OGH 10ObS51/13t

OGH10ObS51/13t28.5.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhold Hohengartner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Robert Schuler, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter‑Straße 65-67, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, und die auf Seiten der beklagten Partei beigetretenen Nebenintervenientinnen 1. A***** & Co, *****, vertreten durch Dr. Karl Ulrich Janovsky, Rechtsanwalt in Innsbruck, und 2. Ing. W*****, vertreten durch Dr. Christian Ortner, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Integritätsabgeltung, über die außerordentlichen Revisionen der beklagten Partei und der ersten Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 15. Jänner 2013, GZ 25 Rs 135/12g‑90, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 21. Mai 2012, GZ 46 Cgs 240/05y‑82, in der Hauptsache bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:010OBS00051.13T.0528.000

 

Spruch:

Beide außerordentlichen Revisionen werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Am 7. 4. 2004 brach auf einer Baustelle eine 4,20 m hohe Konsolenbühne aus ihrer Verankerung und stürzte in die Tiefe. Der Kläger, der gerade als Maurer auf der Konsolenbühne beschäftigt war, wurde zu Boden geschleudert und erlitt schwere Verletzungen. Er begehrt den Zuspruch von Integritätsabgeltung.

Soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich, sind die Feststellungen wie folgt zusammenzufassen:

„Zur Befestigung der linken Seite der Konsolenbühne an der Betonzwischendecke hatte der Polier den in der Montageanleitung des Herstellers vorgegebenen Durchsteckanker mit einer Länge von 18 cm verwendet. Da er die für die Montage der Konsolenbühne vorgesehenen restlichen Durchsteckanker schon anderweitig auf der Baustelle verwendet hatte, benützte er zur Montage des Aufhängeschuhs auf der rechten Seite der Betonzwischendecke statt des vorgesehenen Durchsteckankers einen Schlaganker mit einer Länge von nur 5 cm. Dabei war ihm bewusst, dass er die Montageanleitung des Herstellers nicht befolgte. Zugleich unterschritt er bei Setzen des Bohrlochs den in den verbindlichen Vorgaben des Herstellers geforderten Minimalabstand von 14 cm zwischen der Achse des Bohrlochs und dem Rand der Betondecke (Seite 12, 13 des Ersturteils). Darüberhinaus hatte er in die rechte Seite der Betonzwischendecke bereits vier Löcher nebeneinander im Achsabstand von 4 bis 5 cm gebohrt. Vom Hersteller wird (bei Verwendung des vorgegebenen Durchsteckankers) aber ein minimaler Achsabstand (der Bohrlöcher) von 10 cm gefordert. Das Setzen der vier nebeneinanderliegenden Bohrlöcher hatte seinen Grund darin, dass der Polier erst bei seiner fünften Bohrung nicht mehr auf Bewehrungsstahl gestoßen war und tief genug bohren konnte, um den Schlaganker zur Gänze ins Bohrloch einzuschlagen. Nach der Montage nahm der Polier keine statische Überprüfung der Tragfähigkeit der Konsolenbühne vor; dazu hätten ihm auch die Kenntnisse gefehlt. Er sprang auf der Konsolenbühne lediglich mehrmals auf und ab. Zwei Tage nach der Montage kam es zum Unfall, als die Verankerung auf der rechten Seite ausbrach. Dies war darauf zurückzuführen, dass der vom Polier benützte Schlaganker für die Befestigung einer Konsolenbühne seiner Funktion nach ungeeignet war: Bei Verwendung eines geeigneten Dübels und fachgerechter Montage ohne Unterschreitung des vorgeschriebenen Mindest- und Randabstands wäre es nicht zum Ausbruch an der Betondecke und dem Absturz der Konsolenbühne gekommen. Die zu geringe Setztiefe des Schlagankers führte aber zu einer Überbelastung des Betons und in der Folge zu seinem Ausbruch. Zudem wirkten sich die mehrfach gebohrten Löcher und der zu geringe Achsabstand schwächend auf die Betonfestigkeit aus. Jeder der Montagefehler für sich genommen wäre geeignet gewesen, den Ausriss der Verankerung herbeizuführen.

Das Erstgericht sprach aus, das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. 4. 2004 eine Integritätsabgeltung im Ausmaß von 40 % der am 7. 4. 2004 geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213a Abs 3 ASVG zu gewähren, bestehe dem Grunde nach zu Recht. Unter einem trug es der beklagten Partei auf, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von 40.000 EUR binnen 14 Tagen zu erbringen.

Das Berufungsgericht bestätigte die Klagestattgebung und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig verletzt worden seien. Gemäß § 55 Abs 1 BauV in der maßgeblichen Fassung müssten Gerüste in dem für die Ausführung der Arbeiten und den Schutz der Arbeitnehmer notwendigen Umfang nach fachmännischen Grundsätzen und gemäß den anerkannten Regeln der Technik errichtet werden. Diese Grundsätze und Regeln hätten in der Gerüstmontageanleitung des Gerüstherstellers Niederschlag gefunden, die eine Unfallverhütungs‑ bzw Arbeitnehmerschutzvorschrift darstelle. Die Annahme einer leichten Fahrlässigkeit, also einer Sorgfaltswidrigkeit, wie sie auch sorgfältigen Baufachkräften immer wieder unterlaufe, scheide im Hinblick auf die Schwere der mehrfachen Verstöße gegen die Montageanleitung aus. Es seien naheliegende und einfache, den Unfall verhindernde Maßnahmen unterlassen worden, wie die Verwendung des richtigen Ankers und die Beachtung des zulässigen Rand- und Achsabstands. Dass ein Ausreißen der Gerüstbefestigung und ein damit einhergehender Personenschaden subjektiv nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich erscheinen hätte müssen, könne angesichts der krassen Missachtung der Montageanleitung nicht in Zweifel gezogen werden.

Gegen diese Entscheidung richten sich die außerordentlichen Revisionen der beklagten Partei und der ersten Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei (dem Bauunternehmen).

Rechtliche Beurteilung

Beide Revisionen sind unzulässig.

I. Vorerst ist zu beiden Rechtsmitteln gemeinsam auszuführen:

1. Die Entscheidung hängt von der Lösung der Rechtsfrage ab, ob der Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutz-vorschriften verursacht wurde (§ 213a Abs 1 ASVG). Strittig ist nur noch, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt.

2. Nach ständiger Rechtsprechung ist grobe Fahrlässigkeit iSd §§ 213a und 334 Abs 1 ASVG dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RIS‑Justiz RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RIS‑Justiz RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RIS‑Justiz RS0052197). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrads ist auch nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung zuzumessen (RIS‑Justiz RS0085332; RS0031127; RS0030644). Zu prüfen ist, ob nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt wurden (RIS‑Justiz RS0052197 [T7], RS0085228). Der objektiv besonders schwere Sorgfaltsverstoß muss auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen sein (RIS‑Justiz RS0030272; Fellinger in SV‑Komm § 213a Rz 10). Bei der Beurteilung des Verschuldensgrads sind jeweils die Umstände des Einzelfalls zu prüfen (RIS‑Justiz RS0085228; RS0089215; RS0105331).

Von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung weichen die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht ab.

II. Zur außerordentlichen Revision der beklagten Partei:

1. Nach den Feststellungen war dem Polier bewusst, dass er bei Verwendung des nur 5 cm langen Schlagankers (statt des 18 cm langen Durchsteckankers) die Montageanleitung des Gerüstherstellers nicht befolgt hat. Die Vorinstanzen erachteten diesen objektiv groben Sorgfaltsverstoß auch als subjektiv schwer vorwerfbar. Dem steht nicht entgegen, dass der Polier ‑ wie die Revisionswerberin vorbringt ‑ aufgrund seiner Ausbildung und Kenntnisse subjektiv gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Folgen seines Handelns abzuschätzen, was insbesondere daraus deutlich werde, dass er die Konsolenbühne bis zum Unfall auch selbst benützt habe. Dabei übersieht die Revisionswerberin, dass die Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten die hier erkennbare, anzunehmende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei einem Verstoß gegen die Montageanleitung nicht beseitigt. Es geht um die Abgrenzung des Verschuldens, bei dessen Beurteilung kein subjektiver, sondern ein objektiver, nach Betriebshierarchie typisierender Maßstab anzulegen ist (10 ObS 217/94, SSV‑NF 9/3). Die Ansicht der Vorinstanzen, der Polier habe bei objektiver Betrachtungsweise als Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften bei der fehlerhaften Montage der Konsolenbühne ganz einfache und naheliegende Überlegungen und Handlungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz unterlassen, stellt jedenfalls keine Fehlbeurteilung dar, die ein korrigierendes Einschreiten des Obersten Gerichtshofs erforderlich macht.

2. Die von der beklagten Partei zitierte Entscheidung 8 ObA 8/08x betraf einen anders gelagerten Sachverhalt. Der Beklagte war kein „professioneller Gerüsterrichter“ im Rahmen eines Vertragsverhältnisses, sondern baute ein Gerüst, um selbst an seiner eigenen Garage unter Mitwirkung seines Sohnes sowie im Rahmen der Nachbarschaftshilfe tätiger Personen den Außenputz aufzubringen. Wenngleich das Gerüst nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprach, wurde die Wertung des Berufungsgerichts, es liege keine grobe Fahrlässigkeit vor, im Hinblick darauf nicht als Fehlbeurteilung erachtet, dass es sich um ein für Verputzarbeiten übliches Gerüst handelte, das im Rahmen der Nachbarschaftshilfe verwendet wird und an den Beklagten nicht derselbe strenge Maßstab anzulegen sei, wie an einen professionellen, erwerbsmäßig Tätigen. Diese Aussagen sind auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

III. Zur außerordentlichen Revision der ersten Nebenintervenientin:

1. Zum Revisionsvorbringen, es liege deshalb keine grobe Fahrlässigkeit vor, weil nur ein „lebensmüder“ Mensch ein für ihn subjektiv erkennbar falsch und gefährlich aufgehängtes Gerüst selbst benützen würde, ist auf die Ausführungen oben zu Pkt II.1 zu verweisen.

2. Mit dem Vorbringen, die Konsolenbühne habe sich für den Polier „absturzsicher präsentiert“, die trotzdem bestehende Gefährlichkeit „in Form des falschen Dübels“ sei „keine offenkundige, sondern eine versteckte, geheime Mangelhaftigkeit und Schadensursache“, es sei am Bau nicht untypisch, dass „verschiedene Kombinationen von Dübeln und Schrauben“ verwendet werden und „mehrere (auch unnotwendige) Bohrlöcher nebeneinander vorhanden seien“, wird keine außerhalb der Bandbreite gerichtlicher Entscheidungen liegende und daher vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende grobe Fehlbeurteilung aufgezeigt. Auch die weiteren Ausführungen, es habe sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände gehandelt, der Polier habe über 15 Jahre Erfahrung im Baugewerbe verfügt und die Konsolenbühne vor dem Unfall bereits mehrfach verwendet, sind nicht geeignet, die Wertung der Vorinstanzen, es liege eine grob fahrlässige Übertretung der Arbeitnehmerschutzvorschriften vor, als unvertretbar in Frage zu stellen.

3. Zu den angeblichen rechtlichen Feststellungsmängeln kann auf die Ausführungen im Berufungsurteil (dessen Seiten 36 f) verwiesen werden.

Da der Unterschied zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit nur aus den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ableitbar ist, stellt die Beurteilung des Verschuldensgrads unter Anwendung der richtig dargestellten Grundsätze, ohne dass ein wesentlicher Verstoß gegen maßgebliche Abgrenzungskriterien vorläge, keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RIS‑Justiz RS0105331). Da der zu lösenden Rechtsfrage somit keine über diesen Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt, sind beide Revisionen zurückzuweisen.

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