** wegen § 206 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 16 Hv 22/03v des Landesgerichtes Krems a.d. Donau (= 11 Os 114/03 und 11 Os 119/03 des Obersten Gerichtshofes), über die Befangenheitsanzeige des dem Senat 11 des Obersten Gerichtshofes angehörenden Hofrates des Obersten Gerichtshof Dr. S***** in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Eine Befangenheit des Hofrates des Obersten Gerichtshofes Dr. S***** ist nicht gegeben.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes Krems a.d. Donau als Schöffengericht vom 22. Mai 2003, GZ 16 Hv 22/03v-51, wurde Karl F***** unter anderem des Verbrechens des schweren sexuellen Mißbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB verurteilt. Über die gegen dieses Urteil erhobenen Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung des Angeklagten und der Berufung der Staatsanwaltschaft hat der Oberste Gerichtshof zu AZ 11 Os 114/03 zu entscheiden. Mit Beschluss vom 4. August 2003, AZ 21 Bs 218, 228/03, gab das Oberlandesgericht Wien den Beschwerden des Karl F***** gegen die Fortsetzung der über ihn verhängten Untersuchungshaft keine Folge und setzte seinerseits die Untersuchungshaft fort. Über die gegen diesen Beschluss erhobene Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten hat der Oberste Gerichtshof zu AZ 11 Os 119/03 zu entscheiden.

Rechtliche Beurteilung

Dem nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofes dafür zuständigen 11. Senat gehört auch Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. S***** an, der mit dem Hinweis auf seine Mitwirkung an der vom Oberlandesgericht Wien am 12. Februar 2003 getroffenen Entscheidung über die Beschwerde des Karl F***** gegen die Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft in dieser Strafsache (GZ 16 Hv 22/02v-20 des Landesgerichtes Krems a.d. Donau) als damaliger Richter des Oberlandesgerichtes Wien eine mögliche Befangenheit anzeigt. Der Befangenheitsanzeige ist nicht berechtigt.

Ausschließlich dienstliche Tätigkeiten betreffende Gründe, welche Anlass für Zweifel an der vollen Unbefangenheit eines Richters geben könnten, werden grundsätzlich von den Bestimmungen über die Ausgeschlossenheit in den §§ 67 bis 69 StPO erfasst (vgl 13 Ns 27/99). Bei einem Wechsel eines Richters zu einem Rechtsmittelgericht verbietet in diesem Zusammenhang § 69 Z 2 StPO einem Mitglied des Rechtsmittelsenats lediglich die Beteiligung an der Überprüfung einer angefochtenen Entscheidung, an welcher dieser Richter in erster Instanz selbst an der Abstimmung teilgenommen hat.

Die (im Gegensatz zur taxativen in §§ 67 f StPO; vgl EvBl 2001/216) bloß demonstrative Aufzählung der - als Ausnahmebestimmungen restriktiv auszulegenden - Ausschließungsgründe im § 69 StPO (arg "insbesondere") gebietet bei deren analoger Anwendung eine Orientierung an den im § 68 StPO dargestellten Kriterien zur Ausschlusswirkung einer Vorbefassung durch den betroffenen Richter (vgl 14 Ns 9/94; 14 Ns 18/94).

Nach § 68 Abs 1, Abs 2, Abs 3 und Abs 5 StPO ist ein Richter von der Mitwirkung und Entscheidung in der Hauptverhandlung dann ausgeschlossen, wenn er entweder (dem Untersuchungsgrundsatz folgend) als Untersuchungsrichter tätig war oder bei einer Sachentscheidung (Schuld- oder Freispruch; Verfahrensführung ohne Wahrnehmung der möglichen Einstellungsvoraussetzungen nach dem IXa. Hpst der StPO) mitwirkte, die im Rechtsmittel- oder Erneuerungsverfahren zumindest teilweise abgeändert wurde, oder wenn über den Bestand dieser Sachentscheidung im Wiederaufnahme- oder Erneuerungsverfahren zu befinden ist (vgl EvBl 2000/145).

§ 68 Abs 4 StPO erweitert die Ausschlusswirkung bei der Entscheidung über eine Erneuerung des Verfahrens sowie bei der Mitwirkung im anschließend neu durchzuführenden Verfahren auf alle im Grundverfahren zuvor tätig gewordenen Richter, unabhängig von der Art ihrer entfalteten richterlichen Tätigkeit, wobei nach den Gesetzesintentionen eine dem Ausschlussgrund nach § 68 Abs 3 StPO (Vorbefasstheit im Wiederaufnahmeverfahren) analoge Regelung angestrebt worden war (vgl RV 33 BlgNR XX. GP, 66). Eine prozessuale Entscheidung kann jedoch selbst im Fall der Prüfung einer die Schuldfrage tangierenden (in Haftfragen notwendig sogar qualifizierten) Verdachtslage mit einer Entscheidung in der Sache selbst nicht gleichgestellt werden, weil die bloß vorläufige Beurteilung der Beweislage eine spätere, mit der Verdachtsbeurteilung nicht konforme Entscheidung in der Schuldfrage keineswegs zwangsläufig ausschließt. Demgemäß kann der Ausschließungstatbestand des § 68 Abs 2 erster Fall StPO bei gebotener verfassungsorientierter Auslegung (vgl EGMR in EuGRZ 1992, 99; ÖJZ-MRK 1993/28; 1993/37; 1995/1) unter Heranziehung der Grundsätze des Art 6 MRK etwa auf eine richterliche Tätigkeit in Haftsachen im Hinblick auf die dann notwendige Verdachtsprüfung nicht generell ausgedehnt werden (vgl EvBl 2000/145; 1992/33). Ein Haftbeschluss des erkennenden Gerichts begründet somit - wie schon aus dem Gesetz klar ableitbar (vgl §§ 181 Abs 3, 485 Abs 2 StPO) - keine Ausgeschlossenheit der an dieser Entscheidung beteiligten Richter; um so mehr gilt dies für Beschwerdeentscheidungen über die Haftfrage. Nur wenn mit der Haftentscheidung des Erstrichters auch eine sonstige untersuchungsrichterliche Tätigkeit - etwa die Einleitung der Voruntersuchung nach § 180 Abs 1 StPO - einhergeht, ist der Ausschlussgrund nach § 68 Abs 2 erster Fall StPO erfüllt. Beim Ausschluss der an der Entscheidung über den Anklageeinspruch beteiligten Richter von der Mitwirkung und Entscheidung in der Hauptverhandlung (§ 68 Abs 2 zweiter Fall StPO) wird konsequenterweise an das im Zeitpunkt der Entscheidung nach dem XVI. Hauptstück der StPO noch immer dem Untersuchungsgrundsatz folgende Verfahrensstadium angeknüpft: Richter, die solcherart über die zur Anklageerhebung notwendige Verdachtslage entscheiden, dürfen wegen des damit nicht auszuschließenden Anscheins der Voreingenommenheit an der Sachentscheidung in der Hauptverhandlung (und im Rechtsmittelverfahren; vgl 14 Ns 9/94; 14 Ns 18/94) nicht mehr mitwirken.

Eine Wiederholung der Hauptverhandlung infolge einer Rechtsmittelentscheidung im Sinne des § 68 Abs 2 letzter Fall StPO schließlich vermag nur bei einer im ersten Rechtsgang getroffenen, vom Rechtsmittelgericht inhaltlich korrigierten Sachentscheidung einen unabhängig vom Einzelfall nicht auszuschließenden Anschein einer Voreingenommenheit des vorbefassten Richters zu begründen, wobei einerseits das Gericht gegen den Vorwurf geschützt werden soll, schon auf Grund der Beteiligung am Grundverfahren voreingenommen zu sein und andererseits dem Verurteilten die nahe liegende Besorgnis genommen werden soll, die Richter des Grundverfahrens könnten schon infolge des verurteilenden Erkenntnisses für das Wiederaufnahmeverfahren nicht die nötige Objektivität aufbringen (vgl JA 1157 BlgNR XVIII. GP, 7; EvBl 2000/145; 13 Ns 11/01). Nach Lehre und Rechtsprechung bewirkt daher auch ein zu Unrecht gefälltes Unzuständigkeitsurteil keinen Ausschluss der daran beteiligten Richter für das weitere Strafverfahren (vgl Lohsing/Serini Österreichisches Strafprozessrecht4 127; Roeder Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes2 62; Bertel/Venier Strafprozessrecht6 Rz 191; Foregger/Kodek StPO8 § 68 Rz 8; EvBl 2000/145; 1961/165; 1963/333).

Auch nach ständiger Entscheidungspraxis des EGMR ist nicht jede Vorbefassung eines Richters mit einer Sache geeignet, seinen Anschein der Unparteilichkeit in Frage zu stellen; so kann etwa der bloße Umstand, dass ein in der Hauptverhandlung tätiger Richter auch während des Vor- oder Zwischenverfahrens den Fall behandelt hat, für sich allein noch nicht Befürchtungen in Bezug auf seine Unparteilichkeit rechtfertigen (vgl die Verweise in EvBl 2001/216; 13 Ns 11/01; 14 Os 152/97).

Wendet man diese Kriterien auf die Konstellation einer wiederholten Entscheidungstätigkeit von Rechtsmittelrichtern im selben Strafverfahren an, so zeigt sich, dass die Mitwirkung an einem vorangegangenen, auf Basis des damaligen Prozessstoffes getroffenen Rechtsmittelerkenntnis die Beteiligung an der Überprüfung einer weiteren, auf einer neu bzw ergänzend ermittelten Tatsachengrundlage ergangenen Folgeentscheidung der Vorinstanz keine Ausschlusswirkung entfaltet und auch aus grundrechtlicher Sicht (Art 6 MRK) keine Veranlassung besteht, die Bestimmungen des § 68 Abs 3 StPO darauf analog anzuwenden (vgl 13 Ns 11/01; 13 Ns 27/99). Ein die volle Unbefangenheit in Frage stellender Zweifel kann bei der abermaligen Befassung eines Rechtsmittelgerichtes mit derselben Strafsache mangels einer Korrektur in der Schuldfrage durch eine übergeordnete Instanz im Regelfall nicht erblickt werden (anders etwa, wenn eine Berufungsentscheidung auf Grund einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes aufgehoben wurde [vgl EvBl 1991/146] oder - im Hinblick auf den spezifischen Regelungsinhalt des § 68 Abs 3 StPO - ein Rechtsmittelsenat über die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens befinden muss, bei dem er infolge Beweiswiederholung in der Sache selbst entschieden hatte [vgl 12 Os 49/96; 13 Os 175/96]). Insbesondere vermag eine Beschwerdeentscheidung über die Haftfrage keine Befangenheit der beteiligten Rechtsmittelrichter in Bezug auf die nachfolgende Überprüfung des in der Sache ergangenen Ersturteils hervorzurufen. Die Entscheidung eines Rechtsmittelsenats über eine neuerliche Beschwerde oder über eine in einem weiteren Rechtsgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde oder Berufung in der gleichen richterlichen Besetzung wie bei den vorangegangenen Rechtsmittelerkenntnissen steht daher mit dem Gesetz im Einklang. Mangels substanzieller Unterschiede kann nichts anderes gelten, wenn an einer zurückliegenden Entscheidung des Gerichtshofs II. Instanz über eine Beschwerde gegen einen Haftverhängungs- und Haftfortsetzungsbeschluss des Erstgerichts als damaliges Mitglied des Rechtsmittelsenats des Oberlandesgerichts ein Richter tätig wurde, der nunmehr als Richter des Obersten Gerichtshof in derselben Strafsache an der Verhandlung und Entscheidung über eine Nichtigkeitsbeschwerde bzw Berufung gegen das nunmehr auf der Grundlage des die bisherige Entscheidungsgrundlage erweiternden Beweisverfahrens in der Hauptverhandlung gefälltes Urteil des Erstgerichts und an der Entscheidung über eine Grundrechtsbeschwerde gegen eine von einem anderen Senat des Oberlandesgerichtes in diesem Verfahren ergangene, wiederum eine veränderte Prozesslage berücksichtigende Beschwerdeentscheidung teilnehmen soll. Mangels Vergleichbarkeit der Ausgangslage gebietet auch diese - einer abermaligen Entscheidung durch dieselben Richter eines Rechtsmittelsenats in der selben Strafsache gleich kommende - Fallkonstellation keine analoge Heranziehung des Ausschlussgrundes nach § 69 Z 2 StPO.

Die Vorbefassung mit einer im Rechtsmittelverfahren relevanten Frage kann allerdings - sofern kein sonstiger Ausschlussgrund vorliegt - eine Befangenheit iSd § 72 StPO begründen, wenn zusätzliche Gründe vorliegen, die geeignet sind, bei objektiver Beurteilung die volle Unbefangenheit des betreffenden Richters aus persönlichen Gründen in Zweifel zu ziehen (vgl EvBl 2000/145; 13 Ns 5/03; 14 Ns 14/92). Aus dem Anzeigevorbringen ergibt sich aber kein Anhaltspunkt für eine derartige Zweifel hervorrufende Hemmung einer unparteiischen Entscheidung durch unsachliche psychologische Motive. Dass sich der betreffende Richter in einer Vorentscheidung als Richter des Gerichtshofes zweiter Instanz auf der Basis der damaligen Prozesslage eine Meinung über den Fall bilden musste, begründet für sich allein keine Befangenheit. Eine solche läge vielmehr erst dann vor, wenn angenommen werden müsste, dass der Anzeiger in seiner nunmehrigen Funktion als Richter des Obersten Gerichtshofs auch angesichts allfälliger gegenteiliger Verfahrensergebnisse nicht gewillt wäre, von seiner früheren Meinung abzugehen (vgl 13 Ns 27/99). Dass dem so wäre oder der Anschein einer sonst zu besorgenden Unsachlichkeit des Entscheidungsträgers erweckt werden könnte, wird in der Befangenheitsanzeige nicht behauptet.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

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