Spruch:
Dem Antrag wird stattgegeben.
Die Beschlüsse des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Wels vom 13. Dezember 1996, GZ 14 Vr 403/96-230a, und des Oberlandesgerichtes Linz vom 20. Juni 1997, AZ 7 Bs 168/97 (= ON 258 des Strafaktes) werden aufgehoben. Die Entschädigungssache wird an das Landesgericht Wels zur Erneuerung des Verfahrens zurückverwiesen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Wels vom 13. Dezember 1996, GZ 14 Vr 403/96-230, wurde Snjezana V***** von der wider sie erhobenen Anklage wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB rechtskräftig freigesprochen. Den unmittelbar nach dem Freispruch gestellten Antrag der Snjezana V***** auf Feststellung eines Entschädigungsanspruches für durch die strafgerichtliche Anhaltung vom 10. April 1996 bis zum 13. Dezember 1996 erlittenen vermögensrechtlichen Nachteile wies das Geschworenengericht mit Beschluss vom selben Tag mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 lit b StEG gemäß § 6 Abs 2 StEG ab (ON 230a): Im Hinblick darauf, dass der Freispruch nicht einstimmig erfolgte, die entlastende Aussage der Eltern der Antragstellerin nicht glaubwürdig und sie selbst im Besitz einer Waffe gewesen sei, die als Tatwaffe in Frage käme, sei der Tatverdacht nicht entkräftet.
Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Linz mit dem im Spruch bezeichneten Beschluss nicht Folge (ON 258). Der daraufhin von V***** angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gab ihrer Beschwerde statt und stellte mit Urteil vom 17. Oktober 2002, Beschwerde Nr 38549/97 (ÖJZ 2003, 9 MRK 196) eine Verletzung des Art 6 Abs 2 EMRK (Unschuldsvermutung) fest. Entscheidend dafür sei, dass sowohl das Geschworenengericht als auch das Oberlandesgericht Feststellungen nach dem rechtskräftigen Freispruch der Angeklagten trafen, welche die Ansicht zum Ausdruck brachten, sie stünde weiter im Verdacht, die Tat begangen zu haben, wodurch ihre Unschuld in Zweifel gezogen werde.
Rechtliche Beurteilung
Dem materiell auf diese Entscheidung und formell auf § 363a StPO gestützten Erneuerungsantrag der Snjezana V***** kommt Berechtigung zu.
Gemäß § 363a Abs 1 StPO ist, wenn in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt wird, das Verfahren auf Antrag insoweit zu erneuern, als nicht auszuschließen ist, dass die Verletzung einen für den hievon Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte. Zusätzlich zur Konventionsverletzung muss somit die - zumindest abstrakte - Möglichkeit bestehen, dass ohne diese Verletzung eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung gefällt worden wäre. Im vorliegenden Erneuerungsverfahren sind jedenfalls, der bindenden Rechtsansicht des EGMR folgend, beide Beschlüsse wegen Konventionswidrigkeit ihrer Begründung aufzuheben.
Auszugehen ist davon, dass die EMRK bei Einstellung von Strafverfahren oder Freispruch für gesetzmäßig erlittene Untersuchungshaft keinen Entschädigungsanspruch vorsieht (Frowein/Peukert, EMRK² Art 6 Rz 165). Wird ein solcher nach nationalem Recht eingeräumt, kann seine Ablehnung daher per se nicht konventionswidrig sein. Deshalb ist auch die gesetzgeberische Entscheidung, die Zuerkennung einer Entschädigung an Bedingungen zu knüpfen und Ausschlusskriterien zu normieren, aus Sicht der EMRK solange nicht zu beanstanden, als diese Voraussetzungen mit den Grundrechten im Einklang stehen.
Soweit hier von Belang, hat der Bund nach §§ 1, 2 Abs 1 lit b StEG die durch eine strafgerichtliche Anhaltung entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile dem Geschädigten auf dessen Verlangen in Geld zu ersetzen, wenn er wegen des Verdachtes einer im Inland zu verfolgenden strafbaren Handlung von einem Gericht in vorläufige Verwahrung oder Untersuchungshaft genommen und in der Folge in Ansehung dieser Handlung freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt wurde und der Verdacht, dass der Geschädigte diese Handlung begangen habe, entkräftet ist. Dass damit aber trotz Freispruches oder Verfahrenseinstellung (anspruchausschließender) Tatverdacht auch weiterhin angenommen werden kann, steht, wie unmittelbar einsichtig ist, in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK.
Der EGMR hat sich mit dieser Problematik in einigen Entscheidungen (davon mit Inlandsbezug insb Sekanina gegen Österreich, Nr 21/1992/366/440 vom 25. August 1993, ÖJZ 1993/46 MRK, Rushiti gegen Österreich Nr 28389/95 vom 21. März 2000, ÖJZ 2001/5 MRK, Lamanna gegen Österreich Nr 28923/95 vom 10. Juli 2001, ÖJZ 2001/29 MRK und Weixelbraun gegen Österreich Nr 33730/96 vom 20. Dezember 2001) auseinandergesetzt und dabei differenziert:
Wurde ein Verfahren noch nicht mit einer (gerichtlichen) Entscheidung über die Begründetheit der Anklage beendet, ist der Ausspruch einer Verdächtigung noch nicht unbedingt grundrechtsverletzend. Sobald ein Freispruch aber rechtskräftig geworden ist, ist es nicht mehr zulässig, sich auf eine solche Verdächtigung zu berufen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob das Weiterbestehen der Verdachtslage von jenem Gericht bejaht wird, welches den Freispruch fällte oder einem anderen Spruchkörper darnach, weil sogar Schuldverdächtigungen, die in der Begründung des Freispruches, und sei er auch in dubio erfolgt, zum Ausdruck kommen, mit der Unschuldsvermutung unvereinbar sind (Rushiti gegen Österreich: "... The court, thus, considers that once an aquittal has become final - be it an aquittal giving the accused the benefit of the doubt in accordance with Art 6 § 2 - the voicing of any suspicions of guilt including those expressed in the reasons for the aquittal is incompatible with the presumption of innocence"). Damit wurde letztlich auch der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofes, der bei Anwendung der Vorschriften des StEG nur die gerichtliche Neuaufrollung und eigenständige Beurteilung der Schuldfrage nach bereits rechtskräftigem Freispruch in den Entscheidungsgründen eines späteren (Haftentschädigungs-)Verfahrens als konventionswidrig erachtete (VfSlg 13.879) - und auf welche sich die Republik im Verfahren Rushiti gegen Österreich berief - eine Absage erteilt und dies im gegenständlichen Verfahren wiederholt. Während daher dann, wenn die Anklage durch Freispruch verworfen wurde, ein solcher Verdacht nicht mehr thematisiert werden darf, wird in Fällen der Verfahrenseinstellung (oder der Unmöglichkeit der Verfahrensbeendigung) eine die Tatschuld als wahrscheinlich bezeichnende Prognose mit Blick auf Art 6 Abs 2 EMRK für zulässig erachtet.
Im Lichte dieser (nicht unumstrittenen: vgl zur Kritik an der Differenzierung zwischen Verfahrenseinstellung und Freispruch Vogler IntKommEMRK Art 6 Rz 442 und Moos, RZ 1997, 122) differenzierenden Rechtsprechung des EGMR verlangt demnach eine konventions- und damit verfassungskonforme Anwendung des § 2 Abs 1 lit b StEG die Beseitigung der nachträglich durch die Aufnahme des Art 6 EMRK in die österreichische (Verfassungs-) Rechtsordnung entstandenen Inkonsistenz durch teleologische Reduktion des § 2 Abs 1 lit b StEG um die Verdachtsentkräftung im Falle eines Freispruchs als Grundlage des Haftentschädigungsanspruchs. Diese Interpretation ist auch mit dem Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung noch vereinbar, welcher die Lesart zulässt, dass sich die Einschränkung "und der Verdacht, dass der Geschädigte diese Handlung begangen habe, entkräftet ... ist", grammatikalisch nur auf die sonstige Außerverfolgung bezieht, während der zuvor erwähnte Freispruch von der Verdachtsentkräftung unabhängig ist.
Dieser Auslegung ist gegenüber dem in der Stellungnahme der Generalprokuratur unternommenen Interpretationsversuch, wonach darauf abzustellen sei, inwieweit der seinerzeit haftbegründende Verdacht auch ex post betrachtet als für eine Haft hinreichend anzusehen wäre, der Vorzug zu geben, weil dieser sich nicht an der strikten Vorgabe des EGMR orientiert, im Falle eines Freispruches jeglichen Schuldvorwurf zu unterlassen.
In Übereinstimmung mit der Generalprokuratur ist schließlich darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Vorbringen der Regierung, es gäbe keinen Kausalzusammenhang zwischen dem behaupteten „materiellen Schaden" und der in Rede stehenden Konventionsverletzung, beipflichtete (Z 24) und deshalb unter "diesem Titel" keinen Zuspruch vornahm (Z 25), der bloßen Möglichkeit eines Einflusses auf den Inhalt eines Beschlusses gemäß § 2 Abs 1 lit b StEG nicht entgegensteht.
Dem Erneuerungsantrag war daher Folge zu geben, die genannten Beschlüsse aufzuheben und die Erneuerung des Entschädigungsverfahrens unter Abstandnahme von der Prüfung der Verdachtsentkräftung anzuordnen (§ 363 b Abs 3 StPO).
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