OGH 11Os89/23g

OGH11Os89/23g3.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. Oktober 2023 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Maringer in der Strafsache gegen M* H* wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 5 U 71/20w des Bezirksgerichts St. Veit an der Glan, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in jenem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0110OS00089.23G.1003.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 5 U 71/20w des Bezirksgerichts St. Veit an der Glan verletzt

(1) die Verlesung der im Abschlussbericht der Polizeiinspektion F* vom 3. Jänner 2020 (ON 2) enthaltenen Protokolle über die Vernehmungen der (vormals) Mitbeschuldigten * S*, * D*, * P*, M* Pf*, * W* und L* Pf* sowie der Zeugen * Hu*, * Ha*, M* Pf*, L* H*, * E* und * Sc* in der am 16. Juni 2021 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 18 S 4 f) § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO,

(2) die Ausfertigung des Urteils in gekürzter Form § 270 Abs 4 StPO iVm § 447 StPO,

(3) das Unterlassen der Anordnung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Zustellung der Urteilsausfertigung an die Beteiligten des Hauptverfahrens § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO und

(4) das Unterlassen der Anordnung der Zustellung einer Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten § 152 Abs 3 Geo iVm § 129 Abs 4 Geo sowie das Unterbleiben der Zustellung einer solchen Rechtsmittelbelehrung § 6 Abs 2 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts St. Veit an der Glan vom 16. Juni 2021, GZ 5 U 71/20w‑19, wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

 

Gründe:

[1] In der Strafsache AZ 5 U 71/20w des Bezirksgerichts St. Veit an der Glan legte die Staatsanwaltschaft Klagenfurt M* H* mit Strafantrag vom 7. Juli 2020 ein zum Nachteil des * P* gesetztes, als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 5).

[2] Im bezeichneten Verfahren wurde die Hauptverhandlung am 16. Juni 2021 in Abwesenheit des – gemäß § 164 StPO zum Anklagevorwurf vernommenen (ON 2 S 45 ff) und ordnungsgemäß geladenen (ON 16 S 3), nicht durch einen Verteidiger vertretenen – Angeklagten durchgeführt. Dabei verlas der Einzelrichter „gemäß § 252 Abs 1 und 2 Z 2 bis 4 StPO“ die im Abschlussbericht der Polizeiinspektion F* vom 3. Jänner 2020 (ON 2) enthaltenen Angaben der (vormals) Mitbeschuldigten * S* (S 49 bis 52 und S 63 bis 66), * D* (S 53 bis 56), * P* (S 59 bis 62), M* Pf* (S 67 bis 70), * W* (S 71 bis 74) und L* Pf* (S 77 bis 80) sowie der Zeugen * Hu* (S 81 bis 83), * Ha* (S 86 bis 88), M* Pf* (S 89 bis 91), L* H* (S 95 bis 97), * E* (S 99 bis 101) und * Sc* (S 103 bis 105) (ON 18 S 4 f).

[3] Mit – in gekürzter Form ausgefertigtem – Urteil vom selben Tag (ON 19) wurde der Angeklagte daraufhin des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Überdies wurde er schuldig erkannt, dem Privatbeteiligten * P* 1.500 Euro zu bezahlen.

[4] Am 6. Juli 2021 vermerkte der Einzelrichter die (vermeintlich am 21. Juni 2021 eingetretene) Rechtskraft dieses Urteils (ON 20 S 1) und verfügte die Einhebung der Geldstrafe sowie die Zustellung einer Bestätigung der Rechtskraft und Vollstreckbarkeit des Entschädigungserkenntnisses an den Vertreter des Privatbeteiligten.

[5] Die Zustellung einer Urteilsausfertigung und einer Rechtsmittelbelehrung für Abwesenheitsurteile im bezirksgerichtlichen Verfahren an den Angeklagten sowie die Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Beteiligten des Hauptverfahrens – die darauf nach der Aktenlage nicht verzichtet haben – hat das Gericht zu keinem Zeitpunkt verfügt.

[6] Dennoch wurde – nach den Registerdaten – die gekürzte Urteilsausfertigung (ON 19) dem Vertreter des Privatbeteiligten am 20. Juli 2021 und dem Angeklagten (gemeinsam mit einem Zahlungsauftrag vom 6. Juli 2021 zu eigenen Handen, jedoch ohne Rechtsmittelbelehrung für Abwesenheitsurteile) am 1. September 2021 zugestellt. Das über die Hauptverhandlung am 16. Juni 2021 aufgenommene Protokoll (ON 18) wiederum wurde (nur) dem Vertreter des Privatbeteiligten (erst) am 27. April 2022 zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

 

[7] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, stehen mehrere Vorgänge im bezeichneten Verfahren mit dem Gesetz nicht im Einklang:

 

[8] (1) Gemäß § 252 Abs 1 StPO (hier iVm § 447 StPO) dürfen Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten oder Zeugen in der Hauptverhandlung nur in den in Z 1 bis 4 leg cit genannten Fällen verlesen werden. Aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung kann dessen Einverständnis (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO) mit einer Verlesung nicht abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0117012). In Bezug auf die oben erwähnten Vernehmungsprotokolle lag – nach dem Akteninhalt (vgl Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 6) – auch sonst keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO vor.

[9] Durch die dennoch erfolgte Verlesung der erwähnten Vernehmungsprotokolle in der Hauptverhandlung hat das Bezirksgericht die genannte Bestimmung verletzt.

[10] (2) Die Ausfertigung eines Urteils in gekürzter Form setzt nach § 270 Abs 4 StPO (hier iVm § 447 StPO) voraus, dass die Beteiligten des Verfahrens auf ein Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der dafür offen stehenden Frist kein Rechtsmittel anmelden.

[11] Das in seiner Abwesenheit gefällte (§ 427 Abs 1 StPO) Urteil wurde dem Angeklagten gegenüber nicht schon mit seiner Verkündung, sondern erst mit der persönlichen (§ 83 Abs 4 zweiter Satz StPO) Zustellung seiner schriftlichen Ausfertigung (§ 427 Abs 1 zweiter Satz StPO) wirksam (vgl 13 Os 40/20m). Vor diesem – die Einspruchsfrist (hier § 478 Abs 1 StPO) und die Frist zur Berufungsanmeldung (hier § 466 Abs 2 StPO, siehe auch § 478 Abs 2 zweiter Satz StPO) erst auslösenden – Ereignis konnte das (schuldig sprechende Abwesenheits‑)Urteil nicht unbekämpft in Rechtskraft erwachsen, die von § 270 Abs 4 StPO vorausgesetzte Prozesssituation also gar nicht eingetreten sein (zur Unwirksamkeit eines – vom Angeklagten hier ohnedies nicht erklärten – Rechtsmittelverzichts eines Beteiligten, bevor das verkündete Urteil diesem gegenüber wirksam wird, siehe Ratz, WK-StPO § 284 Rz 6). Daher war seine Ausfertigung in gekürzter Form verfehlt (vgl RIS‑Justiz RS0101784 [T2] und Danek/Mann, WK‑StPO § 270 Rz 61).

[12] (3) Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO (hier iVm § 447 StPO) ist den Beteiligten (des Hauptverfahrens), soweit sie nicht darauf verzichtet haben, eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung, von Amts wegen zuzustellen (14 Os 158/07b, 159/07z; 15 Os 41/15s, 42/15p; Danek/Mann, WK‑StPO § 271 Rz 40).

[13] Obwohl keine Verzichtserklärung vorlag, ist das Bezirksgericht dieser Pflicht nicht nachgekommen.

[14] (4) Gemäß § 152 Abs 3 Geo ist bei der Zustellung eines Abwesenheitsurteils stets auch eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung zuzustellen; dies ist vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen (§ 129 Abs 4 Geo). Indem das Bezirksgericht Letzteres verabsäumte (vgl zur Wirksamkeit der Zustellung RIS‑Justiz RS0096136 [T7]), verstieß es gegen die genannten Bestimmungen der Geo (RIS‑Justiz RS0059446, RS0096533 und Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 16; zur Wahrnehmung der Verletzung von Verordnungen durch den Obersten Gerichtshof siehe RIS‑Justiz RS0102164 [T1] und Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 12). Das Fehlen der Zustellung einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung an den Angeklagten wiederum bewirkt einen Verstoß gegen § 6 Abs 2 StPO (14 Os 79/20d, 80/20a, 81/20y und – eingehend zu den Informationspflichten bei der Zustellung eines Abwesenheitsurteils – 13 Os 19/22a, 20/22y).

 

[15] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO; zur Durchbrechung der Rechtskraft unter dem Aspekt der im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position des Privatbeteiligten siehe RIS‑Justiz RS0124740 [insbesondere T3]).

[16] Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten damit gleichermaßen als beseitigt (RIS‑Justiz RS0100444).

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