OGH 11Os85/20i

OGH11Os85/20i19.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen Bernhard L* und weitere Angeklagte wegen des Verbrechens der Erpressung nach § 144 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 34 Hv 119/17y des Landesgerichts Leoben, über die Anträge des Bernhard L* und der Mag. Klaudia H* auf Erneuerung des Verfahrens in Bezug auf mehrere Vorgänge in diesem Verfahren sowie über deren Anträge auf Zuerkennung aufschiebender Wirkung nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129837

 

Spruch:

Die Anträge werden zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Der Strafsache gegen (ursprünglich) Johannes W* und weitere Angeklagte, AZ 34 Hv 119/17y des Landesgerichts Leoben, liegen mehrere Strafanträge ua gegen Bernhard L* wegen Verbrechen der Erpressung nach §§ 144 Abs 1, 15 StGB sowie Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, der Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 15 StGB, der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB undder dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB sowie gegen Mag. Klaudia H* wegen Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB und des Missbrauchs von Tonaufnahme‑ oder Abhörgeräten nach §§ 12 zweiter Fall, 120 Abs 2 StGB zugrunde.

Rechtliche Beurteilung

[2] Die Angeklagten L* und Mag. H* wenden sich im gemeinschaftlich ausgeführten, am 6. August 2020 beim Landesgericht für Zivilrechtssachen (!) Wien eingebrachten Antrag auf Erneuerung des Verfahrens gegen „die unanfechtbare Abtretung im Rahmen einer unzulässigen prozessleitenden Verfügung [offenbar gemeint: vom 12. November 2018]“, gegen die „Ausschreibung der Hauptverhandlung [für 27. Februar 2020] durch das örtlich unzuständige Landesgericht Leoben“ und „die [am 23. Jänner 2020 zugestellte] Ladung zur Hauptverhandlung ohne Prüfung der Strafanträge“, wodurch insgesamt mehrere, im Antrag bezeichnete Grundrechte verletzt worden wären.

[3] Vorauszuschicken ist, dass für – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützte Erneuerungsanträge (RIS‑Justiz RS0122228), bei denen es sich um subsidiäre Rechtsbehelfe handelt, alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß gelten (RIS‑Justiz RS0122737, RS0128394). Es sind daher (unter anderem) die zeitlichen Schranken des Art 35 Abs 1 MRK zu beachten, der die Einhaltung einer sechsmonatigen Frist nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung verlangt (RIS‑Justiz RS0122736).

[4] Außerdem hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 16) – auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darzulegen, worin eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]).

[5] Insoweit sich die Erneuerungsanträge gegen die vom Landesgericht für Strafsachen Graz verfügte Überweisung des Verfahrens an das Landesgericht Leoben vom 12. November 2018, den Ausspruch der örtlichen Zuständigkeit des Landesgerichts Leoben am 21. Jänner 2020, die am selben Tag erfolgte Ausschreibung und am Folgetag zugestellte Ladung zur Hauptverhandlung wenden, sind sie verspätet.

[6] Den Beginn der Frist des Art 35 Abs 1 MRK verzögern nämlich nur jene Rechtsbehelfe, die der Angeklagte ergreifen muss, um dem Erfordernis der Erschöpfung des Rechtswegs Genüge zu tun (vgl Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 22, 39).

Dies aber trifft nur auf effektive (wirksame, aussichtsreiche) Rechtsbehelfe zu; also solche, die nach innerstaatlichem Recht verfügbar sowie geeignet und ausreichend sind, um das (übergeordnete) Gericht in die Lage zu versetzen, die behauptete Konventionsverletzung (wenigstens im Kern) zu prüfen und gerade im Hinblick darauf Abhilfe zu schaffen (Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 26; Meyer‑Ladewig/Peters inMeyer-Ladewig/Nettesheim/Raumer, EMRK4 Art 35 Rz 9 f, zu unzulässigen und aussichtslosen Rechtsbehelfen insbesondere Rz 25; EGMR 5. Jänner 2006, Fernie vs UK, ApplNr 14881/04; 13 Os 115/15h). Andernfalls könnte die Frist des Art 35 Abs 1 MRK durch unzulässige Prozesshandlungen beliebig hinausgezögert werden. Darauf, dass gegen die vorgenannten, jeweils kritisierten Verfahrensschritte kein Rechtsmittel zulässig ist (und sie solcherart „letztinstanzlich“ sind), wurden die Angeklagten bereits bei deren Zustellung (Mag. H*) oder in der Hauptverhandlung im Wege des anwesenden Verteidigers (L*) informiert (zum Fristbeginn siehe Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 13 Rz 40).

[7] Mag. H* ist, indem sie einmal mehr die örtliche Zuständigkeit des Landesgerichts Leoben auch vor Ausscheidung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten W* in Frage stellt, überdies auf die am 28. Mai 2019 ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (11 Os 35/19k, 11 Os 36/19g, 11 Os 38/19a, 11 Os 39/19y) über einen von ihr gestellten inhaltlich identen Erneuerungsantrag zu verweisen (RIS‑Justiz RS0123231).

[8] Das Vorbringen des Angeklagten L*, er wäre als Angeklagter zur Hauptverhandlung geladen worden, ohne dass das Gericht die nach § 485 Abs 1 StPO erforderliche (Vor‑)Prüfung des Strafantrags vorgenommen hätte, ist widersprüchlich. Denn gerade die (hier in deren Ausschreibung bestehende) Anordnung der Hauptverhandlung gemäß § 485 Abs 1 Z 4 StPO impliziert, dass das Gericht die Rechtswirksamkeit des Strafantrags als Voraussetzung für die Einleitung des Hauptverfahrens bejaht hat (vgl die oben genannte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in dieser Sache sowie 15 Ns 3/15g).

[9] Soweit überdies im Rahmen einer – zwischen den Angeklagten weitgehend nicht differenzierenden – Aufzählung mehrerer (gesetzter oder unterlassener) Verfahrensschritte der involvierten Gerichte mit dem Kernthema der – nach Ausscheidung des eine Sonderzuständigkeit begründenden Verfahrens gegen den Mitangeklagten W* – vermeintlichen örtlichen Unzuständigkeit des Landesgerichts Leoben (das gerade nicht als Gericht mit Sonderzuständigkeit ein Verfahren wegen [nur] allgemeiner strafbarer Handlungen ausgeschieden hat – vgl § 36 Abs 4 zweiter Satzteil StPO als Ausnahme von der Grundregel des ersten Satzes leg cit – so auch EBRV 25 BlgNR 22. GP , 57) verschiedene Grundrechte bloß plakativ als verletzt bezeichnet werden, wird die Opfereigenschaft nicht schlüssig und substantiiert behauptet, also aus einer bestimmten Konventionsgarantie deren zu Lasten der Angeklagten wirkende Verletzung abgeleitet (RIS‑Justiz RS0124359 [insbesondere T1]; Reindl‑Krauskopf, WK‑StPO § 363a Rz 31). Auch mangelt es an der Darlegung, aus welchem Grund durch die behauptete Verkürzung von Rechten im laufenden Hauptverfahren das reklamierte Grundrechtsziel eines zur Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage führenden fairen Verfahrens endgültig vereitelt worden wäre.

[10] Im Übrigen wird weder dargetan, weswegen durch eine Konventionsverletzung eine sinnvolle Verteidigung verunmöglicht worden oder worin ein nachteiliger Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung gelegen sein könnte (Art 35 Abs 3 lit b MRK; Reindl-Krauskopf, WK-StPO § 363a Rz 6; Meyer-Ladewig/Peters in Meyer‑Ladewig/Nettesheim/Raumer, EMRK Handkommentar4, Art 35 Rz 55).

Abschließend ist den Erneuerungswerbern zu erwidern:

[11] Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens können auch im erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle gestellt werden (vgl RIS‑Justiz RS0132365). Auf die gegenständliche Behauptung der Verletzung von sonst statuierten Grundrechten durch die Erneuerungswerber wird daher nicht eingegangen.

[12] Der Gesetzgeber hat mit der seit 1. Jänner 2015 geltenden Rechtslage ein subjektives Recht auf Normanfechtung durch die Strafgerichte ausdrücklich verneint (RIS‑Justiz RS0130514).

[13] Mit Blick auf die Kompetenznorm des § 362 Abs 5 StPO, wonach dann, wenn es dem Obersten Gerichtshof zukommt, ein Urteil aufzuheben, diesem die Hemmung des Strafvollzugs zusteht, kann zwar seine Befugnis zu einer solchen Entscheidung auch im Fall eines auf § 363a StPO gestützten Antrags aus dem Gesetz abgeleitet werden, nicht aber ein darauf gerichtetes Antragsrecht (RIS‑Justiz RS0125705; vgl § 357 Abs 3 StPO).

Sämtliche Anträge waren demnach zurückzuweisen.

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