European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00043.18Y.0523.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Begründung:
Strittig ist im Revisionsverfahren, ob der minderjährige Kläger aufgrund analoger Anwendung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG berechtigt ist, Pflegegeld geltend zu machen (Standpunkt des Klägers), oder ob er, weil er nicht über den nach dieser Bestimmung erforderlichen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs 2 des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes, BGBl I 2005/100 (NAG) verfügt, nicht dem anspruchsberechtigten Personenkreis des § 3a BPGG angehört (Standpunkt der Beklagten).
Der Kläger ist serbischer Staatsangehöriger und lebt mit seiner mütterlichen Großmutter, deren Ehegatten sowie einem jüngeren Bruder in Wien. Der Großmutter und ihrem Ehegatten kommt gemeinsam die Obsorge über den Kläger zu.
Der Ehegatte der Großmutter des Klägers ist österreichischer Staatsbürger. Die Großmutter des Klägers ist serbische Staatsangehörige und verfügt über einen bis 22. 2. 2019 befristeten Aufenthaltstitel als „Familienangehörige“ mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt.
Der Kläger verfügt über eine „Niederlassungsbewilligung – Angehöriger“ gemäß § 47 Abs 3 NAG. Er ist in Österreich krankenversichert.
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers vom 21. 3. 2016 auf Zuerkennung von Pflegegeld mit dem angefochtenen Bescheid vom 10. 11. 2016 ab, weil der Kläger nicht anspruchsberechtigt sei.
Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstellung. Er verfüge über die „Rot‑Weiß‑Rot‑Karte plus“ und habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Er sei österreichischen Staatsbürgern daher gleichgestellt.
Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der Kläger über einen Aufenthaltstitel gemäß § 47 Abs 3 NAG verfüge, nicht jedoch über einen solchen gemäß § 47 Abs 2 NAG.
Das Erstgericht erkannte dem Kläger Pflegegeld der Stufe 4 im gesetzlichen Ausmaß unter Anrechnung des Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ab 1. 4. 2016 zu und wies das Mehrbegehren auf Zuerkennung eines höheren Pflegegeldes als Stufe 4 ab 21. 3. 2016 ab. Im Umfang der Abweisung des Klagemehrbegehrens erwuchs die Entscheidung des Erstgerichts unangefochten in Rechtskraft. Der Kläger sei als Enkel zwar nicht Familienangehöriger im Sinn des § 47 Abs 2 NAG. Der Großmutter des Klägers und ihrem Ehegatten komme jedoch die Obsorge für den Kläger zu, die gemäß § 158 Abs 1 ABGB auch die Pflicht zur Pflege des Kindes umfasse. Dem Kläger stehe daher unter Beachtung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Dauerauf-enthaltsrichtlinie) ein Recht auf Pflegegeld gemäß § 3a BPGG zu.
Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil von der Beklagten erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Der Kläger verfüge nicht über einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger gemäß § 47 Abs 2 NAG, sodass er nicht gemäß § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG anspruchsberechtigt sei. Für die vom Kläger gewünschte analoge Anwendung des § 47 Abs 2 NAG auf seinen Fall fehle es an einer planwidrigen Gesetzeslücke. Daran ändere auch die Übertragung der Obsorge für den Kläger an seine leibliche Großmutter und deren Ehegatten nichts: Das Gesetz stelle auf das Verwandtschaftsverhältnis ab. Mit der Änderung der Obsorge ändere sich jedoch nicht das Verwandtschaftsverhältnis, sondern lediglich das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen und zu vertreten. Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers, mit der er die Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts begehrt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch unzulässig. Weder das Berufungsgericht (entgegen § 500 Abs 3 letzter Satz ZPO) noch der Revisionswerber zeigen eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.
In der Revision hält der Kläger an seinem Standpunkt fest, dass seine Anspruchsberechtigung analog § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG zu bejahen sei. Der Gesetzgeber habe den Fall nicht bedacht, dass die Großmutter gemeinsam mit ihrem Ehegatten auch Obsorgeberechtigte seien. Sie hätten damit die gleichen Rechte und Pflichten wie die Eltern. Ungeachtet seiner Stellung als „Enkel“ sei der Kläger im vorliegenden Fall daher als Teil der „Kernfamilie“ anzusehen.
1.1 § 3a BPGG idF BGBl I 2015/12 lautet auszugsweise:
„§ 3a. (1) Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes besteht auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs. 1 und 2 für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 … nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.
(2) Den österreichischen Staatsbürgern sind gleichgestellt:
…
4. Personen, die über einen Aufenthaltstitel
…
d) 'Familienangehöriger' gemäß § 47 Abs. 2 NAG
… verfügen.“
1.2 § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG wurde mit dem Pflegegeldreformgesetz 2012, BGBl I 2011/58, geschaffen und trat mit 1. 1. 2012 in Kraft (§ 49 Abs 17 BPGG). In den Gesetzesmaterialien heißt es dazu auszugsweise (ErläutRV 1208 BlgNR 24. GP 9):
„In Abs. 2 Z 4 werden z.B. weitere Personengruppen gleichgestellt, soweit sie einen bestimmten Aufenthaltstitel vorweisen können, der ihnen einen privilegierten Status einräumt. …
Bei 'Familienangehörige' gemäß § 47 Abs. 2 NAG handelt es sich um drittstaatsangehörige Familienangehörige von zusammenführenden Österreicher/innen, EWR‑Bürger/innen und Schweizer/innen. Allerdings soll sich diese Gleichstellung nur auf die haushaltszugehörige so genannte 'Kernfamilie' beschränken. Nicht davon erfasst sind demnach beispielsweise die Eltern, Großeltern oder Geschwister des Ehegatten bzw. der Ehegattin des/der Zusammenführenden.“
2.1 § 47 NAG lautete in der zum Zeitpunkt der Schaffung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG geltenden Fassung BGBl I 2011/38 auszugsweise:
„ 2. Hauptstück
Familienangehörige und andere Angehörige von dauernd in Österreich wohnhaften Zusammenführenden
Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' und 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger'
§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR‑Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG‑Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.
(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienan-gehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.
(3) Angehörigen von Zusammenführenden kann auf Antrag eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
1. Verwandte des Zusammenführenden, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, …,
2. Lebenspartner sind, …
3. sonstige Angehörige des Zusammenführenden sind, …“
2.2 Bereits zur Zeit der Schaffung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG regelte § 47 NAG daher in unterschiedlicher Weise die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ (§ 47 Abs 2 NAG) und einer „Niederlassungsbewilligung – Angehöriger“. Bereits zum damaligen Zeitpunkt normierte § 2 Abs 1 Z 9 NAG (davor zuletzt geändert mit BGBl I 135/2009, vgl Czech in Abermann/Czech/Kind/Peyrl, NAG [2016], 45), dass „Familienangehöriger“ ist, „wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv‑ oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner“. § 2 Abs 1 Z 9 NAG setzt die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung um (VwGH 2014/22/0001), das gemäß Art 4 Abs 1 RL 2003/86/EG nur Ehegatten und minderjährigen Kindern im Sinn der Mitglieder der in Erwägungsgrund 9 dieser Richtlinie genannten „Kernfamilie“ zusteht (vgl VwGH 2002/21/0028).
2.3 Die in § 47 Abs 3 NAG bereits im Zeitpunkt der Schaffung des § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG angeführten „sonstigen Angehörigen“ stellen sich hingegen lediglich als Erweiterung des Personenkreises von Familienmitgliedern gegenüber dem in § 47 Abs 2 NAG verwendeten Begriff der Familienangehörigen im Sinn des § 2 Abs 1 Z 9 NAG dar (VwGH 2008/22/0864).
3.1 Der Gesetzgeber hat daher in § 3a Abs 2 Z 4 lit d BPGG bewusst die Anspruchsvoraussetzung für das Pflegegeld mit dem Hinweis auf die Stellung als „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs 2 NAG rechtlich geregelt und den Kreis der anspruchsberechtigten Fremden nur in diesem Umfang erweitert. Der Gesetzgeber hat damit auch die bewusste Entscheidung getroffen, für die Anspruchsberechtigung allein auf das Verwandtschaftsverhältnis als „Familienangehöriger“ im Sinn des § 2 Abs 1 Z 9 NAG abzustellen, nicht aber auf eine allfällig davon abweichende – auch nach damaliger Rechtslage bereits mögliche – Obsorgeregelung.
3.2 Voraussetzung der vom Revisionswerber geforderten Analogie (§ 7 ABGB) ist das Vorliegen einer planwidrigen Lücke in § 3a Abs 2 BPGG. Eine Analogie ist nämlich jedenfalls dann unzulässig, wenn Gesetzeswortlaut und klare gesetzgeberische Absicht in die Gegenrichtung weisen (P. Bydlinski in KBB5 § 7 ABGB Rz 2; RIS‑Justiz RS0106092 [T2]; 6 Ob 187/14i mwH). Ausgehend von der dargestellten bewussten Entscheidung des Gesetzgebers und der von ihm in den genannten Bestimmungen gewählten Regelungstechnik fehlt es jedoch im konkreten Fall an der für den vom Revisionswerber gewünschten Analogieschluss erforderlichen planwidrigen Unvollständigkeit der rechtlichen Regelungen (10 ObS 127/16y, RIS‑Justiz RS0098756).
3.3 Dem zutreffenden Hinweis des Revisionswerbers, dass die Großmutter und ihr Ehegatte infolge der ihnen übertragenen Obsorge zur – unzweifelhaft aufwändigen – Pflege des Klägers verpflichtet sind, ist mit dem Berufungsgericht entgegenzuhalten, dass es nicht Aufgabe der Gerichte ist, allenfalls unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern, sondern der Gesetzgebung (RIS‑Justiz RS0008880).
Mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
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