OGH 10ObS45/08b

OGH10ObS45/08b27.5.2008

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Thomas Neumann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Eva-Maria Florianschütz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Laszlo D*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Mag. Dr. Geza Simonfay, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Jänner 2008, GZ 10 Rs 164/07x-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 6. März 2007, GZ 13 Cgs 206/05m-26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 24. April 1958 geborene Kläger bezieht von der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt für die Folgen seines Arbeitsunfalls vom 29. 6. 2001 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 % der Vollrente als Dauerrente. Er war vor dem Arbeitsunfall als Koch beschäftigt und ist seither arbeitslos.

Sein - im Revisionsverfahren allein noch verfahrensgegenständliches - Begehren auf Erhöhung der Versehrtenrente nach § 205 Abs 3 ASVG wurde von den Vorinstanzen abgewiesen. Das Berufungsgericht bejahte im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs die Zulässigkeit des Rechtswegs für die Überprüfung der Ermessensentscheidung des Sozialversicherungsträgers über eine Erhöhung der Versehrtenrente bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit des Versicherten nach § 205 Abs 3 ASVG. Der Versicherte habe bei sogenannten Pflichtleistungen ohne individuellen Rechtsanspruch („freiwillige Leistungen") einen Anspruch auf gesetzmäßige Ermessensausübung, der auch verfahrensmäßig nachprüfbar sein müsse. Bei der hier zu beurteilenden freiwilligen Leistung einer Erhöhung der Versehrtenrente gemäß § 205 Abs 3 ASVG sei zu berücksichtigen, dass es sich dabei nur um eine mögliche „zusätzliche" Leistung handle. Die Höhe der Versehrtenrente als „Grundleistung" sei im Gesetz nach den Kriterien der Höhe der Beitragsgrundlage einerseits und des Grades der Erwerbsunfähigkeit andererseits unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Schwerversehrtheit (Zusatzrente nach § 205a ASVG) definiert. Das versicherte Risiko der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei daher durch die Pflichtleistung der Versehrtenrente mit individuellem Leistungsanspruch bereits abgesichert. Dazu komme, dass im Rahmen der Bemessung der Versehrtenrente als Pflichtleistung auch sogenannte „Härtefälle" zu berücksichtigen seien. Habe ein Versicherter eine besonders spezialisierte Berufsausbildung genossen, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, gar nicht zulasse oder in weit größerem Umfang einschränke als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, sei ein Abweichen von der medizinischen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt. Das Anknüpfen an die „unverschuldete Arbeitslosigkeit" des Versehrten infolge des Arbeitsunfalls in § 205 Abs 3 ASVG stehe auch in einem gewissen Widerspruch zur Konstruktion der gesetzlichen Unfallversicherung, da diese keine Berufsversicherung darstelle und die Minderung der Erwerbsfähigkeit daher unabhängig vom zuletzt ausgeübten Beruf nach den Verhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarkts zu beurteilen sei. Schließlich sei auch die finanzielle Dimension einer möglichen Erhöhung der Versehrtenrente nach § 205 Abs 3 ASVG für den Versicherungsträger zu berücksichtigen, da wohl eine Vielzahl an Versehrten (auch) infolge eines erlittenen Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit zumindest phasenweise in Arbeitslosigkeit gerate. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen stelle sich der von der beklagten Partei gewählte Weg einer generellen Abstandnahme von der Möglichkeit einer „freiwilligen" Erhöhung der Versehrtenrente nach § 205 Abs 3 ASVG als eine nach sachlichen Kriterien in rational nachvollziehbarer Weise getroffene Entscheidung dar und bewege sich somit im Rahmen einer sachlichen Ermessensausübung.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision gegen seine Entscheidung zulässig sei, weil der Oberste Gerichtshof bisher zur (inhaltlichen) Überprüfung einer Ermessensentscheidung des Unfallversicherungsträgers nach § 205 Abs 3 ASVG durch das Gericht nicht Stellung genommen habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer vollinhaltlichen Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision kein Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

Der Kläger macht in seinem Rechtsmittel im Wesentlichen geltend, der Gleichheitsgrundsatz dürfe nicht so ausgelegt werden, dass es zulässig wäre, durch eine nicht korrekte Ermessensübung sämtlichen Antragstellern entsprechende Leistungen vorzuenthalten und diese dadurch „gleichzustellen". Im Gegenteil spreche die Tatsache, dass die beklagte Partei bisher nie eine - für die Versicherten - positive Entscheidung in dieser Angelegenheit getroffen habe, für eine gesetzwidrige Ermessensübung, weil davon auszugehen sei, dass auch bei Ermessensentscheidungen letztlich stets nur eine richtige Entscheidung getroffen werden könne und es - in Anbetracht der Tatsache, dass eine entsprechende Gesetzesbestimmung überhaupt existiere - schon sehr unwahrscheinlich sei, dass sämtliche bisher anhängig gewesenen Fälle so gelagert gewesen seien, dass eine positive Entscheidung nicht in Frage gekommen sei. Es stelle keine korrekte Ermessensübung dar, wenn die beklagte Partei offensichtlich aus budgetären Erwägungen bisher grundsätzlich keine entsprechende Leistung gewährt habe. Es bedürfe außerdem konkreter Erwägungen und Feststellungen zur Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit der beklagten Partei im Verhältnis zum geltend gemachten Anspruch. Die Regelung der Versehrtenrente entspreche schadenersatzrechtlichen Gesichtspunkten, weshalb sowohl die individuelle und konkrete Erwerbsfähigkeitseinbuße des Versehrten (also seine Erwerbsfähigkeitsminderung bezogen auf den von ihm vor dem Unfall ausgeübten Beruf) als auch seine individuelle und abstrakte Erwerbsfähigkeitsminderung (also jene, die sich in den ihm sonst zugänglichen Berufen auswirke) zu berücksichtigen seien. Die Vorinstanzen hätten daher die für den Fall des Klägers wesentlichen Gesichtspunkte, ob dieser tatsächlich infolge des erlittenen Arbeitsunfalls unverschuldet arbeitslos gewesen sei, die Dauer der Arbeitslosigkeit sowie die Frage, ob es sich beim Kläger um einen „Härtefall" handle, im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens berücksichtigen müssen.

Diesen Ausführungen ist folgendes entgegenzuhalten:

Nach § 205 Abs 3 ASVG kann, solange der Versehrte infolge des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit unverschuldet arbeitslos ist, die Teilrente bis zur Vollrente erhöht werden. Es ist im vorliegenden Verfahren nicht strittig, dass es sich bei der Erhöhung einer Versehrtenrente im Sinne dieser Gesetzesstelle um eine „freiwillige" Leistung (ohne individuellen Rechtsanspruch des Versicherten) handelt, bei der nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten

Gerichtshofs (vgl 10 ObS 258/02t = SSV-NF 17/17 = DRdA 2004/22, 263

[zust Naderhirn] = ZAS 2004/31, 183 [abl Haslinger]; SSV-NF 18/67;

SSV-NF 19/34; RIS-Justiz RS0117386) - entgegen der noch von der älteren Rechtsprechung vertretenen Ansicht (vgl insbes SSV-NF 9/24;

3/87) - gegen eine Ermessensentscheidung des Sozialversicherungsträgers beim Arbeits- und Sozialgericht Klage wegen gesetzwidriger Ermessensübung erhoben werden kann. Denn auch eine verwaltungsbehördliche Ermessensübung hat sich nach dem Konzept des österreichischen Bundesverfassungsrechts (Art 130 Abs 2 B-VG) am „Sinn des Gesetzes", das Ermessen einräumt, auszurichten. Der Einzelne hat demnach ein Recht auf fehlerfreien Gebrauch des Ermessens im Sinne des Gesetzes. Diese Ermessensentscheidung ist allerdings nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts entsprechend dem Prüfungsmaßstab des Art 130 Abs 2 B-VG ausschließlich darauf zu prüfen, ob vom eingeräumten Ermessen innerhalb der vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen Gebrauch gemacht wurde oder ob dies - in Form einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmissbrauchs - nicht der Fall gewesen ist (vgl Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts10 Rz 577 mwN). Nach herrschender Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts muss bei der Beurteilung des „Gesetzessinnes" stets auch der Gleichheitsgrundsatz des Art 7 B-VG und des Art 2 StGG beachtet werden. Das Wesen einer Ermessensentscheidung ist es, dass ihr Inhalt gesetzlich nicht vorausbestimmt ist, mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zulässt und alle diese möglichen Entscheidungen gesetzmäßig sind (vgl VwGH vom 14. 9. 1995, Zl 92/06/0075 ua). Wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat, können bei der Überprüfung der Ermessensübung durch den Sozialversicherungsträger neben dem Bedarf des Antragstellers nach der begehrten Leistung, unter anderem auch die finanzielle Lage des Versicherten, die finanzielle Lage des Sozialversicherungsträgers sowie die ständige Praxis gegenüber anderen Versicherten sachliche Kriterien sein. Hervorragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch dem aus dem Gleichheitsgrundsatz erfließenden Sachlichkeitsgebot zu. Der Versicherte hat den Anspruch, dass bei der Entscheidung über seinen Antrag auf Gewährung der Leistung keine unsachlichen Momente eine Rolle spielen (vgl 10 ObS 258/02t = SSV-NF 17/17 = DRdA 2004/22, 263 [Naderhirn] = ZAS 2004/31, 183 [Haslinger] mwN).

Im vorliegenden Fall liegt zunächst dadurch, dass die beklagte Partei generell keine Erhöhung der Versehrtenrente nach § 205 Abs 3 ASVG gewährt, jedenfalls eine vom Gleichheitsgrundsatz ableitbare gleichmäßige Anwendung ihres Ermessens auf gleichgelagerte Rechtsfälle vor. Nach insoweit zutreffender Rechtsansicht des Klägers reicht der Hinweis auf eine bisher geübte Ermessenspraxis in vergleichbaren Fällen in der Regel für sich allein aber nicht aus, um eine Ermessensentscheidung zu tragen, zumal eine gesetzwidrige oder unzureichend begründete Ermessenspraxis keine Richtschnur für spätere Ermessensentscheidungen zu bilden geeignet wäre (vgl VwGH vom 20. 12. 2004, Zl 2004/12/0137). Zutreffend hat aber bereits das Berufungsgericht weiters darauf hingewiesen, dass die Unfallversicherung keine Berufsversicherung ist und die Minderung der Erwerbsfähigkeit daher grundsätzlich abstrakt, also unabhängig von der konkreten Lebenslage und Einkommenssituation des Versehrten vor und nach dem Unfall, zu prüfen ist. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls, etwa einer spezialisierten Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zulässt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden. Selbst der Umstand, dass der Kläger seinen im Unfallszeitpunkt ausgeübten Beruf nicht mehr ausüben könnte, würde für sich allein aber noch keine Grundlage für die Annahme eines Härtefalles bilden (SSV-NF 15/86 mwN). Ebenfalls zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass durch die - auch dem Kläger als Dauerrente gewährte - Versehrtenrente der durch die unfallbedingte Erwerbsminderung eintretende langfristige Einkommensentfall abstrakt ausgeglichen werden soll. Dabei ist die Gefahr drohender Arbeitslosigkeit arbeitsfähiger Versehrter nicht zu berücksichtigen, da dieses Risiko nicht durch die Unfallversicherung, sondern durch die Arbeitslosenversicherung abzudecken ist (vgl Tomandl in Tomandl, SV-System 8. Erg-Lfg 333). Auch dieser Aspekt ist bei der Beurteilung der Ermessensübung des Unfallversicherungsträgers im Hinblick auf die Möglichkeit einer Erhöhung der Versehrtenrente bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit des Versehrten wegen des Arbeitsunfalls nach § 205 Abs 3 ASVG zu beachten. Schließlich ist die mit einer Erhöhung der Versehrtenrente nach dieser Gesetzesstelle für den Unfallversicherungsträger verbundene - zweifellos erhebliche - finanzielle Belastung zu berücksichtigen, da eine Vielzahl an Versehrten infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit zumindest phasenweise in Arbeitslosigkeit geraten kann. Unter Berücksichtigung dieser Umstände vermag auch der erkennende Senat in der Ablehnung einer Erhöhung der Versehrtenrente des Klägers gemäß § 205 Abs 3 ASVG keinen Ermessensfehler des beklagten Unfallversicherungsträgers zu erkennen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit im Sinne dieser Gesetzesstelle wurden nicht vorgebracht und sind auch aus dem Akt nicht ersichtlich.

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