OGH 11Os54/24m

OGH11Os54/24m18.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Juni 2024 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart des Richteramtsanwärters Edermaier‑Edermayr, LL.M. (WU), als Schriftführer in der Strafsache gegen * A* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 12 zweiter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Schöffengericht vom 18. März 2024, GZ 314 Hv 11/24v‑94.4, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0110OS00054.24M.0618.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Suchtgiftdelikte

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Der Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * A* „der Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 12 zweiter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter Fall und fünfter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG“ (richtig [RIS‑Justiz RS0118871 {T9}, RS0117464 {T18}]: eines Verbrechens nach § 12 zweiter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG sowie eines Verbrechens nach § 12 zweiter Fall StGB, § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG) schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie zwischen 2017 und Mitte Juli 2022 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, der neben ihr selbst der noch auszuforschende Täter namens „M*“, der abgesondert verfolgte * B* sowie wechselnde und bislang unbekannte Suchtgiftkuriere angehören, andere dazu bestimmt, vorschriftswidrig Suchtgift in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, nämlich insgesamt zumindest 50 kg Kokain mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von rund 64,4 % Cocain, aus den Niederlanden und Belgien aus‑ und mit Schmuggelfahrzeugen nach Österreich einzuführen sowie in der Folge an Großabnehmer zu überlassen, indem sie den unbekannten Kurieren das Suchtgift übergab und diese beauftragte, es nach Österreich zu transportieren und an B* zu übergeben.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 2, 4 und 5 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten.

[4] Die Verfahrensrüge (Z 2) kritisiert die – gegen den Widerspruch der Nichtigkeitswerberin (ON 94.3 S 3 f und S 38) erfolgte – Verlesung (ON 94.3 S 38) von Amtsvermerken und darauf bezugnehmenden Berichten der Landespolizeidirektion Niederösterreich in ON 2.3, ON 2.4, ON 2.5, ON 6.2 S 4, ON 18.2 S 4 f und 7, ON 76.2 S 4 ff, ON 76.4 S 4 und ON 82 S 4, welche Aussagen des (abgesondert verfolgten und mittlerweile rechtskräftig verurteilten) B* festhalten, der die Angeklagte belastete, als Mitglied einer international agierenden Tätergruppe tätig zu sein, grenzüberschreitenden Kokainschmuggel zu organisieren und ihm selbst zwischen 2017 und 2022 50 bis 100 kg Kokain vermittelt zu haben. Aus Sicht der Beschwerdeführerin handle es sich bei diesen Aktenbestandteilen um amtliche Schriftstücke über nichtige Erkundigungen im Ermittlungsverfahren, weil B* nicht förmlich über seine Beschuldigtenrechte belehrt worden sei, solcherart die Bestimmungen über die Beschuldigtenvernehmung umgangen worden seien bzw nur eine „Rumpfbelehrung“ vorliege.

[5] Ob die dokumentierten Befragungen des B* infolge Umgehung eines Förmlich-ins-Bild-Setzens iSd § 152 Abs 1 StPO nichtig sind, ist dadurch, dass keine gemäß § 96 StPO protokollierte Beschuldigtenvernehmung (§ 164 StPO), sondern bloß Amtsvermerke (§ 95 StPO) über seine Angaben vorliegen, noch nicht beantwortet (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 187). Eine Nichtigkeit begründende Umgehung von Bestimmungen über die Beschuldigtenvernehmung läge vielmehr nur vor, wenn der als Beschuldigte (§ 48 Abs 1 Z 2 StPO) in Betracht kommende Befragte über seine Stellung im Verfahren und die damit verbundenen Rechte im Unklaren gelassen worden wäre (RIS‑Justiz RS0129599 [T3]; Ratz, EvBl 2017/107, 739 [Glosse zu 14 Os 68/16f]; erneut ders, WK‑StPO § 281 Rz 187).

[6] Vorliegend ging das Erstgericht – der weiteren Beschwerde zuwider unter ausreichender Berücksichtigung der Angaben des B* zu den Vorgängen (US 8 f) – davon aus, dass der wegen des Verdachts der Einfuhr und des Überlassens von Kokain und Methamphetamin in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge übersteigenden Menge in Untersuchungshaft angehaltene B* bereits wiederholt – nämlich am 12. Juli 2022 anlässlich seiner Festnahme und am 14. Juli 2022 durch die Haft‑ und Rechtsschutzrichterin – über seine Stellung als Beschuldigter und die damit verbundenen Rechte belehrt worden war (US 5 f).

[7] Auf Basis des Wortlauts der Amtsvermerke (ON 2.3 und ON 2.5) sowie der als glaubwürdig erachteten Bekundungen der Polizeibeamten P* und Ma* (ON 94.3 S 28 f; US 13 f) gelangte der Schöffensenat überdies zur Überzeugung, dass die bereits erteilten Belehrungen zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Äußerungen des B* am 21. und 22. Juli 2022 – insbesondere betreffend seine Stellung als Beschuldigter, sein Aussageverweigerungsrecht und sein Recht auf Beiziehung eines Verteidigers – erneuert wurden und er in Kenntnis darüber war, dass alle Informationen auch gegen ihn verwendet werden können, weshalb von einer Umgehung der Bestimmungen über die Beschuldigteneinvernahme bzw von einer bloßen „Rumpfbelehrung“ keine Rede sein könne (US 6 f, 14; ON 94.3 S 28 f).

[8] Unter diesen Umständen war nach Ansicht des Erstgerichts (vgl US 13 f) eine gesonderte neuerliche Belehrung für die daran anknüpfenden Angaben am 2. August 2022 (ON 2.4; vgl US 7 iVm ON 18.2) nicht mehr geboten.

[9] Dem hält die Beschwerde bloß die eigene Sichtweise entgegen, es wäre aus Aussagepassagen des B* im eigenen Strafverfahren (wonach seine Angaben „keine offizielle Stellungnahme“, sondern bloß „informell“ gewesen seien und er sich für ein „formelles Geständnis“ die Anwesenheit seines Rechtsanwalts sowie der Staatsanwältin erwartet hätte; ON 34.2 S 28; vgl insofern US 14) sowie aus einer Einschätzung des Zeugen P* (wonach sich B* seine Mitwirkung an einer „offiziellen Beschuldigteneinvernahme“ für einen „Deal“ „offenhalten“ wollte; ON 34.2 S 52 und ON 94.3 S 17) abzuleiten, dass B* „über seine Rechte im Unklaren belassen“ worden war. Solcherart zeigt sie weder ein aus § 281 Abs 1 Z 5 oder 5a StPO beachtliches Formaldefizit der vom Erstgericht herangezogenen Sachverhaltsgrundlage für die Verlesung auf noch lässt sie erkennen, dass letztere auf Basis ersterer rechtlich verfehlt wäre (RIS‑Justiz RS0118016, RS0118977; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 40 f, 43 und 49 f). Eigene Überlegungen zur Verständlichkeit polizeilicher Rechtsbelehrungen sowie zur Sinnhaftigkeit des Prozessverhaltens des B* verlassen ebenfalls den Anfechtungsrahmen.

[10] Soweit sich die weitere Verfahrensrüge (Z 4) gegen die Ablehnung des Antrags auf Nichtverlesung bzw Nichtverwertung der oben genannten Amtsvermerke sowie der in Rede stehenden Passagen der Anlass‑ und Abschlussberichte (ON 94.3 S 28) wendet und dabei auf der Prämisse einer nichtigen (und solcherart nicht verwertbaren) Erkundigung aufbaut, ist auf das soeben Ausgeführte zu verweisen.

[11] Da der (rechtskräftig verurteilte) B* in der Hauptverhandlung seine Aussage als Zeuge unberechtigt verweigert hat (ON 94.3 S 9 f; US 15; RIS‑Justiz RS0129000; Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 157 Rz 3), durften dessen bisherige Angaben verlesen werden (Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 154 Rz 16).

[12] Dementsprechend geht auch die Kritik an der – gegen einen entsprechenden Antrag (ON 94.3 S 3) und noch vor der Entscheidung über den Antrag auf Nicht-Verlesung – erfolgten Fragestellung der Vorsitzenden an die Angeklagte (in Form von „Vorhalten“ bei deren Vernehmung in der Hauptverhandlung; vgl dazu Kirchbacher/Sadoghi, WK‑StPO § 245 Rz 63 f), die sich auf in den erwähnten Amtsvermerken (ON 2.3, ON 2.4, ON 2.5) dokumentierte sowie in späteren Amtsvermerken (ON 18.2; US 7) referierte Angaben des Zeugen B* bezog (ON 94.3 S 7 f), ins Leere (RS0124168, RS0113447 [T2]; Kirchbacher/Sadoghi, WK‑StPO § 245 Rz 74 f und § 246 Rz 163; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 337).

[13] Entgegen der Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) blieb eine darauf gerichtete Interessenslage des B*, für seine Aussage behördliche Zusagen zu erhalten, keineswegs unberücksichtigt (US 6 und 14).

[14] Der seinen Angaben zuerkannte Beweiswert, solcherart auch jener der die Nichtigkeitswerberin belastenden Depositionen, ist einer Anfechtung mittels Nichtigkeitsbeschwerde entzogen (RIS‑Justiz RS0106588). Das Argument, die Nichtigkeitswerberin habe unter Hinweis auf ihre Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen sowie mit der Bekundung, sich selbst als „taugliches Opfer“ zu sehen (ON 94.3 S 8), „sehr wohl einen Grund für die fälschliche Belastung durch B*“ benannt (vgl insbesondere US 10, wonach kein nachvollziehbarer Grund für eine Falschbezichtigung ersichtlich war) und B* habe sich in seiner eigenen Hauptverhandlung völlig anders verantwortet (vgl US 8 ff zum Aussageverhalten des B* in seiner eigenen Hauptverhandlung), zieht ebenfalls nur unzulässig die tatrichterliche Würdigung von Verfahrensergebnissen nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Schuldberufung in Zweifel.

[15] Es ist auch kein Begründungsmangel, wenn das Gericht nicht den vollständigen Inhalt sämtlicher Aussagen wie überhaupt alle Verfahrensergebnisse im Einzelnen erörtert und darauf untersucht, inwieweit sie für oder gegen diese oder jene Darstellung sprechen (vgl US 5 zur Verantwortung der Angeklagten). Es genügt vielmehr, wenn der Gerichtshof im Urteil in gedrängter Form die entscheidenden Tatsachen bezeichnet und logisch einwandfrei und zureichend begründet, warum er von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt ist, ohne dagegen sprechende wesentliche Umstände mit Stillschweigen zu übergehen. Dass aus den (formell einwandfrei) ermittelten Prämissen auch für die Angeklagte günstigere Schlussfolgerungen möglich wären, sich die Erkenntnisrichter aber dennoch für die für die Angeklagte ungünstigeren entschieden haben, ist ein Ausfluss der freien Beweiswürdigung, die mit Mängelrüge unbekämpfbar ist (RIS‑Justiz RS0098377).

[16] Dem Einwand offenbar unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) zuwider ist die Ableitung der Täterschaft der Angeklagten aus den Angaben des Zeugen B* vor der Polizei (US 5 ff) in Zusammenschau mit weiteren Indizien (US 5, 7 f) und Chats (US 11) unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit nicht zu beanstanden.

[17] In Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur war die Nichtigkeitsbeschwerde daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

[18] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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