OGH 10ObS87/16s

OGH10ObS87/16s19.7.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Dr. Werner Posch, Rechtsanwalt in Gloggnitz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert‑Stifter‑ Straße 65, 1200 Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 25. Mai 2016, GZ 9 Rs 123/15x‑17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00087.16S.0719.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger erlitt am 4. Juli 2011 bei einem Arbeitsunfall einen Bruch des linken Unterarms. Mit Bescheid vom 1. März 2013 gewährte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt dem Kläger eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente. Tatsächlich lag zum Gewährungszeitpunkt die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit bei nur 5 bis 10 vH. Derzeit liegt die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers unter 5 vH. Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt ist es nur zu einer geringfügigen Verbesserung der Beweglichkeit des linken Handgelenks gekommen.

Mit Bescheid vom 28. Jänner 2015 entzog die beklagte Partei dem Kläger die Versehrtenrente per 1. April 2015 mit der Begründung, dass wesentliche Unfallfolgen nicht mehr vorhanden seien.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, dem Kläger die Versehrtenrente von 20 vH der Vollrente über den 31. März 2015 hinaus zu gewähren. Im Vergleich zu den Verhältnissen zum Gewährungszeitpunkt sei nur eine geringfügige und damit unwesentliche Verbesserung eingetreten, die den Entzug der Versehrtenrente nicht rechtfertige.

Das Berufungsgericht wies das Begehren auf Gewährung der Versehrtenrente über den 31. März 2015 hinaus ab und ließ die Revision mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.

Für die Entziehung sei jede Besserung des Zustands, sofern sie eine Auswirkung auf das rentenbegründende Maß der Minderung der Erwerbsfähigkeit habe, relevant, selbst wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten dadurch um weniger als um 10 vH gebessert werde. Das Gesetz sehe für diesen Fall eine Mindestgrenze für die Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht vor. Nach den Feststellungen sei zum Gewährungszeitpunkt tatsächlich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 bis 10 vH vorgelegen. Im Zeitpunkt der Entziehung habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit weniger als 5 vH betragen. Diese Änderung im Sachverhalt durchbreche die Rechtskraft des Zuerkennungsbescheids und rechtfertige die Entziehung der Dauerrente.

In seiner außerordentlichen Revision macht der Kläger geltend, dass sich der Sachverhalt, auf dem die Zuerkennung der Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente basiere, nicht geändert habe. Aus § 183 Abs 1 ASVG sei im Übrigen abzuleiten, dass nur ein Änderungsmaß von 10 vH oder mehr relevant sein könne.

Rechtliche Beurteilung

Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.

1. Nach § 183 Abs 1 Satz 1 ASVG hat der Unfallversicherungsträger bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgebend waren, auf Antrag oder von Amts wegen die Rente „neu festzustellen“ (dh zu erhöhen, herabzusetzen oder zu entziehen). Die Bestimmung bezieht sich auf die Rechtskraft von Leistungsbescheiden und Leistungsurteilen sowie die Rechtswirksamkeit von Vergleichen über die Versehrtenrente: Eine Neufeststellung der Rente ist nur bei einer „wesentlichen Änderung der Verhältnisse“ zulässig.

Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse nach § 183 Abs 1 Satz 2 ASVG „nur“, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG).

2. Unter Rechtskraftgesichtspunkten kann von einer Änderung der Verhältnisse nur dann gesprochen werden, wenn sich der Sachverhalt, also die Befundlage und nicht bloß die Schlussfolgerungen aus der Befundlage, geändert hat. Wurde eine Dauerrente einmal festgestellt, dann können seinerzeitige Fehleinschätzungen betreffend das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht im Wege einer Neufeststellung korrigiert werden (RIS-Justiz RS0084142; RS0110119 [T3]; Müller in SV‑Komm [Stand: 1. 3. 2014] § 183 ASVG Rz 14).

3. Zur Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse ist der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Wege stünde (RIS‑Justiz RS0084151). Die Verhältnisse zum Zeitpunkt dieser (Gewährungs‑)Entscheidung sind mit den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Entziehungsentscheidung zu vergleichen (RIS‑Justiz RS0084151 [T5]). Entscheidend ist, ob sich der tatsächliche Zustand des Versicherten seit der die Grundlage der Gewährung bildenden Untersuchung wesentlich geändert hat (RIS-Justiz RS0084194).

4. Liegt eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor, muss eine ursprünglich unrichtige Einschätzung (mangels einer weiter bestehenden Rechtskraftwirkung) nicht fortgeschrieben werden (vgl 10 ObS 182/89, SSV‑NF 3/86; 10 ObS 336/89, SSV-NF 3/140; 10 ObS 145/12i, SSV-NF 26/75; 10 ObS 28/13k, SSV‑NF 27/19), sondern es kann die aktuelle (richtige) Einschätzung der neuen Entscheidung zugrunde gelegt werden.

5. Damit ist entscheidend, ob es sich bei der Besserung im Zustand des Klägers um eine wesentliche Änderung handelt.

5.1. Seit dem Inkrafttreten des SRÄG 1988, BGBl 1987/609, mit 1. Jänner 1988 definiert § 183 ASVG zwei Fälle der Wesentlichkeit. Der erste Tatbestand betrifft eine – hier nicht relevante – Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit um „mindestens 10 vH“. Im zweiten Tatbestand lässt der Gesetzgeber Auswirkungen auf den Rentenanspruch als wesentliche Änderung genügen. In diesem zweiten Fall kommt jeder Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit – etwa um 5 vH (10 ObS 15/11w, SSV‑NF 25/27) – wesentliche Bedeutung im Sinne einer Durchbrechung der Rechtskraftwirkung zu ( Müller in SV‑Komm [Stand: 1. 3. 2014] § 183 ASVG Rz 23).

5.2. Im vorliegenden Fall lag zum Gewährungszeitpunkt die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit bei 5 bis 10 vH. In der Folge kam es zu einer geringfügigen Verbesserung der Beweglichkeit des linken Handgelenks, sodass die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers derzeit unter 5 vH liegt.

5.3. Durchaus vertretbar hat das Berufungsgericht die Ansicht vertreten, dass in der Besserung, die zu einer in etwa im Bereich von 5 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt hat, eine wesentliche Änderung zu sehen ist, die gemäß § 183 Abs 1 Satz 2 2. Fall ASVG zum Wegfall des Rentenanspruchs führt. Andernfalls käme man zu dem schwer vertretbaren Ergebnis, dass ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt worden ist, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen müsste, während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die (aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte) Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte.

6. Mangels erheblicher Rechtsfrage ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

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