European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00073.22S.1122.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Begründung:
[1] ImVerfahren ist zu klären, ob dem Kläger für den Zeitraum von 1. Juli 2017 bis 15. November 2018 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer (§ 253b ASVG idF vor der Aufhebung mit dem BBG 2003, BGBl I 2003/71, iVm § 617 Abs 13 und § 607 Abs 12 ASVG, künftig „ASVG aF“) zusteht und ob er zur Rückzahlung der von 1. Juli 2017 bis 15. November 2018 bezogenen vorläufigen Leistung verpflichtet ist.
[2] Mit Bescheid vom 16. Jänner 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers, ihm ab 1. Juli 2017 (Stichtag) die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer zuzuerkennen, ab und verpflichtete ihn zum Rückersatz des (im Zeitraum 1. Juli 2017 bis 15. November 2018) entstandenen Überbezugs an vorläufig geleisteter Pension in Höhe von 46.353,59 EUR.
[3] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer im strittigen Zeitraum nicht weggefallen und er nicht zum Rückersatz der vorläufig gewährten Pensionszahlungen verpflichtet sei. Er brachte zusammengefasst vor, dass er Ende Juni 2017 sowohl seine Tätigkeit als Geschäftsführer der E* GmbH (künftig kurz: E GmbH) beendet als auch seine Gewerbeberechtigung zurückgelegt habe. In der Folge habe er nur mehr ein geringfügiges Einkommen als Prokurist der E GmbH bezogen, um ein bereits fertig gestelltes, aber noch nichtzur Gänze abgerechnetes Großprojekt zum Abschluss zu bringen. Das dafür bezogene (geringfügige) Entgelt sei angesichts des Umfangs seiner dabei entfalteten Tätigkeiten angemessen gewesen. Eine Gewinnausschüttung durch die E GmbH an ihn sei in den Jahren 2017 und 2018 nicht erfolgt, weil Gewinne tatsächlich nicht erwirtschaftet worden seien.
[4] Die Beklagte hielt dem entgegen, dass der Kläger zwischen Juli 2017 und November 2018 anstatt des zuvor und danach bezogenen, weit höheren Entgelts als Geschäftsführer der E GmbH zwar lediglich ein geringfügiges Einkommen aus seiner unselbständigen Tätigkeit erzielt habe. Er habe dieses geringe Entgelt aber nur akzeptiert, seine Geschäftsführungsbefugnis zurückgelegt und keine Gewinne aus der E GmbH entnommen, um in den Genuss der Pension zu kommen. Das stelle einen Missbrauch der ihm zukommenden Gestaltungsmöglichkeiten dar, sodass die nicht entnommenen Gewinne in dem Umfang als Einkommen zu qualifizieren seien, in dem sie einem angemessenen Entgelt entsprechen.
Das Erstgericht wies die Klage ab, wobei es von folgendem, vom Kläger großteils bekämpften (wesentlichen) Sachverhalt ausging:
[5] Der Kläger war und ist Alleingesellschafter der E GmbH. Als deren handelsrechtlicher Geschäftsführer erzielte er bis 30. Juni 2017 ein selbstständiges Erwerbseinkommen von zuletzt durchschnittlich 5.300 EUR im Monat.
[6] Von 28. Juni 2017 bis 22. November 2018 war die Gattin des Klägers Geschäftsführerin und er selbst Prokurist der E GmbH, wofür er ein geringfügiges Einkommen von 425,70 EUR erhielt. Seit 23. November 2018 ist nunmehr wieder der Kläger Geschäftsführer der E GmbH. Der Kläger wählte diese Konstruktion, um die begehrte Pension beziehen zu können und übte (im strittigen Zeitpunkt) seine frühere, mit der Geschäftsführerfunktion verbundene Tätigkeit zumindest überwiegend weiter aus. Ein Fremdgeschäftsführer hätte die vom Kläger erbrachten Leistungen nicht um das von ihm bezogene Entgelt erbracht. Das angemessene Entgelt für diese Tätigkeit betrug deutlich mehr als 500 EUR monatlich.
[7] Bis 30. Juni 2017 war der Kläger überdies mit einem Geschäftsanteil von 25 % an der M* GmbH (in der Folge nur noch: M GmbH) beteiligt und auch deren (handelsrechtlicher) Geschäftsführer mit einem Gehalt von 776,72 EUR. Ab 28. Juni 2017 war zunächst A* und ab 20. März 2018 die Gattin des Klägers Geschäftsführerin der M GmbH. Mit deren Pensionsantritt übernahm ab 23. November 2018 wieder der Kläger diese Funktion. Obwohl der Kläger die Tätigkeit als Geschäftsführer der M GmbH zumindest während des Zeitraums, als seine Gattin Geschäftsführerin war, überwiegend ausübte und ihm dafür auch ein Entgelt zugestanden wäre, bezog er ein solches nicht. Auch diese Konstruktion wählte der Kläger, um die begehrte Pension zu erlangen.
[8] Die E GmbH wies für das Geschäftsjahr 2017 (bei einem Mitarbeiterstand von 16 Personen, einem Umsatz von 2.392.109,44 EUR und einem Jahresüberschuss von 58.077,03 EUR) einen Bilanzgewinn von 218.341,41 EUR aus. Für das Geschäftsjahr 2018 wies sie (bei einem Jahresüberschuss von 30.924,75 EUR) einen Bilanzgewinn von 249.266,15 EUR aus.
[9] Daraus folgerte das Erstgericht unter Verweis auf den Anspruch auf ein angemessenes Entgelt, dass aus dem Vorgehen des Klägers, nur ein geringfügiges Einkommen zu beziehen, seine mit der Führung der Geschäfte völlig unerfahrene Gattin zur Geschäftsführerin der E GmbH zu bestellen, diese Tätigkeit de facto aber weiter selbst auszuüben, und keine Gewinne auszuschütten, auf eine missbräuchliche Inanspruchnahme der gewählten Konstruktion zu schließen sei. Er müsse sich daher nicht nur jene Gewinne anrechnen lassen, die er nicht entnommen habe, sondern auch ein seiner Tätigkeit entsprechendes Einkommen.
[10] Das Berufungsgerichtgab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil im klagestattgebenden Sinn ab. Das Erstgericht und die Beklagte würden bei ihrer Argumentation übersehen, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum weder (handelsrechtlicher) Geschäftsführer der E GmbH noch einer anderen Gesellschaft gewesen sei. Die Rechtsprechung stelle bei der Anrechnung des Gewinns als Einkommen aber nur auf Gesellschafter ab, die gleichzeitig Geschäftsführer seien. Ausschließlich in dieser Konstellation sei es zur Vermeidung des Missbrauchs von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten gerechtfertigt, nicht zwischen dem Einkommen als Geschäftsführer und jenem als Gesellschafter zu unterscheiden. Auf Gesellschafter, die nur Prokuristen der Gesellschaft seien und denen daherkeine organschaftliche Stellung zukomme, sei diese Rechtsprechung nicht zu übertragen. Ob die E GmbH in den Jahren 2017 und 2018 Gewinne erwirtschaftet habe, sei daher nicht relevant, weil diese für den Kläger kein Einkommen darstellten.
[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts anstrebt. Hilfsweise stellt sie Aufhebungsanträge.
[12] In seiner Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, die Revision zurückzuweisen, eventualiter ihr nicht Folge zu geben. Hilfsweise begehrt er, die Sache an das Erst- oder das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
[13] Die Revision ist zulässig und im Umfang des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[14] 1. Voranzustellen ist, dass im Verfahren über die Rückforderung bereits erbrachter Leistungen dem beklagten Versicherungsträger die materielle Klägerrolle zukommt. Wird das Rückforderungsbegehren ausdrücklich auf einen bestimmten Rechtsgrund gestützt, ist das Gericht daran gebunden; ein anderer Rückforderungstatbestand ist nicht zu prüfen (RIS‑Justiz RS0086067).
[15] 2. Im Verfahren sind die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer nach § 253b ASVG aF unstrittig: Die Pension ist nur zuzuerkennen, wenn der Versicherte am Stichtag weder der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem ASVG, dem GSVG, dem BSVG und (oder) dem FSVG unterliegt noch aus sonstigen selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeiten ein Erwerbseinkommen bezieht, das das gemäß § 5 Abs 2 ASVG jeweils in Betracht kommende Monatseinkommen übersteigt (§ 253b Abs 1 Z 4 ASVG aF). Mit dem Tag, an dem der Versicherte eine Erwerbstätigkeit ausübt, die das Entstehen eines Anspruchs gemäß Abs 1 Z 4 ausschließen würde, fällt die Pension weg (§ 253b Abs 2 ASVG aF). Hier stützt die Beklagte die Rückforderung ausschließlich auf den zweiten, von einer Pflichtversicherung unabhängigen Tatbestand des § 253b Abs 1 Z 4 ASVG aF, weil der Kläger im relevanten Zeitraum in Wahrheit eine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe, für die er einen die Geringfügigkeitsgrenze übersteigende Entgeltanspruch gehabt habe. Die weitere Prüfung hat sich somit darauf zu beschränken.
[16] 3. Nach der ständigen, von den Parteien nicht bezweifelten Rechtsprechung ist dem Gesellschafter einer GmbH, der im Hinblick auf seinen Anteil wesentliche Gestaltungsmöglichkeiten auf die Beschlussfassung der Gesellschaft hat und weiterhin als Geschäftsführer tätig ist, alles das, was ihm unter welchem Titel auch immer von der Gesellschaft zufließt bzw worauf er Anspruch hat, als Einkommen dieser Tätigkeit anzurechnen (RS0111048; 10 ObS 77/15v SSV‑NF 29/57 ua). Entfaltet er ohne Anspruch auf ein angemessenes Entgelt eine Tätigkeit für die Gesellschaft, kann ein (nicht entnommener) Gewinn in dem Umfang als Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit zugerechnet werden, als er zusammen mit dem tatsächlichen Geschäftsführergehalt einem angemessenen Entgelt für seine Tätigkeit entspricht (RS0083793). Dies beruht auf der Überlegung, dass eine rechtsmissbräuchliche Ausübung der Möglichkeit zur Gestaltung von Einkünften nicht zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehen darf. Konstruktionen, die im Zusammenhang mit § 253b ASVG aF nicht auf den Ersatz von verlorenem Erwerbseinkommen, sondern darauf abzielen, dem Anspruchswerberein weiteres (zusätzliches) Einkommen zu verschaffen, sollen so verhindert werden (10 ObS 79/16i SSV‑NF 30/52; 10 ObS 330/98x SSV‑NF 12/154).
[17] 4. Darauf aufbauend hat das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass der Oberste Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung die Zurechnung nicht ausgeschütteter Gewinne auf Gesellschafter beschränkt hat, die gleichzeitig Geschäftsführer sind und auch maßgeblichen Einfluss auf die Gestion der Gesellschaft haben. Im Fall eines Minderheitsgesellschafters, der als Dienstnehmer der Gesellschaft nur ein geringfügiges Einkommen bezog, wurden – mangels Vorbringens der dort Beklagten in Richtung eines Rechtsmissbrauchs – die Gewinne der Gesellschaft demgemäß auch nicht berücksichtigt (10 ObS 80/16m SSV‑NF 30/74). Insofern kommt die Beklagte auf die Tätigkeit des Klägers für die M GmbH in der Revision auch zu Recht nicht mehr zurück. Das formale Merkmal der Geschäftsführerstellung ist angesichts des § 539a Abs 2 und 3 ASVG für sich aber nicht entscheidend, weil für die Beurteilung von Sachverhalten nicht allein die äußere Erscheinungsform maßgebend ist.
[18] 4.1. Legt man den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt zugrunde, würde die gewählte Konstruktion einen Missbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts darstellen, weil sie anders als mit der Absicht der Umgehung gesetzlicher Regelungen nicht erklärt werden könnte (vgl VwGH Ra 2016/08/0074, 2009/08/0010 ua; Müller in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 539a ASVG Rz 25; Derntl in Sonntag, ASVG13 § 539a Rz 3): Schon das Erstgericht hat zutreffend darauf verwiesen, dass der Kläger als Alleingesellschafter der E GmbH einen in dieser Hinsicht unerfahrenen und noch dazu zum Familienverband zählenden Dritten zum Geschäftsführer bestellte, sich gleichzeitig aber mit der Prokura ausstatten ließ und die Geschäfte gegen ein bloß geringfügiges Entgelt in (genau) der Höhe des § 5 Abs 2 ASVG zumindest überwiegend selbst weiterführte. Ein solches Vorgehen lässt nur den Schluss zu, dass der Kläger die Geschäfte von Anfang an selbst weiterführen und die Geschäftsführung gerade nicht dem von ihm bestellten Fremdgeschäftsführer überlassen wollte (so auch VwGH 2000/08/0097 zu einem vergleichbaren Sachverhalt). Denn ein sachlicher Grund, seine Gattin zur Geschäftsführerin zu bestellen und sich die notwendigen Vertretungsbefugnisse über den Umweg der Prokura (wieder) einräumen zu lassen, anstatt selbst Geschäftsführer zu bleiben, ist nicht erkennbar. Abgesehen davon, dass das Erstgericht das Motiv für dieses Modell (positiv) festgestellt hat, kann aus diesem Sachverhalt nur der Schluss gezogen werden, dass die Konstruktion allein deshalb gewählt wurde, um dem Kläger zwar die Befugnisse zur (faktischen) Geschäftsführung zu vermitteln, ihm jedoch gleichzeitig den Bezug der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer zu ermöglichen.
[19] 4.2. Konsequenz daraus ist, dass sich der Kläger nach § 539a Abs 3 ASVG wie ein formeller Geschäftsführer behandeln lassen müsste, ohne dass dies Auswirkungen auf die Position der formgerecht bestellten Geschäftsführerin zeitigt (Müller in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 539a ASVG Rz 34). Darauf aufbauend müsste er sich wie ein (Allein‑)Gesellschafter‑Geschäftsführer in dem Umfang etwaige nicht entnommene Gewinne der E GmbH anrechnen lassen, als diese zusammen mit seinem tatsächlich bezogenen (geringfügigen) Einkommen einem angemessenen Entgelt für die von ihm entfaltete Tätigkeit entspricht.
[20] 5. Zusammenfassend hält die Rechtsansicht des Berufungsgerichts einer Überprüfung nicht stand. Eine abschließende Beurteilung ist allerdings noch nicht möglich, weil das Berufungsgericht – ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht – die den Großteil des relevanten Sachverhalts betreffende Mängel- und Beweisrüge des Klägers unbehandelt gelassen hat. Entscheidungsreif ist die Sache erst, wenn auf einem mängelfreien Verfahren und einer unbedenklichen Beweiswürdigung beruhende Feststellungen vorliegen.
[21] In Stattgebung der Revision ist das Urteil des Berufungsgerichts daher aufzuheben und die Rechtssache zur Erledigung der Berufung des Klägers an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
[22] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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