OGH 10ObS69/12p

OGH10ObS69/12p26.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau (Senat nach § 11a ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F***** (auch F*****), ***** vertreten durch Kölly Anwälte OG in Oberpullendorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Wiederaufnahme, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 28. März 2012, GZ 8 Rs 160/11z‑42, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 23. September 2011, GZ 16 Cgs 167/08z‑38, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit seiner beim Landesgericht Eisenstadt als Arbeits‑ und Sozialgericht am 24. 6. 2008 zu 16 Cgs 167/08z eingebrachten Klage begehrte der Wiederaufnahmskläger (im Folgenden nur: „Kläger“) die Zuerkennung der Invaliditätspension mit dem Vorbringen, es habe sich eine wesentliche Änderung seines zuletzt im Vorverfahren zu 16 Cgs 17/07i festgestellten Gesundheitszustands ergeben. Insbesondere die Folgen des Verkehrsunfalls vom Jahre 2003 hätten sich immer mehr verstärkt. Die bereits im Vorverfahren festgestellte mittelgradige Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik habe nunmehr ein Ausmaß angenommen, dass schwere Schlafstörungen, Angst‑ und Erregungszustände, Unruhe und Nervosität auftreten. Er leide weiters an stärker werdenden kognitiven Defiziten mit Störungen der Konzentrations‑ und Merkfähigkeit, Kopfschmerzen und Schwindelanfällen, weshalb er nicht mehr in der Lage sei, eine berufliche Tätigkeit auszuführen.

Die beklagte Partei beantragte in diesem Verfahren die Zurückweisung der Klage unter Hinweis darauf, dass der Kläger eine wesentliche Änderung seines Gesundheitszustands nicht glaubhaft gemacht habe.

Der vom Landesgericht Eisenstadt als Arbeits‑ und Sozialgericht bestellte neurologisch‑psychiat-rische Sachverständige erstellte nach Einsichtnahme in verschiedene medizinische Unterlagen und Befunde (ua) die Diagnose, es liege ein Zustand nach Polytrauma mit schwerem Schädel‑Hirntrauma vor sowie eine „Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik, mittelgradig“, und gelangte zu der Schlussfolgerung, der Kläger sei noch in der Lage, leichte Arbeiten (mit weiteren Einschränkungen) zu verrichten. Aufgrund der weiters eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten traf das Landesgericht Eisenstadt als Arbeits‑ und Sozialgericht in seinem Urteil vom 16. 9. 2010 die Feststellung, gegenüber dem Vorverfahren habe sich der Zustand verschlechtert, weil der Kläger nun nicht mehr in der Lage sei, mittelschwere Arbeiten zu verrichten, sondern ihm nur mehr leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen möglich seien. Rechtlich sei davon auszugehen, dass der Kläger, der keinen Berufsschutz genieße, aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verschiedene Tätigkeiten, beispielsweise die Tätigkeit eines Portiers oder Aufsehers in einem Museum oder Versteigerungshaus, verrichten könne und daher nicht invalid iSd § 255 ASVG sei. Dieses Urteil wurde dem Kläger am 11. 2. 2011 zugestellt.

Mit der am 10. 3. 2011 beim Erstgericht eingelangten Klage begehrt der Kläger gestützt auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO die Wiederaufnahme des Verfahrens 16 Cgs 167/08z des Landesgerichts Eisenstadt als Arbeits‑ und Sozialgericht und die Aufhebung des darin ergangenen Urteils; unter einem erhob er gegen dieses Urteil auch Berufung. Als Begründung für die Wiederaufnahmsklage wird angeführt, das im Hauptprozess erstattete neurologisch‑psychiatrische Sachverständigengutachten habe auf einer unzulänglichen Grundlage beruht, weil es ohne Einholung eines Computertomographiebefunds erstellt worden sei. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz habe der Kläger über Anraten einer Bekannten den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F***** aufgesucht, der festgestellt habe, dass das durch den im Jahr 2003 erlittenen Verkehrsunfall verursachte schwere Schädel‑Hirntrauma noch niemals in Form einer Computertomographie untersucht worden sei. Aus dem dann (erstmals) eingeholten Computertomographiebefund ergebe sich eine erhebliche organische Schädigung des Gehirns. Am 24. 2. 2011 habe Dr. F***** den Kläger von der Tatsache in Kenntnis gesetzt, dass die durch die Computertomographieuntersuchung nunmehr objektivierte (organische) Gehirnschädigung Ursache der angegebenen kognitiven Defizite und psychischen Beschwerden sei und seiner Einschätzung nach Arbeitsunfähigkeit vorgelegen sei. Mangels des erforderlichen medizinischen Fachwissens hätten der Kläger und auch sein Rechtsanwalt zuvor nicht beurteilen können, welche Diagnosemethoden zielführend seien, sodass sie gehindert gewesen seien, aus eigenem die Durchführung einer Computertomographie des Gehirns zu einem früheren Zeitpunkt zu veranlassen.

Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage vor Zustellung an die beklagte Partei im Vorverfahren zurück. Rechtlich ging es davon aus, die Wiederaufnahme wegen neuer Beweismittel sei grundsätzlich nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außerstande sei, das relevante Beweismittel vor Schluss der Verhandlung erster Instanz geltend zu machen. Der Kläger wäre bei Anwendung gebührender Sorgfalt aber schon früher in der Lage gewesen, das neue Beweismittel anzubieten. Es sei ihm während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens freigestanden, Dr. F***** oder einen anderen Neuro‑Psychiater aufzusuchen, um mit entsprechenden Befunden eine Änderung des gerichtlichen Gutachtens herbeizuführen. Dass Dr. F***** eine andere gutachterliche Bewertung vorgenommen habe, erfülle nicht die Voraussetzung neuer Tatsachen oder Beweismittel iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO.

Das Rekursgericht gab dem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs des Klägers nicht Folge. Es sprach aus, dass der Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Rechtlich ging es davon aus, es stelle keinen Wiederaufnahmegrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO dar, wenn ein anderer Gutachter ein abweichendes Gutachten erstattet habe. Nur wenn dieses Gutachten auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnismethoden beruht hätte, die zur Zeit des Vorprozesses noch nicht bekannt waren, handle es sich um ein neues Beweismittel iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO. Die Rechtsansicht des Erstgerichts, es sei dem Kläger schon während des erstinstanzlichen Verfahrens freigestanden, einen Neuropsychiater aufzusuchen und entsprechende Befunde vorzulegen, sei zutreffend.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne der Bewilligung der Wiederaufnahme des Hauptprozesses abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Über den außerordentlichen Revisionsrekurs ist gemäß § 11a Abs 3 Z 2 ASGG ohne Beiziehung fachkundiger Laienrichter zu entscheiden (10 ObS 23/03k, SSV‑NF 17/31).

1.2. Da der Rechtsmittelzug bei Wiederaufnahmsklagen nicht anders gestaltet ist als im wiederaufzunehmenden Verfahren, ist ein die Zurückweisung der Wiederaufnahmsklage aus formellen Gründen bestätigender Beschluss nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO nicht absolut unanfechtbar (RIS‑Justiz RS0116279). Ein solcher Beschluss kann vielmehr unter den Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO angefochten werden.

2. Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor:

Der Revisionsrekurswerber macht im Wesentlichen geltend, das neurologisch‑psychiatrische Gutachten beruhe auf unzulänglichen Grundlagen, weil dem gerichtlichen Sachverständigen ein Computertomographiebefund des Gehirns nicht vorgelegen sei. Einem nachträglich hervorgekommenen Befund, durch welchen die Urteilsgrundlagen vervollständigt würden, könne aber die Eignung als Wiederaufnahmegrund nicht von vornherein abgesprochen werden. Eine Prüfung des Verschuldens gemäß § 530 Abs 2 ZPO habe im Vorprüfungsverfahren nicht stattzufinden.

Dazu ist auszuführen:

2.1. Nach dem vom Kläger geltend gemachten Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen und Beweismittel (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO) berechtigen nur solche neuen Tatsachen und Beweismittel zur Wiederaufnahmsklage, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine der Partei günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Dieser Wiederaufnahmegrund soll der materiellen Wahrheit grundsätzlich in jenen Fällen zum Durchbruch verhelfen, in denen die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen unrichtig oder unvollständig waren (10 ObS 169/03f, 9 Ob 7/05b ua).

2.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein nachträglich beigebrachtes Gutachten aber dann keine neue Tatsache, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt war (RIS‑Justiz RS0044834). Dies gilt zB auch in einem Fall, in dem nach den Klagebehauptungen ein Arzt nach Abschluss des Hauptprozesses eine Stellungnahme abgegeben hat, deren Ergebnis von dem im Hauptprozess eingeholten Gutachten abweicht (10 ObS 104/06a). Es kann daher ‑ auch in Sozialrechtssachen ‑ eine Wiederaufnahmsklage nicht darauf gestützt werden, dass ein anderer Sachverständiger später ein abweichendes Gutachten erstattet hat. Dazu bedürfte es weiterer Umstände, etwa des Nachweises, dass der im Hauptverfahren vernommene Sachverständige eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt habe oder dass die jüngeren Gutachten auf einer neuen wissenschaftlichen Methode basieren, die zum Zeitpunkt der Begutachtung im Hauptverfahren noch unbekannt war (RIS‑Justiz RS0044555; RS0044834; Kodek in Rechberger, ZPO3 § 530 ZPO, Rz 15). Ebensowenig kann die Wiederaufnahmsklage allein darauf gestützt werden, dass spätere Tatsachen die objektive Unrichtigkeit ihres Gutachtens ergeben haben (RIS‑Justiz RS0044834 [T6]).

2.3. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der Oberste Gerichtshof mehrfach die Ansicht vertreten, einem nachträglichen Gutachten könne die Eignung als Wiederaufnahmegrund dann nicht von vornherein abgesprochen werden, wenn das Gutachten des Hauptprozesses auf einer unzulänglichen Grundlage beruhte, die durch das neue Gutachten richtiggestellt oder vervollständigt wird (9 Ob 7/05b mwN). So wurde die unrichtige Grundlage eines Sachverständigengutachtens als tauglicher Wiederaufnahmegrund angesehen, wenn ein als Zeuge vernommener Arzt seine Aussage später widerrufen und das Gutachten ‑ auch ‑ auf dieser Aussage aufgebaut hatte (10 ObS 169/03f). Zu 9 Ob 7/05b wurde als Wiederaufnahmegrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO eine Unvollständigkeit der Beurteilungsgrundlage anerkannt, weil aus den gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen die Schlussfolgerung ableitbar sein könnte, der Sachverständige habe im Rahmen der Gutachtenserstellung selbst keine (eigene) Befundung von MRT‑Bildern vorgenommen, sondern nur auf die Kurz‑Resümee‑Beurteilung eines Befundes zurückgegriffen.

2.4. Im vorliegenden Fall stützt der Kläger das Wiederaufnahmebegehren aber nicht auf Umstände, die denen der Entscheidungen 10 ObS 169/03f und 9 Ob 7/05b vergleichbar wären, sondern auf einen erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erstellten Computertomographiebefund des Gehirns sowie auf die von einem Privatgutachter aus diesem Befund gezogene ‑ vom Ergebnis des Gutachtens im Hauptprozess abweichende ‑ gutachterliche Schlussfolgerung. Die beim Kläger gegebenen medizinischen Einschränkungen infolge des schweren Schädel‑Hirntraumas und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit waren aber bereits im Hauptprozess bei der Erstellung der Gutachten ein zentrales Thema und führten zu den oben wiedergegebenen Feststellungen. Sollte der neurologisch‑psychiatrische Sachverständige seiner seinem Sachverständigeneid entsprechenden Verpflichtung, das Gutachten nach dem letzten Stand der Wissenschaft abzugeben und alle notwendigen oder zweckdienlichen Erweiterungen der Untersuchung anzuregen oder vorzunehmen, zuwidergehandelt haben oder aus den zum Zeitpunkt seiner Untersuchung vorhandenen medizinischen Unterlagen und Befunde falsche Schlüsse gezogen oder zwingende Schlussfolgerungen unterlassen haben, hätte dies allenfalls zu einer im Vorverfahren zu bekämpfenden Unrichtigkeit seines Gutachtens geführt. Es begründet für sich allein aber nicht den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, wenn sich aus späteren Tatumständen die Unrichtigkeit eines Gutachtens ergeben sollte (RIS‑Justiz RS0044555 [T4, T5]). Dazu hätte es weiterer Umstände bedurft, die vom Rekursgericht mangels entsprechenden Vorbringens in jedenfalls vertretbarer Weise als nicht gegeben erachtet wurden. Dass der neurologisch‑psychiatrische Sachverständige eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt hat oder die Methode der Computertomographie zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens unbekannt war, hat der Revisionsrekurswerber zu Recht nicht ins Treffen geführt.

3. Gemäß § 538 Abs 1 ZPO hat das Gericht vor Anberaumung einer Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung über die Wiederaufnahmsklage zu prüfen, ob diese auf einen der gesetzlichen Anfechtungsgründe (§§ 529 bis 531 ZPO) gestützt ist und in der gesetzlichen Frist erhoben worden ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist sie als zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung ungeeignet zurückzuweisen. Die Frage, ob die als Wiederaufnahmegrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO geltend gemachten Umstände von Vornherein ersichtlich keinen Einfluss auf die Entscheidung in der Hauptsache haben können, ist im Vorprüfungsverfahren nur abstrakt zu prüfen. Ergibt diese abstrakte Prüfung, dass die in der Klage vorgebrachten Tatsachen sogar dann, wenn man sie als richtig unterstellt, zu keiner Änderung der früheren Entscheidung führen können, sind die vorgebrachten Umstände als Wiederaufnahmegrund untauglich.

4. Wenn das Rekursgericht im vorliegenden Fall die abstrakte Eignung der geltend gemachten Gründe zur Herbeiführung einer anderslautenden Entscheidung im Hauptprozess schon im Vorprüfungsverfahren verneint und die Wiederaufnahmsklage gemäß § 538 Abs 1 ZPO als zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung ungeeignet zurückgewiesen hat, steht dies im Einklang mit den oben dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung. Eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung liegt darin nicht.

Da der Revisionsrekurswerber keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist der Revisionsrekurs zurückzuweisen.

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