European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00054.20V.0728.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich seines in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt lautet:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab dem Stichtag eine Invaliditätspension, in eventu ein Rehabilitationsgeld zu gewähren, wird abgewiesen.
2. Die klagende Partei hat ihre Verfahrenskosten aller Instanzen selbst zu tragen.“
Entscheidungsgründe:
Die ***** 1965 geborene Klägerin arbeitete von Oktober 1982 bis Februar 1983 in Deutschland. Von 1984 bis 1991 war sie in Wien beschäftigt. Von Juli 1992 bis März 1995 sowie von Mai 1995 bis Mai 2015 arbeitete sie wieder in Deutschland. Sie ist serbische Staatsangehörige, lebt in Deutschland und verfügt seit 3. 5. 2010 über einen unbefristeten deutschen Aufenthaltstitel. In Österreich hat sie 84 Versicherungsmonate und in Deutschland 275 Monate an Versicherungszeiten der Pflichtversicherung erworben.
Von 7. 7. bis 13. 10. 2014 und von 6. 11. bis 19. 12. 2014 erhielt sie von einer deutschen Krankenkasse eine Entgeltersatzleistung in Form eines Krankengeldes. Mit Bescheid vom 3. 11. 2015 wurde ihr in Deutschland eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. 12. 2014 in der Höhe von 563,32 EUR zuerkannt. Diese Rente war zunächst bis 31. 10. 2016 befristet. Mit Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 22. 7. 2016 erhielt sie die Zusage einer monatlichen Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet bis 31. 10. 2018. Sie erhielt von Mai 2015 bis Dezember 2016 deutsches Pflegegeld der Pflegestufe 1. Seit Verlagerung ihres beruflichen Schwerpunkts nach Deutschland im Juli 1992 erhielt sie keine Leistungen aus der österreichischen Kranken ‑ oder Pensionsversicherung.
Im Revisionsverfahren strittig ist die Verpflichtung Österreichs, das österreichische Rehabilitationsgeld an die Klägerin, die in Deutschland lebt und dort überwiegend berufstätig war, zu zahlen.
Mit Bescheid vom 22. 2. 2016 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension ab, sprach aus, dass vorübergehende Invalidität in der Dauer von mindestens sechs Monaten ab 1. 5. 2015 vorliege, als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten sei, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der österreichischen Krankenversicherung bestehe.
Die Klägerin begehrte in ihrer dagegen erhobenen Klage die Gewährung einer Invaliditätspension, in eventu den Zuspruch von Rehabilitationsgeld.
Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt bestritt – soweit noch relevant – die Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld an die Klägerin mit Wohnsitz in Deutschland zu zahlen. Die letzte Beschäftigung der Klägerin in Österreich sei im März 1991 beendet worden. Es bestehe kein Naheverhältnis zu Österreich.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension (rechtskräftig) ab. Es stellte fest, dass ab 1. 5. 2015 für voraussichtlich mindestens 6 Monate vorübergehende Invalidität vorliege und als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation das Ergebnis weiterer Therapiemaßnahmen abzuwarten sei, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien und die Klägerin seit 1. 5. 2015 Anspruch auf Rehabilitationsgeld habe.
Das Berufungsgericht gab der von der Pensionsversicherungsanstalt gegen die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld erhobenen Berufung nicht Folge. Wie das Erstgericht bejahte es die Verpflichtung der Beklagten, das Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen. Die VO 883/2004 gelte auch für Drittstaatsangehörige wie die Klägerin, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Mitgliedstaat Deutschland habe. Das Rehabilitationsgeld sei Gegenleistung zu den in Österreich gezahlten Versicherungsbeiträgen. Die dadurch erworbene Vergünstigung dürfe nicht durch Inanspruchnahme der Freizügigkeitsrechte eines Unionsbürgers verloren gehen. Die Revision sei zur Klärung der Frage des Exports von Rehabilitationsgeld bei lange zurückliegenden österreichischen Versicherungszeiten und einem länger zurückliegenden Aufenthalt in Österreich zulässig.
Die Beklagte erhob gegen das Urteil des Berufungsgerichts eine außerordentliche Revision .
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 19. 12. 2018, AZ 10 ObS 66/18f, in einem gleichgelagerten Fall, in dem der Export von Rehabilitationsgeld an eine seit 1992 in Deutschland lebende und dort erwerbstätige Klägerin, strittig war, dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist das österreichische Rehabilitationsgeld nach den Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
‑ als Leistung bei Krankheit nach Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung oder
‑ als Leistung bei Invalidität nach Art 3 Abs 1 lit c der Verordnung oder
‑ als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach Art 3 Abs 1 lit h der Verordnung
zu qualifizieren?
2. Ist die Verordnung (EG) Nr 883/2004 im Licht des Primärrechts dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat als ehemaliger Wohnstaat und Beschäftigungsstaat verpflichtet ist, Leistungen wie das österreichische Rehabilitationsgeld an eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu zahlen, wenn diese Person den Großteil der Versicherungszeiten aus den Zweigen Krankheit und Pension als Beschäftigte in diesem anderen Mitgliedstaat (zeitlich nach der vor Jahren stattgefundenen Verlegung des Wohnsitzes dorthin) erworben hat und seitdem keine Leistungen aus der Kranken‑ und Pensionsversicherung des ehemaligen Wohn‑ und Beschäftigungsstaats bezogen hat?“.
Mit Beschluss vom 19. 12. 2018, AZ 10 ObS 92/18d, hat der Oberste Gerichtshof das vorliegende Revisionsverfahren bis zur Entscheidung über dieses Vorabentscheidungsersuchen unterbrochen.
Der EuGH hat die gestellten Fragen in seinem Urteil vom 5. März 2020, C‑135/19, wie folgt beantwortet:
„1. Eine Leistung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rehabilitationsgeld stellt eine Leistung bei Krankheit iSd Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung dar.
2. Die Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie einer Situation nicht entgegensteht, in der einer Person, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat nicht mehr sozialversichert ist, nachdem sie dort ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben und ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in dem sie gearbeitet und den größten Teil ihrer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, von der zuständigen Stelle ihres Herkunftsmitgliedstaats die Gewährung einer Leistung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rehabilitationsgeldes versagt wird, da diese Person nicht den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterliegt, sondern den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Wohnsitz hat.“
Nach Einlangen der Vorabentscheidung war das Revisionsverfahren fortzusetzen. Die – nach Freistellung durch den Obersten Gerichtshof nicht beantwortete – Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt.
Der EuGH stellte klar, dass eine Klägerin als nicht erwerbstätige Person mit Wohnsitz in Deutschland unter Art 11 Abs 3 lit e der Verordnung Nr 883/2004 fällt, nach dieser Bestimmung ausschließlich den Sozialrechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaats, demnach den deutschen Rechtsvorschriften, unterliegt und nach Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit und Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht mehr dem österreichischen System der sozialen Sicherheit angehört (Rn 50–52).
Diese Kriterien gelten auch im vorliegenden Fall. Damit ist die im Revisionsverfahren entscheidende Frage des Exports von Rehabilitationsgeld zugunsten der beklagten Partei beantwortet. Es besteht keine Verpflichtung, das Rehabilitationsgeld als Leistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung Nr 883/2004 an die Klägerin zu zahlen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 ASGG. Anhaltspunkte für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit iSd § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG bestehen nicht und werden auch nicht geltend gemacht.
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