European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00096.22Y.1213.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Der Kläger bezog anlässlich der Geburt seiner Tochter * 2012 von 11. Mai 2013 bis 10. Juli 2013 (anscheinend) einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld in der Variante „12 + 2“ in Höhe von (zunächst) vorläufig 33 EUR täglich.
[2] Im Jahr 2013 bezog der Kläger Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit von insgesamt 15.972,40 EUR. Im Juni 2013 stellte er für im Rahmen dieser Tätigkeit erbrachte Leistungen Rechnungen über zusammen 4.721 EUR netto aus, denen Aufwendungen von 10.317 EUR netto gegenüberstehen. Nach Berücksichtigung sonstiger Erlöse und Erträge ergibt sich für Juni 2013 ein negatives Ergebnis von 4.746 EUR. Tatsächlich zugeflossen sind dem Kläger im Juni 2013 18.182,87 EUR.
[3] Mit Bescheid vom 4. Dezember 2018 widerrief die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen die Zuerkennung des Kinderbetreuungsgeldes und verpflichtete den Kläger zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Leistung von 2.013 EUR. Nach den ihr bekannt gegebenen Daten habe der Kläger im Jahr 2013 selbständige Einkünfte von 15.972,40 EUR erzielt, die (nach § 8 Abs 1 Z 2 KBGG) um 30 % zu erhöhen seien. Der daraus gebildete Gesamtbetrag der Einkünfte überschreite die absolute Zuverdienstgrenze (nach § 2 Abs 1 Z 3 KBGG) von 16.200 EUR.
[4] In seiner Klage brachte der in erster Instanz unvertretene Kläger vor, dass er nach einer von seinem Steuerberater erstellten Zwischenbilanz die Zuverdienstgrenze im Monat Juni 2013 nicht überschritten habe.
[5] Die Beklagte bestritt und wandte ein, dass für die nunmehr (im sozialgerichtlichen Verfahren) vorgenommene Abgrenzung ein Nachweis der Einkünfte des Klägers im (einzigen vollen) Monat Juni 2013 erforderlich sei.
[6] Das Erstgericht stellte fest, dass der Anspruch der Beklagten auf Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 2.013 EUR nicht zu Recht besteht. Aus dem rechtzeitig nachgeholten Abgrenzungsnachweis ergebe sich, dass der Kläger die Zuverdienstgrenze nicht überschritten habe, weil im Juni 2013 die getätigten Aufwendungen die Honorare überstiegen hätten.
[7] Das Berufungsgerichtbestätigte diese Entscheidung. Zwar seien für die Beurteilung, ob die Zuverdienstgrenze überschritten worden sei, grundsätzlich nur solche Einkünfte relevant, die aus einer während des Anspruchszeitraums ausgeübten Tätigkeit stammen. Deren exakte Erhebung und Bewertung sei hier aber nur mit einem unverhältnismäßig hohen (Verwaltungs-)Aufwand möglich, sodass es ausreiche, jene Beträge heranzuziehen, die im Juni 2013 in Rechnung gestellt worden seien. Zwar müsse verhindert werden, dass die Rechnungslegung auf einen „unschädlichen“ Zeitpunkt verschoben werde. Um dies anzunehmen und eine vertiefte Prüfung auszulösen, bedürfe es aber eines konkreten Vorbringens des Versicherungsträgers, das von der Beklagten nicht erstattet worden sei. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.
[8] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag, das Klagebegehren abzuweisen. Hilfsweise stellt sie auch Aufhebungsanträge.
[9] In der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Rechtsmittelbeantwortung beantragt der Kläger, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Revision ist zulässig, weil die Vorinstanzen von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen sind. Sie ist im Umfang des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[11] 1. Voranzustellen ist, dass sich aus den Urkunden (Beilage ./1) die Ansicht der Vorinstanzen, der Kläger habe zwar einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld beantragt, aber pauschales Kinderbetreuungsgeld von 33 EUR (gemeint anscheinend nach § 5c KBGG idF BGBl I 2009/116) erhalten, nicht ableiten lässt. Tatsächlich spricht der Inhalt des „Anstaltsakts“ dafür, dass der Kläger einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld beantragte und auch bezog, wobei aber (zunächst) nur der Mindestbetrag von 33 EUR ausbezahlt wurde (§§ 24a Abs 3 iVm 33 Abs 5 KBGG). Damit wäre entgegen der Ansicht der Vorinstanzen nicht § 2 Abs 1 KBGG, sondern § 24 Abs 1 KBGG idF BGBl I 2011/139 anzuwenden (§ 50 Abs 3 KBGG). Konkrete Auswirkungen zeitigt das aber nur insofern, als damit die damalige Zuverdienstgrenze des § 24 Abs 1 Z 3 KBGG von 6.100 EUR und nicht jene des § 2 Abs 1 Z 3 KBGG von (seit BGBl I 2007/76 unverändert) 16.200 EUR pro Kalenderjahr heranzuziehen wäre. Auf die im Revisionsverfahren allein interessierende Ermittlung der maßgeblichen Einkünfte nach § 8 Abs 1 KBGG – auf den sowohl § 2 Abs 1 Z 3 als auch § 24 Abs 1 Z 3 KBGG verweisen – ergeben sich hingegen keine Auswirkungen, sodass diese Frage derzeit dahinstehen kann.
[12] 2. Im Revisionsverfahren ist nicht (mehr) strittig, dass der Kläger die Abgrenzung (Zuordnung) seiner Einkünfte noch im sozialgerichtlichen Verfahren vornehmen konnte (RIS-Justiz RS0132593; 10 ObS 22/22s ua). Darauf aufbauend vertritt die Beklagte in der Revision denStandpunkt, dass es für die Beurteilung des Überschreitens der Zuverdienstgrenze nicht auf im Anspruchszeitraum ausgestellte Rechnungen, sondern die Einkünfte aus einer in dieser Zeit ausgeübten Tätigkeit ankomme. Zudem treffe den Kläger die Beweislast dafür, dass die Zuverdienstgrenze nicht überschritten worden sei. Beide Argumente treffen zu.
[13] 3. Im Gegensatz zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 8 Abs 1 Z 1 KBGG, für die ausnahmslos das Zuflussprinzip gilt (RS0132947 [T2]; 10 ObS 52/21a ua), ist bei Einkünften aus selbständiger Tätigkeit iSd § 8 Abs 1 Z 2 KBGG eine Abgrenzung möglich: Für die Ermittlung der Zuverdienstgrenze sind nur jene Einkünfte maßgeblich, die aus einer während des Anspruchszeitraums ausgeübten Tätigkeit stammen (RS0132947; 10 ObS 75/22k; 10 ObS 152/21g ua). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Abstellen allein auf den Zufluss nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt, weil dieser keinen Aufschluss darüber gibt, ob und in welchem Umfang im Anspruchszeitraum eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde (10 ObS 144/19b SSV-NF 33/77).
[14] Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht völlig zutreffend erkannt. Nicht zu teilen ist hingegen seine Ansicht, sie seien auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden:
[15] 3.1. Die vom Berufungsgericht für seinen Standpunkt ins Treffen geführte Vereinfachung rechtfertigt es schon deshalb nicht von der dargestellten Rechtsprechung abzugehen, weil der Zeitpunkt der Rechnungslegung genauso wenig Rückschlüsse auf die aus einer selbständigen Tätigkeit im Anspruchszeitraum erzielten Einkünfte zulässt, wie der Zufluss. Das Argument des Berufungsgerichts ist auch nicht tragfähig, weil Rechnungen schon angesichts § 11 Abs 1 Z 3 lit d UStG den Leistungszeitpunkt oder ‑zeitraum aufweisen müssen und daher eine zeitliche Zuordnung der damit abgerechneten Leistungen relativ einfach möglich ist.
[16] 3.2. Es überzeugt auch nicht, wenn das Berufungsgericht der aus seiner Ansicht resultierenden Möglichkeit, im Anspruchszeitraum erbrachte Leistungen erst zu einem „unschädlichen“ Zeitpunkt abzurechnen, mit einer Behauptungs- und Beweislast des Versicherungsträgers begegnen will.
[17] 3.2.1. Nach ständiger Rechtsprechung kommt im Verfahren über die Rückforderung erbrachter Leistungen dem beklagten Versicherungsträger die materielle Klägerrolle zu (RS0086067). Das gilt auch, wenn Kinderbetreuungsgeld wegen Überschreitens der Zuverdienstgrenze zurückgefordert wird (10 ObS 11/19v SSV-NF 33/22).
[18] 3.2.2. Angesichts dessen ist zwar richtig, dass für das Vorliegen eines Rückforderungstatbestands die Beklagte behauptungs- und beweispflichtig ist (RS0086067 [T4]; 10 ObS 146/17v SSV-NF 32/35 ua). Daraus ergibt sich aber nicht, dass der Versicherungsträger für alle rechtserheblichen Tatsachen im Zusammenhang mit dem Bestehen des materiellen (Rückforderungs-)Anspruchs beweisbelastet ist. Stützt der Kläger seine Bestreitung auf rechtshemmende oder rechtsvernichtende Tatsachen, trifft ihn die objektive Beweislast für deren Vorliegen (10 ObS 174/21t; 10 ObS 19/17t [je zum KBGG] ua).
[19] 3.2.3. Der Oberste Gerichtshof hat unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 620 BlgNR 21. GP 62) schon wiederholt ausgesprochen, dass (auch) bei selbständig Erwerbstätigen grundsätzlich die Einkünfte des gesamten Jahres anzusetzen sind (10 ObS 4/19i; 10 ObS 51/12s SSV‑NF 26/34 ua). Deren Höhe ist hier ebenso unstrittig wie der Umstand, dass damit die Zuverdienstgrenze der § 2 Abs 1 Z 3 oder § 24 Abs 1 Z 3 KBGG (vgl oben 1.) überschritten wurde. Da die Beklagte somit den Nachweis des Bestehens des von ihr angezogenen Rückforderungstatbestands erbrachte, war es Sache des Klägers, den Rückforderungsanspruch vernichtende Umstände zu beweisen. Diese bestehen nach § 8 Abs 1 Z 2 KBGG darin, entsprechende Nachweise über die zeitliche Lagerung der Einkünfte – den Zuordnungsnachweis – vorzulegen (vgl VfGH G 128/08 ua, VfSlg 18.705 [ErwG 2.3.2.]), was der Kläger im Verfahren auch getan hat.
[20] 3.2.4. Von diesen Grundsätzen weicht die Ansicht des Berufungsgerichts, die Beklagte hätte ein Vorbringen dazu erstatten müssen, dass der Nachweis der im Juni 2013 gelegten Rechnungen nicht ausreiche, ab. Da die Beklagte den Standpunkt des Klägers, tatsächlich keine über der Zuverdienstgrenze liegenden Einkünfte erzielt zu haben, bestritten hat, oblag es dem Kläger, seine Behauptung auch nachzuweisen. Dafür hätte er nach § 8 Abs 1 Z 2 KBGG von sich aus – und nicht erst über ein „konkretes Vorbringen“ der Beklagten – Beweise vorlegen müssen, anhand derer sich die im Anspruchszeitraum entstandenen Einkünfte feststellen und sich von den übrigen Einkünften des Kalenderjahres auch abgrenzen lassen (vgl 10 ObS 22/22s). Der Fall, dass das bloße Bestreiten einer Partei (ausnahmsweise) als Geständnis anzusehen ist, weil die Behauptung des Gegners offenbar leicht widerlegbar war, dazu aber nie konkret Stellung genommen wurde (RS0039927; RS0039977 [T1]), liegt hier nicht vor.
[21] 4. Zusammenfassend ist die Sache noch nicht spruchreif, weil die Einkünfte des Klägers aus den von ihm im Juni 2013 erbrachten Leistungen nicht feststehen. Zudem wurde mit dem in erster Instanz unvertretenen Kläger nicht erörtert, dass die von seinem Steuerberater erstellten, auf den Zeitpunkt der Rechnungslegung bzw auf (im Juni 2013) offene Forderungen abstellenden Unterlagen nicht die nach § 8 Abs 1 Z 2 KBGG maßgeblichen Einkünfte abbilden. Die Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen istsomit zwingend.
[22] 5. Im fortzusetzenden Verfahren wird zunächst mit den Parteien zu erörtern sein, ob der Kläger pauschales oder einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bezogen hat (vgl oben 1.). Sodann werden mit dem Kläger das Ziel und die inhaltlichen Anforderungen des von ihm zu erbringenden Zuordnungsnachweises zu erörtern und ihm Gelegenheit zu geben sein, dazu allenfalls ergänzendes Vorbringen zu erstatten und weitere Beweise anzubieten. Darauf aufbauend werden sodann positive oder negative Feststellungen zu den Einkünften des Klägers zu treffen sein, die er aus seinen im Juni 2013 (als einzigen vollen Anspruchsmonat) ausgeübten Tätigkeiten erzielte. Erst wenn der Sachverhalt in diese Richtung verbreitert wurde, kann abschließend über die Klage entschieden werden.
[23] 6. Der Revision ist daher Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
[24] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO iVm § 2 ASGG.
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