Spruch:
Im Verfahren AZ 16 U 37/08p des Bezirksgerichts Wels verletzen der Vorgang
1. der Unterlassung der Verständigung Nachgenannter vom Recht, gegen die zu Sachverständigen bestellten Personen binnen festzusetzender Frist begründete Einwände zu erheben, und zwar
a.) der Beteiligten in Ansehung der am 20. August 2008 und am 16. März 2009 erfolgten Bestellvorgänge § 126 Abs 3 dritter und fünfter Satz StPO idF BGBl I 2007/93 iVm § 447 StPO;
b.) der Angeklagten durch den ohne Zustellung einer Ausfertigung erfolgten Bestellvorgang am 16. April 2010, § 126 Abs 3 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO;
2. der Unterlassung der Zustellung der Gebührennoten ON 30, 57 und 72 an die Angeklagte zur Äußerung vor Bestimmung der von den Sachverständigen beanspruchten Gebühren § 39 Abs 1a GebAG idF BGBl I 2009/30 iVm § 40 Abs 1 Z 2 GebAG;
3. der Unterlassung der zufolge Anklagerücktritts außerhalb der Hauptverhandlung (ON 79) gebotenen Beschlussfassung über die Einstellung des Verfahrens § 227 Abs 1 letzter Halbsatz StPO iVm § 447 StPO;
4. der Unterlassung der Verständigung des vom Anklagerücktritt vor der Hauptverhandlung (ON 31 S 1) betroffenen Privatbeteiligten David B***** § 72 Abs 3 StPO iVm § 447 StPO und
5. der Fällung eines Freispruchs in der Hauptverhandlung hinsichtlich der außerhalb derselben zurückgezogenen Anklagevorwürfe § 72 Abs 3 StPO iVm § 259 Z 3 StPO iVm § 447 StPO;
6. der Unterlassung der unverzüglichen Zustellung des Strafantrags ON 5 in ON 47 an die Angeklagte § 451 Abs 1 letzter Halbsatz StPO;
7. der Nichtaufnahme der in § 260 Abs 1 Z 1 StPO bezeichneten Angaben in das Hauptverhandlungsprotokoll vom 7. Dezember 2010 § 271 Abs 1 Z 7 StPO iVm § 447 StPO;
8. der Durchführung der Hauptverhandlung sowie der Urteilsfällung am 7. Dezember 2010 in Abwesenheit der Angeklagten § 427 Abs 1 StPO;
9. des Vortrags des erheblichen Inhalts von Aktenstücken in der in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 2a StPO iVm § 447 StPO;
10. der Unterlassung der schriftlichen Ausfertigung des am 7. Dezember 2010 verkündeten Urteils § 270 Abs 1 und Abs 2 Z 4 StPO iVm § 447 StPO;
11. der Unterlassung der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Abwesenheitsurteils an die Angeklagte § 427 Abs 1 letzter Satz StPO;
12. der Unterlassung der Zustellung von Ausfertigungen der Protokolle über die Hauptverhandlungen an die Beteiligten § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO.
Das Urteil des Bezirksgerichts Wels vom 7. Dezember 2010, GZ 16 U 37/08p-70, wird aufgehoben und die Sache in diesem Umfang (Anklagevorwurf ON 3 in ON 62) zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Wels legte Tina H***** im Strafverfahren AZ 16 U 37/08p des Bezirksgerichts Wels mit verschiedenen Strafanträgen diverse als Vergehen des Diebstahls nach §§ 127, 15 StGB, der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB sowie der Sachbeschädigung nach § 125 StGB qualifizierte Verhaltensweisen zur Last (ON 3, ON 11, ON 5 in ON 47, ON 3 in ON 62).
Die vom Richter am 20. August 2008 mit Formblatt H 7 verfügte Ladung des medizinischen Sachverständigen Dr. Gert L***** zur Hauptverhandlung, beinhaltete dessen Bestellung zum Sachverständigen (ON 1 S 1 f).
Am 16. März 2009 wurde DI Wolfgang Ha***** mit der Erstellung eines technischen Gutachtens beauftragt (ON 28).
Belehrungen der Beteiligten über ihr Recht, gegen die vom Gericht zu Sachverständigen bestellten Personen binnen festgesetzter Frist begründete Einwände zu erheben, sind nicht aktenkundig.
Der Angeklagten wurde nach der Aktenlage keine Möglichkeit eingeräumt, sich vor der Gebührenbestimmung zu den verzeichneten Gebühren (ON 27, 30, 57, 72) zu äußern.
Mit Urteilen des Bezirksgerichts Wels vom 3. März 2009 und vom 8. Juli 2010 wurde die Angeklagte von diversen Anklagevorwürfen gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Dem Freispruch vom 3. März 2009 lag auch das Jaqueline W***** betreffende Gutachten des Sachverständigen Dr. Gert L***** zugrunde, dessen Auftrag damit abgeschlossen war.
Der Inhalt der Verkündung wurde in den Hauptverhandlungsprotokollen entweder nicht oder nur schlagwortartig festgehalten (ON 25 S 17; ON 54 S 6).
Dem Freispruch vom 8. Juli 2010 lag der Vorwurf der Sachbeschädigung zum Nachteil des David B***** zugrunde, den die Staatsanwaltschaft bereits vor der Hauptverhandlung, nämlich am 25. Juni 2009 zurückgezogen hatte (ON 31). Eine Verständigung des Privatbeteiligten David B***** vom Rücktritt von der Anklage ist dem Akt nicht zu entnehmen.
Der von der Staatsanwaltschaft Wels mit Strafantrag vom 30. März 2010 erhobene und in das gegenständliche Verfahren einbezogene Vorwurf (ON 47) wurde der Angeklagten erst durch den am 8. Juli 2010 in der Hauptverhandlung erfolgten Vortrag zur Kenntnis gebracht (ON 54 S 3).
Dr. Gert L***** wurde mit Formblatt H 7 ein weiteres Mal zum Sachverständigen bestellt und auch zu der am 8. Juli 2010 neu durchgeführten Hauptverhandlung geladen (ON 48 iVm ON 1 S 1n), in der der Richter sowohl die der Angeklagten mit Strafantrag angelasteten Diebstahlsvorwürfe zum Nachteil des E***** als auch die Verletzungsvorwürfe betreffend Susanne G***** ausschied. Im Übrigen erfolgte ein Freispruch gemäß § 259 Z 3 StPO.
Mit Verfügung vom 10. August 2010 beraumte der Richter hinsichtlich der verbliebenen Fakten erneut die Durchführung der Hauptverhandlung an (ON 59). Eine Zustellung der Ladung an die Angeklagte ist nicht ausgewiesen.
Mit Verfügung vom 24. September 2010 verlegte der Richter den Hauptverhandlungstermin auf den 7. Dezember 2010 (ON 66). Dieser wurde Tina H***** durch das Stadtpolizeikommando Wels zur Kenntnis gebracht (ON 68). Eine Belehrung über die Konsequenzen des Ausbleibens von der Hauptverhandlung war der auf andere, der Angeklagten aber nicht zugekommene Ladungen verweisenden Verlegungsverständigung nicht zu entnehmen.
In der am 7. Dezember 2010 in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung referierte der Richter den wesentlichen Inhalt von Aktenteilen, und zwar der Anzeigen ON 2 in ON 62, ON 9 bis 11 der ON 13, ON 2 bis 4 der ON 74 des Hauptverhandlungsprotokolls ON 5, ON 20, ON 25, ON 54, des Gutachtens ON 29, des Abschlussberichts ON 7 und der Strafregisterauskunft ON 4 in ON 62 (ON 70 S 2).
Den Anklagevorwurf „E*****“ (ON 2) und den Verdacht der vorsätzlichen Verletzung der Susanne G***** (ON 47) schied er aus und verkündete letztlich das im Protokoll wie folgt festgehaltene Urteil:
„Schuldspruch und Bestrafung gemäß:
(betreffend Faktum ON 3 in ON 62):
3 Monate - FHS
§ 389 StPO“ (ON 70 S 8).
Eine diese Urteilsverkündung betreffende Ausfertigung findet sich ebenso wenig im Akt wie die Verfügung der Zustellung der Protokolle über die Hauptverhandlungen.
Zu ON 71 erliegt hingegen eine „Urteilsausfertigung“, die eine nach dem Protokoll über die Hauptverhandlung gerade nicht erfolgte Verurteilung der Tina H***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (zum Nachteil der Susanne G***** - ON 5 in ON 47) umfasst. Dieses „Urteil“ blieb unbekämpft.
Am 27. Mai 2011 erklärte die Staatsanwaltschaft Wels hinsichtlich der ausgeschiedenen Fakten gemäß § 192 StPO einen Verfolgungsverzicht (ON 79 S 1), den der Richter mit Verfügung vom 31. Mai 2011 „zur Kenntnis“ nahm.
Die über Tina H***** verhängte Freiheitsstrafe wurde vollzogen (ON 88).
Rechtliche Beurteilung
Die Generalprokuratur führt in ihrer gemäß § 23 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aus, dass eine Vielzahl der Vorgänge im Verfahren mit dem Gesetz nicht im Einklang stehen.
Soweit das 22. Hauptstück nichts anderes bestimmt, gelangen die Bestimmungen für das Hauptverfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht auch vor dem Bezirksgericht zur Anwendung (§ 447 StPO).
1./a./ § 126 Abs 3 dritter und fünfter Satz StPO idF BGBl I 2007/93 räumte den Beteiligten das Recht ein, binnen einer angemessen festzusetzenden Frist gegen die als Sachverständige ausgewählte Person begründete Einwände zu erheben, über dieses Einwendungsrecht waren die Beteiligten zu informieren. Diesem Gebot hat das Bezirksgericht weder bei der Bestellung des Dr. Gert L***** (ON 1 S 1 f) noch bei der des DI Wolfgang Ha***** (ON 28) entsprochen.
1./b./ Seit dem Inkrafttreten des Budgetbegleitgesetzes 2009, BGBl I 2009/52, am 1. Juni 2009, kommt das Einwendungsrecht nur noch dem Beschuldigten zu, dem gemäß § 126 Abs 3 letzter Halbsatz StPO auch eine Ausfertigung der Bestellung zuzustellen ist. Die Angeklagte wurde weder vom das Einwendungsrecht auslösenden Bestellvorgang in Kenntnis gesetzt noch wurde ihr eine Ausfertigung der Bestellung zugestellt.
2./ Gemäß § 39 Abs 1a GebAG idF BGBl I 2009/30 iVm § 40 Abs 1 Z 2 GebAG idF BGBl I 2007/111 und BGBl I 2009/30 ist der Person, gegen die sich das Strafverfahren richtet, Gelegenheit zur Äußerung zum Gebührenantrag des Sachverständigen zu geben. Dieser Verpflichtung kam der Richter vor der Gebührenbestimmung (ON 32, ON 58, ON 74) nicht nach.
3./ Tritt die Staatsanwaltschaft von der rechtswirksamen Anklage vor der Hauptverhandlung oder außerhalb derselben zurück, ist das Verfahren in den Fällen, in denen kein Privatbeteiligtenanschluss vorliegt, mit (deklarativ wirkenden) Beschluss einzustellen (Danek, WK-StPO § 227 Rz 1; Lendl, WK-StPO § 259 Rz 28). Die gesetzlich vorgesehene Beschlussfassung unterblieb.
4./ Hat sich ein Geschädigter im Verfahren als Privatbeteiligter angeschlossen, ist diesem der außerhalb der Hauptverhandlung erklärte Rücktritt der Staatsanwaltschaft von der Anklage gemäß § 72 Abs 3 StPO vom Gericht mitzuteilen, und zwar mit der Erklärung, dass er binnen einem Monat eine Erklärung abgeben könne, die Anklage aufrecht zu erhalten; langt eine solche nicht ein, ist das Verfahren mit Beschluss einzustellen (Danek, WK-StPO § 227 Rz 2). Nach der von der Staatsanwaltschaft erklärten Zurückziehung des den Privatbeteiligten David B***** betreffenden Anklagevorwurfs (ON 31 S 1), unterließ das Gericht die Benachrichtigung des Privatbeteiligten.
5./ Der stattdessen am 8. Juli 2010 in der Hauptverhandlung gemäß § 259 Z 3 StPO ergangene Freispruch (ON 54 S 6, ON 55) steht mit § 72 Abs 3 StPO nicht im Einklang.
6./ Entgegen § 451 Abs 1 letzter Halbsatz StPO unterblieb die unverzüglich vorzunehmende Zustellung des Strafantrags vom 30. März 2010 (ON 5 in ON 47) an die Angeklagte.
7./ Gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO hat das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben - und damit (unter anderem) auch den Ausspruch, welcher Tat der Angeklagte für schuldig befunden worden ist (Z 1) - zu enthalten. Der zitierte Vermerk im Hauptverhandlungsprotokoll genügt diesen Anforderungen nicht.
8./ Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf im Fall des Nichterscheinens der Angeklagten bei der Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit in ihrer Abwesenheit nur dann die Hauptverhandlung durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn es sich um ein Vergehen handelt, die Angeklagte gemäß § 164 oder § 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde und ihr die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde. Eine in diesem Sinn „gehörige Ladung“ setzt nicht nur die Bekanntgabe des Termins der Hauptverhandlung, sondern auch die des Gegenstands der Verhandlung sowie eine Belehrung des Gerichts über die Möglichkeit der Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit voraus (Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 9 und 11 ff). Weder wurden der Angeklagten sämtliche Anklagevorwürfe zur Kenntnis gebracht noch wurde diese nachweislich über die Folgen des Ausbleibens von der Hauptverhandlung belehrt. Die Verhandlung und Urteilsfällung am 7. Dezember 2010 in Abwesenheit der Angeklagten steht daher mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Da das zu Unrecht ergangene Abwesenheitsurteil geeignet ist, zum Nachteil der Verurteilten zu wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung mit der aus dem Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
9./ Die durch § 252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1 und Abs 2 StPO zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts durch den die Verhandlung leitenden Richter ist (auch) an die Zustimmung der Angeklagten gebunden, die in deren Fernbleiben von der Hauptverhandlung nicht erblickt werden kann (vgl RIS-Justiz RS0117012).
10./ Gemäß § 270 Abs 2 Z 4 StPO hat die eine Verurteilung betreffende Urteilsausfertigung den Ausspruch mit allen in § 260 StPO angeführten Punkten zu enthalten. Diesen Anforderungen entspricht die im Akt befindliche, einen Teil der Ausscheidung betreffende und daher im Schuldspruch von der Verkündung abweichende „Urteilsausfertigung“ nicht (ON 71).
11./ Die Unterlassung der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des in Abwesenheit verkündeten Urteils widerspricht § 427 Abs 1 letzter Satz StPO.
12./ Gemäß § 271 Abs 6 letzter Satz StPO wäre den darauf nicht verzichtenden Beteiligten spätestens zugleich mit der Urteilsausfertigung auch Ausfertigungen der Protokolle (ON 5, 20, 25, 54 und 70) zuzustellen gewesen.
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