OGH 11Os91/11h

OGH11Os91/11h25.8.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. August 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bilinska als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Mag. Erwin C***** wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 6. Mai 2011, GZ 42 Hv 2/11d-41, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Mag. Erwin C***** der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I.), der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (II.) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (III.) schuldig erkannt.

Danach hat er

I. im Zeitraum 2004 bis 14. September 2010 in M***** in oftmaligen Angriffen dadurch, dass er das Glied des am 15. September 1996 geborenen Michael H***** in den Mund nahm, durch orale Penetration mit einer unmündigen Person dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen;

II. außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen, und zwar

A. im Zeitraum 2004 bis 14. September 2010 in M***** in oftmaligen in Punkt I. nicht erfassten Angriffen dadurch, dass er intensiv das Glied des am 15. September 1996 geborenen Michael H***** betastete;

B. im Sommer 2010 in S***** dadurch, dass er das Glied des am 8. Februar 2002 geborenen Michael D***** betastete;

III. mit einer minderjährigen Person, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnutzung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen, und zwar

A. mit dem ihm als Freund des Vaters zur Aufsicht anvertrauten, am 15. September 1996 geborenen Michael H*****, die unter Punkt I. und II. A. geschilderten geschlechtlichen Handlungen;

B. mit dem ihm als Freund der Eltern während eines Urlaubsaufenthalts zur Aufsicht anvertrauten, am 8. Februar 2002 geborenen Michael D***** die unter Punkt II. B. geschilderte geschlechtliche Handlung.

Dagegen richtet sich die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten aus § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 9[lit]c, 10 und 11 StPO.

Rechtliche Beurteilung

In der Präambel zu seiner Nichtigkeitsbeschwerde erklärt der Rechtsmittelwerber, insbesondere die Subsumierung des festgestellten Oralverkehrs unter § 206 Abs 1 StGB bekämpfen zu wollen.

Er erstattet dazu Vorbringen aus Z 5, 10 und 11 des § 281 Abs 1 StPO.

Dass das In-den-Mund-nehmen des Glieds eines anderen „ohne Begründung“ als Penetration bezeichnet werde, rügt der Beschwerdeführer als „undeutlich, unvollständig und mit sich im Widerspruch“, ohne deutlich und bestimmt darzulegen, worin der den Nichtigkeitsgrund der Z 5 des § 281 Abs 1 StPO bildende Tatumstand liegen soll (§ 285 Z 2 StPO; vgl zum Begriffsinhalt des ersten, zweiten und dritten Falls der Z 5 des § 281 Abs 1 StPO Fabrizy, StPO11 § 281 Rz 42, 43 und 45).

Eine in Geltendmachung materiellrechtlicher Nichtigkeit angestrebte rechtliche Konsequenz ist nicht bloß zu behaupten, sondern methodisch vertretbar aus dem Gesetz abzuleiten (eingehend 13 Os 151/03, JBl 2004, 531 [Burgstaller] = SSt 2003/98; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 588; RIS-Justiz RS0116565, RS0116569, RS0118429, RS0117321). Die bloße Behauptung der Subsumtionsrüge, „eine orale Penetration als qualifizierte, dem Beischlaf gleichzusetzende gleichgeschlechtliche Handlung iSd § 206 Abs 1 StGB liegt begrifflich nur dann vor, wenn umgekehrt der Täter sein Glied in die Mundhöhle des Opfers einführt und somit wie bei einem Geschlechtsverkehr in den Körper des Opfers eindringt“, wird einer prozessordnungsgemäßen - und somit einer Behandlung nach §§ 285c Abs 2, 286 ff StPO zugänglichen - Darstellung eines Rechtsfehlers nicht gerecht.

Der Vollständigkeit halber (§ 290 Abs 1 zweiter Satz, erster Fall StPO) sei klargestellt, dass - lege non distinguente - weder bei Beischlaf noch bei einer dem Beischlaf gleichzusetzenden Handlung der Tatbestand der §§ 201 und 206 StGB nur dann erfüllt ist, wenn der Penis des Täters in das Opfer eindringt. Die in Rede stehenden Tatbilder sind vielmehr auch bei der - gerade bei homosexuellen Kontakten häufigen - umgekehrten Konstellation verwirklicht (vgl Philipp in WK2 § 201 Rz 8, 25, § 206 Rz 11, 12; Kienapfel/Schmoller, BT III² Vorbem §§ 201 ff Rz 45 ff; RIS-Justiz RS0094905).

Das Vorbringen aus § 281 Abs 1 Z 11 (gemeint wohl erster Fall) StPO behauptet eine „Überschreitung des gesetzlichen Strafrahmens“, weil der konstatierte Oralverkehr „nicht als seinem Wesen nach rechtsrichtig dem § 207 Abs 1 StGB unterstellt wurde“. Zufolge dogmatisch falscher Vermengung von Strafbefugnis mit Strafsatz entzieht sich diese Darlegung einer juristischen Erwiderung (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 666).

Die Anklageschrift (ON 29) wirft im Tenor dem Nichtigkeitswerber „oftmalige“ Angriffe in Richtung § 206 Abs 1 StGB vor, was vom Referat nach § 260 Abs 1 Z 1 StPO im Urteilsspruch übernommen wird (US 2); in den Entscheidungsgründen wird in diesem Zusammenhang (ebenso wie in der Begründung der Anklageschrift - ON 29 S 9) das Wort „mehrmals“ verwendet (US 8). Die Tatrichter gingen somit ebenso wie die Anklagebehörde von einer gleichartigen Verbrechensmenge aus (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 291, 520; RIS-Justiz RS0113142, RS0119552, jüngst 11 Os 76/11b). Es kann daher im Gegenstand dahinstehen, ob „oftmalig“ gegenüber „mehrmalig“ ein Plus ist - angesichts der Mehrzahl gleichartiger, nur pauschal individualisierter Taten wird durch die unterschiedliche Wortwahl - dem Rechtsmittelvorbringen zuwider - weder ein Widerspruch (Z 5 dritter Fall) noch eine Überschreitung der Anklage (Z 8) verwirklicht.

Aus welchem Grund hier eine nach dem Gesetz erforderliche Anklage gänzlich fehlen sollte, bleibt das dazu auch aus § 281 Abs 1 Z 9 lit c StPO erhobene Vorbringen darzulegen schuldig.

Zu den weiteren, aus § 281 Abs 1 Z 4 und 5 StPO erstatteten Rechtsmittelausführungen ist vorweg zu bemerken, dass die Rüge unterlassener Beweiserhebungen (Z 4) an einen durch schöffengerichtlichen Beschluss abgewiesenen Beweisantrag anzuknüpfen hat (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 302) und die Mängelrüge (Z 5) keine Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld ist (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 450). Ob alle Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung genützt wurden, ist nicht Gegenstand der Mängelrüge (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 426).

In seinem teilweise vermischten Vorbringen vernachlässigt der Beschwerdeführer die ausführliche Auseinandersetzung des Erstgerichts mit der thematisierten Möglichkeit einer auf dem Einfluss seiner Mutter beruhenden Falschbelastung durch Michael H***** (US 11 und 12 f und 15 f und 17 f) und stellt ausschließlich im kollegialgerichtlichen Verfahren unstatthafte, eigenständig beweiswürdigende Überlegungen an („zumindest denkmöglich wäre“, „lässt im Gegenteil den Schluss zu …“). Überdies kann der persönliche Eindruck des Gerichts von einer vernommenen Person nicht erschöpfend in Worte gefasst werden und muss darum in einem Urteil nicht in allen Einzelheiten dargelegt und wiedergegeben werden (RIS-Justiz RS0099413; Danek, WK-StPO § 270 Rz 39). Der zur Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen aufgrund des von diesem in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks führende kritisch-psychologische Vorgang als solcher ist der Anfechtung mit Mängelrüge entzogen (RIS-Justiz RS0106588; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 431).

Die Anzeigeerstattung im Jahre 2010, also erst ca 3 Jahre nach einem ersten Verdacht sexueller Übergriffe, bezogen die Tatrichter - dem Vorwurf, dies sei in den Urteilsausführungen „nicht berührt“ worden, entgegen - in ihre Überlegungen ebenso mit ein wie die Aussage der Zeugin S***** zur angeblichen Beeinflussung des Opfers durch dessen Mutter (US 9, 11, 16 f, 18). Ferner haben die Tatrichter die vom Zeugen Michael H***** erstmals in der kontradiktorischen Vernehmung erfolgte Erweiterung seiner Angaben auch auf den den Oralverkehr betreffenden Vorwurf bei der Bewertung dessen Aussage als zuverlässig miterwogen (US 13 und 15 f). Die (offenbar unter dem Aspekt einer Aktenwidrigkeit iSd Z 5 fünfter Fall) als „widersprüchlich“ kritisierte Urteilspassage, der minderjährige Zeuge habe vor Polizei und Gericht übereinstimmend ausgesagt (US 16), bezog sich nach dem Gesamtzusammenhang (US 13 und 15 f) auf die nicht den Oralverkehr betreffenden Depositionen des Kindes.

Hinsichtlich der diversen vermissten Beweiserhebungen macht der Rechtsmittelwerber - soweit er eine Aufklärungsrüge (Z 5a) erheben will - nicht klar, wodurch er selbst an einer entsprechenden Antragstellung gehindert gewesen wäre (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 480 mwN aus der Judikatur).

Im Übrigen wurde auf die Vernehmung des Zeugen Mag. St***** ausdrücklich verzichtet (vgl ON 37 S 34 iVm ON 34 und ON 37a S 17) und blieb die vom Erstgericht mit bloß in Ausnahmefällen gebotener Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 350) begründete Abweisung (ON 37a S 18 f) des in der Hauptverhandlung zunächst gestellten - nach der Diktion („Möglichkeit“ der Motive für die behauptete Falschbelastung durch Michael H*****) auf einen in der Hauptverhandlung unzulässigen Erkundungsbeweis hinauslaufenden - Antrags auf Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens (ON 37 S 34 iVm ON 34 und ON 37a S 17) im Rechtsmittel inhaltlich unbekämpft. Da auch die Vernehmung einer informierten Mitarbeiterin des Jugendamts in der Hauptverhandlung nicht begehrt wurde (ON 40 S 54), scheitert die auf Unterlassung von Beweisaufnahmen gestützte Verfahrensrüge (Z 4) insgesamt wegen fehlender Antragstellung, zumal die Nichtigkeitsbeschwerde im Zusammenhang mit der begehrten jugendpsychologischen Expertise von einem in der Hauptverhandlung nicht relevierten Beweisthema ausgeht.

Die Tatsachenrüge (Z 5a) spricht - überdies mit der Behauptung einer Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) und der hier unverständlichen Bezugnahme auf § 281 Abs 1 Z 11 StPO - mit Überlegungen zum Zeitpunkt des Wissens der Mutter des Opfers des schweren sexuellen Missbrauchs von der einschlägigen Vorstrafe des Angeklagten keine entscheidende Tatsache an (vgl dazu Ratz, WK-StPO § 281 Rz 398 ff).

Zum Faktum II. B. (III. B.) bringt der Beschwerdeführer aus „§ 281 Abs 1 Z 5 allenfalls 4 StPO“ vor, er habe der Familie D***** in einer Notlage geholfen, es „könne“ [laut seiner Einlassung in der Hauptverhandlung] „zu einer flüchtigen Berührung gekommen sein, ohne dass er beabsichtigt hätte, eine sexuelle Handlung vorzunehmen“. Die gegenteilige Feststellung US 10 wird als „widersprüchlich und unvollständig und nicht geeignet, die Verantwortung zu widerlegen“ bezeichnet. Als Darstellung formeller Urteilsnichtigkeit ist dies ebenso unverständlich wie der Hinweis auf ein „offensichtliches Unterbleiben“ der Befolgung der Anordnung des § 258 Abs 2 StPO zu Gunsten des Angeklagten.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher - in Übereinstimmung mit dem Croquis der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten Äußerung der Verteidigung - bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Erledigung der unter einem erhobenen Berufung folgt (§ 285i StPO). Zu dessen Entscheidung sei bemerkt, dass der Rechtsmittelwerber den tatsächlich vorliegenden Rechtsfehler mangels Feststellungen (s US 21) zur Gefährlichkeitsprognose als eine der Voraussetzungen für die vorbeugende Maßnahme nach § 220b Abs 1 StGB (Fabrizy, StGB10 § 220b Rz 1, 2) ersichtlich bewusst nicht zum Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde, sondern seines Berufungsvorbringens gemacht hat (vgl zu dieser Möglichkeit Ratz, WK-StPO § 283 Rz 1, 2).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte