OGH 10ObS77/12i

OGH10ObS77/12i5.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Weitergewährung der Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. März 2012, GZ 11 Rs 28/12k-21, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1.1. Nach § 223 Abs 2 ASVG hat die Feststellung, ob ein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit eingetreten ist, ausschließlich zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag zu erfolgen (RIS-Justiz RS0111054). Im Fall der Weitergewährung einer befristeten Invaliditätspension ist der für die befristete Leistung maßgebliche (ursprüngliche) Stichtag heranzuziehen, zu dem festzustellen ist, ob Invalidität noch, erstmals oder wieder gegeben ist. Zu prüfen ist, ob zu diesem (ursprünglichen) Stichtag die in § 255 ASVG genannten Voraussetzungen gegeben sind, etwa auch ob Berufsschutz vorliegt (RIS-Justiz RS0105152).

1.2. Im vorliegenden Fall erhielt der am 13. 1. 1951 geborene Kläger, der (unstrittig) keinen Berufsschutz genießt, eine vom 1. 6. 2006 bis 31. 10. 2009 befristete Invaliditätspension. Da der Kläger die Weitergewährung der Invaliditätspension über den 31. 10. 2009 hinaus beantragt, ist demnach der (ursprüngliche) Stichtag 1. 6. 2006 maßgeblich.

2.1. Die Rechtsprechung lässt eine „Stichtagsverschiebung“ auf einen vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz gelegenen Zeitpunkt zwar grundsätzlich zu, sofern - etwa durch eine Rechtsänderung zum Vorteil des Versicherten - dann die Anspruchsvoraussetzungen auf eine Versicherungsleistung gegeben sind (RIS-Justiz RS0085973). Es ist in diesem Fall nach Zeiträumen zwischen der bisher geltenden und der neuen Rechtslage (ab dem neuen Stichtag) zu differenzieren.

2.2. Zu einer Rechtsänderung kam es im vorliegenden Fall durch das BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, mit welchem die sogenannte „Härtefallregelung“ nach § 255 Abs 3a ASVG eingeführt wurde. Nach dieser Regelung gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens 12 Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

2.3. Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

2.4. Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft.

3.1. Das Gericht hat grundsätzlich auf eine Änderung der Rechtslage in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern eine neue Bestimmung ihrem Inhalt nach auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden ist. Ob eine Gesetzesänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist, ist nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen (RIS-Justiz RS0031419). Die Anwendung der neuen Bestimmungen des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG kommt erst für Stichtage ab 1. 1. 2011 in Betracht.

3.2. Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, führt im vorliegenden Fall die Gesetzesänderung jedoch schon deshalb zu keiner „Stichtagsverschiebung“ auf den 1. 1. 2011, weil die neue Rechtslage im Hinblick auf die Besonderheiten des Weitergewährungsverfahrens keine Berücksichtigung zu finden hat:

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass es sich bei einem Verfahren über die Weitergewährung einer befristet zuerkannten Invaliditätspension um einen letztlich einheitlichen Versicherungsfall handelt, dessen Voraussetzungen durch den für die befristete Leistung maßgeblichen Stichtag bestimmt werden. Wie bereits oben zu Punkt 1.1. ausgeführt, ist ausschließlich zu diesem (ursprünglichen) Stichtag festzustellen, ob Invalidität noch, erstmals oder wieder gegeben ist. Bezogen auf diesen (ursprünglichen) Stichtag ist zu beurteilen, ob Invalidität unter allen in § 255 ASVG genannten Voraussetzungen eingetreten ist (RIS-Justiz RS0105152). Andere Anspruchsvoraussetzungen wie beispielsweise die Erfüllung der Wartezeit sind nicht mehr zu prüfen (10 ObS 2055/96w). Die zum Stichtag geltende Rechtslage ist der Prüfung aller Anspruchsvoraussetzungen zu Grunde zu legen (RIS-Justiz RS0115809).

3.3. Zum Zeitpunkt des im vorliegenden Fall maßgeblichen (ursprünglichen) Stichtags 1. 6. 2006 standen die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG idF des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, noch nicht in Geltung. Es kann somit dahingestellt bleiben, ob die neue Regelung dem Kläger zum Vorteil gereichen könnte. Wollte er einen neuen - nach dem 1. 1. 2011 liegenden - Stichtag auslösen und damit einen neuen Versicherungsfall herbeiführen, auf den § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG idF des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, bereits anwendbar ist, könnte er nur einen Antrag auf Neugewährung stellen (siehe zuletzt 10 ObS 156/11f mwN).

Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht im Einklang mit diesen Grundsätzen der Rechtsprechung. Eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zeigt der Revisionswerber mit seinen Ausführungen nicht auf.

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