OGH 10ObS8/23h

OGH10ObS8/23h21.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Mag. Emilijan Pantic, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1081 Wien, Josefstädter Straße 80, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. Juli 2022, GZ 9 Rs 49/22 z‑39, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00008.23H.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die 1943 geborene Klägerin benötigt Betreuung und Hilfe bei der Zubereitung von Mahlzeiten, Einnahme von Medikamenten, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Pflege der Leib- und Bettwäsche, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn und es sind Motivationsgespräche erforderlich. Für die Versorgung mit Vorlagen aufgrund der Harninkontinenz, die sie selbst durchführen kann, benötigt die Klägerin aufgrund der schwankenden dementiellen Verfassung an manchen Tagen Motivation und Ermahnung zum Herrichten, Wechseln und Wegräumen der Inkontinenzutensilien.

[2] Mit Bescheid vom 31. Juli 2020 lehnte die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau den Antrag der Klägerin vom 7. April 2020 auf Erhöhung des Pflegegeldes der Stufe 1 ab.

[3] Das Erstgericht wies das auf Zahlung eines die Stufe 1 übersteigenden Pflegegeldes ab 1. Mai 2020 gerichtete Klagebegehren ab. Es ging von einem Pflegebedarf von durchschnittlich 93 Stunden monatlich aus. Weder bei der Reinigung nach Inkontinenz, noch beim damit verbundenen An- und Auskleiden sei Hilfe erforderlich, sodass der Richtwert von 20 Stunden pro Monat nach § 1 Abs 3 EinstV erheblich unterschritten werde und der konkrete Pflegebedarf anzusetzen sei. Da die Klägerin an Tagen mit schlechter Verfassung auf den Wechsel des Inkontinenzmaterials vergesse, müsse eine Erinnerung und Aufforderung erfolgen, woraufhin sie den Wechsel selbständig durchführen könne. Den dafür erforderlichen Pflegebedarf setzte das Erstgericht auf Basis des eingeholten Sachverständigengutachtens mit zehn Stunden monatlich an.

[4] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es habe weder der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens noch einer mündlichen Erörterung der von der behandelnden Ärztin verfassten „gutachterlichen Stellungnahme“ bedurft. Es verneinte darüber hinaus einen Verstoß des Erstgerichts gegen die Anleitungspflicht und gegen das Überraschungsverbot. Das Erstgericht habe auch zu Recht von einer Einvernahme der Klägerin als Partei zu ihrem Gesundheitszustand abgesehen. Da der Beweiswürdigung des Erstgerichts hinreichend deutlich entnommen werden könne, dass und warum es dem vorliegenden Sachverständigengutachten gefolgt sei, liege auch der gerügte Begründungsmangel nicht vor. Mangels gesetzmäßig ausgeführter Beweisrüge legte es den festgestellten Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde.

[5] Anhaltspunkte für den von der Berufung angestrebten höheren Pflegebedarf für die Inkontinenzversorgung oder die Reinigung der Wäsche und der Wohnung im Zusammenhang mit der bestehenden Inkontinenz habe das Beweisverfahren nicht erbracht, sodass ein solcher Pflegebedarf nicht zu berücksichtigen sei. Die Annahme eines Pflegebedarfs von zehn Stunden für den konkreten Betreuungsbedarf durch Erinnerung im zeitlichen Zusammenhang mit der Inkontinenzversorgung sei nicht zu beanstanden. Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[6] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Klägerin ist nicht zulässig.

[7] 1.1. Angebliche Verfahrensmängel erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0042963). Ob ein in der Berufung behaupteter Verfahrensmangel vom Berufungsgericht zu Recht verneint wurde, ist vom Revisionsgericht auch in Sozialrechtssachen nicht mehr zu prüfen (RS0043061). Diese Grundsätze gelten nur dann nicht, wenn eine Mängelrüge infolge unrichtiger Anwendung von Verfahrensvorschriften unerledigt blieb, oder wenn das Berufungsgericht einen gerügten Mangel erster Instanz mit einer aktenwidrigen oder rechtlich unhaltbaren Begründung verneinte.

[8] 1.2. Das Berufungsgericht ging auf die in der außerordentlichen Revision neuerlich geltend gemachten Verfahrensmängel erster Instanz ein und verneinte sie mit ausführlicher Begründung, sodass von einer bloß formelhafter (Schein-)Erledigung keine Rede sein kann. Mit der Behauptung das eingeholte Sachverständigengutachten, das die Vorinstanzen als nachvollziehbar werteten, gehe zu Unrecht von einer Verbesserung der Inkontinenz der Klägerin aus und es sei keine objektivierte Messung der Harninkontinenz durchgeführt worden, zeigt die Klägerin weder eine aktenwidrige noch eine rechtlich unhaltbare Begründung durch das Berufungsgericht auf. Die in der Revision angestrebte inhaltliche Prüfung der vom Berufungsgericht herangezogenen Gründe für die Verneinung der Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens hat nicht zu erfolgen (10 ObS 195/21f mwN).

[9] 2.1. Eine Mangelhaftigkeit des Berufungs-verfahrens sieht die Revisionswerberin darin, dass das Berufungsgericht von einer nicht gesetzmäßig ausgeführten Beweisrüge ausging.

[10] 2.2. Dem ist zu entgegnen, dass sie bestimmte bekämpfte und ersatzweise begehrte Feststellungen auch in der Revision nicht konkret bezeichnet und auch nicht konkret darlegt, aufgrund welcher Angaben die Beweisrüge in der Berufung gesetzmäßig ausgeführt worden sein soll. Die pauschale und nicht näher konkretisierte Angabe, die zur gesetzmäßigen Ausführung erforderlichen Angaben gemacht zu haben, genügt dafür genauso wenig, wie die seitenlange und im Wesentlichen wortgleiche Wiedergabe der Berufungsausführungen in ihrer Gesamtheit. Überdies hat sich das Berufungsgericht mit einzelnen Tatfragen und den diesbezüglichen Beweisergebnissen ohnehin befasst (Berufungsurteil Seiten 8, 10 ff). Die Würdigung des Berufungsgerichts, dass das Sachverständigengutachten, auf dem die Beweiswürdigung des Erstgerichts fußte, bei der Annahme eines Betreuungsaufwands für die Inkontinenzversorgung gut nachvollziehbar sei und das Beweisverfahren für einen zusätzlichen Pflegebedarf im Zusammenhang mit der bestehenden Inkontinenz keine Anhaltspunkte geliefert habe, betrifft die nicht revisible Beweiswürdigung.

[11] 3.1. Der Revisionsgrund des § 503 Z 4 ZPO liegt nur dann vor, wenn in ihm, ausgehend vom festgestellten Sachverhalt, aufgezeigt wird, dass dem Berufungsgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts ein Rechtsirrtum unterlaufen ist (RS0043312). Dabei genügt es nicht, die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts mit bloßen „Leerformeln“ oder pauschal – daher der Sache nach begründungslos – zu bekämpfen (RS0043654 [T14]), und fehlt es an einer gesetzmäßigen Ausführung, wenn sich die Klägerin mit den Argumenten des Berufungsgerichts gar nicht auseinandersetzt (RS0043603 [T9]).

[12] 3.2. Diesen Anforderungen werden die Revisionsausführungen nicht gerecht. Soweit sie eine unrichtige rechtliche Beurteilung aus den behaupteten Verfahrensmängeln und aus der behaupteten unrichtigen Beweiswürdigung ableitet und die Rechtsansicht der Vorinstanzen, ihr gebühre Pflegegeldstufe 1 statt Pflegegeldstufe 2, als unrichtig bezeichnet, legt sie nicht konkret dar, inwiefern die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen auf Basis der getroffenen Feststellungen unrichtig sein soll. Mit der Behauptung eines höheren tatsächlichen Betreuungsbedarfs geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Die im Wesentlichen wortgleiche Wiederholung der Berufungsausführungen lässt im Übrigen eine Auseinandersetzung mit der Argumentation des Berufungsgerichts vermissen.

[13] 4. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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