OGH 10ObS389/98y

OGH10ObS389/98y16.3.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Michael Manhard (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Johann Holper (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Barbara K*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Mag. Alois Pirkner, Rechtsanwalt in Tamsweg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. September 1998, GZ 11 Rs 197/98i-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. Februar 1998, GZ 17 Cgs 143/97y-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Rechtliche Beurteilung

Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung. Es sei nur angemerkt, daß Mängel erster Instanz, die bereits in der Berufung geltend gemacht, vom Berufungsgericht jedoch verneint wurden, nach ständiger Rechtsprechung - auch im Verfahren nach dem ASGG - im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg gerügt werden können (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 3 zu § 503 mwN; SSV-NF 7/74 mwN). (Angebliche) Mängel erster Instanz, die in der Berufung nicht geltend gemacht wurden, konnte das Berufungsgericht schon mangels Rüge - von hier nicht relevanten Ausnahmen abgesehen - nicht wahrnehmen; sie können demzufolge auch keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens begründen (SSV-NF 1/68 ua; Kodek aaO).

Im übrigen ist die Begründung des Berufungsgerichtes zutreffend, sodaß auf deren Richtigkeit hinzuweisen ist (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Ergänzend ist den Ausführungen der Revisionswerberin entgegenzuhalten:

Die Revisionswerberin geht - insoweit in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen - davon aus, daß der sonst 120 Stunden monatlich nicht übersteigende Pflegebedarf der Klägerin nur bei Berücksichtigung des mit einer "Beaufsichtigung" der Klägerin verbundenen Zeitaufwandes eine höhere Pflegestufe als die Stufe 2 rechtfertigt, weil dann der monatliche Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 120 Stunden betragen würde.

Voranzustellen ist, daß im Hinblick auf die am 1. 1. 1999 in Kraft getretene Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene gerichtliche Verfahren gemäß dessen § 48 Abs 1 für die Zeit bis zum 31. 12. 1998 für die Beurteilung des Anspruches der Klägerin die Bestimmungen des § 4 BPGG vor der Novelle samt EinstV BGBl 1993/314 zugrundezulegen sind (10 ObS 372/97x ua). Erst für die Zeit ab dem 1. 1. 1999 ist der Anspruch nach der neuen Rechtslage zu beurteilen, wobei allerdings die zitierte EinstV erst mit Wirksamkeit vom 31. 1. 1999 aufgehoben und durch die neue EinstV BGBl II 1999/37 ersetzt wurde (§ 9 EinstV nF). Auch die Anwendung dieser neuen Rechtslage führt jedoch hier zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis als die Beurteilung durch die Vorinstanzen nach der damals noch alten Rechtslage.

Die Pflegegeldregelungen des Bundes nahmen nach der alten Rechtslage auf die "Beaufsichtigung" in zwei Bestimmungen Bezug. § 4 Abs 2 BPGG aF normierte den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich ist. Demgegenüber verwendet § 4 Abs 2 BPGG nF den Begriff "Beaufsichtigung" nicht mehr, sondern macht den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 davon abhängig, daß der Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden beträgt, wenn

1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder

2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.

Während die Z 1 in § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG nF eine Ausweitung gegenüber der alten Rechtslage darstellt, entspricht die Z 2 ("dauernde Anwesenheit ...., weil .... Eigen- oder Fremdgefährdung") trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuachtenden Pflegeaufwand" nach der alten Rechtslage.

§ 4 EinstV aF bestimmte wie jetzt § 4 Abs 1 EinstV nF, daß die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen ist. Diese Bestimmung war und ist für die Berücksichtigung des Aufwandes für die Beaufsichtigung bei der Vornahme der in den §§ 1 und 2 EinstV genannten Verrichtungen erforderlich, weil die letztgenannten Bestimmungen nur Werte für den Betreuungs- und Hilfsbedarf bei tatsächlicher Verrichtung der Tätigkeit durch eine vom Pflegebedürftigen verschiedene Person vorsehen und es sich bei der Beaufsichtigung bei der Durchführung dieser Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen selbst um etwas anderes handelt als bei der Vornahme der Verrichtungen durch eine Betreuungsperson. Die Regelung zeigt aber, daß dem (alten und neuen) Verordnungsgeber die Problematik der notwendigen Beaufsichtigung einer behinderten Person bekannt war. Daß er nur für den dort genannten Fall die Berücksichtigung des Zeitaufwandes für die Beaufsichtigung vorsah, spricht dafür, daß er im übrigen die für eine notwendige Beaufsichtigung erforderliche Zeit bei der Ermittlung des Betreuungs- und Hilfsaufwandes nicht einbeziehen wollte.

Die EinstV sieht wohl keinen abgeschlossenen Katalog aller möglichen Betreuungshandlungen vor, die bei Prüfung des Anspruches auf Pflegegeld zu berücksichtigen sind. Die dort genannten Fälle legen aber den grundsätzlichen Charakter der Verrichtungen fest, die der Betreuung zuzuzählen sind. Es sind die Verrichtungen, die der Normsetzer dahin qualifiziert, daß der Pflegebedürftige bei ihrem Unterbleiben der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Der Aufwand für die notwendige Betreuung bei diesen Tätigkeiten soll durch das Pflegegeld abgegolten werden. Für die wenn auch notwendige Betreuung in Bereichen, die dieser Art von Verrichtungen nicht zugezählt werden können, gebührt kein Pflegegeld und sie ist bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes außer Betracht zu lassen. Daß der Gesetzgeber nicht den gesamten im Einzelfall anfallenden Betreuungsaufwand abgelten wollte, zeigt die Tatsache, daß etwa für den Bereich der Hilfe Fixwerte vorgesehen wurden (§ 4 Abs 3 Z 3 BPGG aF [§ 4 Abs 4 Z 3 BPGG nF] bzw § 2 Abs 3 EinstV aF und nF). Auch wenn der Aufwand im Einzelfall diese Fixwerte wesentlich übersteigt, sind die verbindlichen Pauschalwerte zugrunde zu legen, während ein allfälliger höherer Aufwand unabgegolten bleibt. Da der Aufwand für die bloße Beaufsichtigung (nicht bei den in den §§ 1 und 2 EinstV genannten Verrichtungen) sich seiner Art nach von den in der EinstV genannten Betreuungs- und Hilfshandlungen grundsätzlich unterscheidet, es sich dabei um eine andere Dimension eines Pflegeaufwandes handelt, ist die hiefür notwendige Zeit bei der Prüfung des Anspruches auf Pflegegeld nicht in Anschlag zu bringen (10 ObS 477/97a zu dem insoweit vergleichbaren Wiener Pflegegeldgesetz; 10 ObS 449/97w zu dem ebenfalls vergleichbaren Tiroler Pflegegeldgesetz). Das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes (bzw zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen oder dauernder Anwesenheit einer Pflegeperson) wird nur dann entscheidend, wenn der Pflegebedarf schon ohne diesen Aufwand durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt und davon abgesehen die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen, nicht aber darüberhinaus gesondert zu veranschlagen ist (ebenso 10 ObS 374/97s zum Wiener Pflegegeldgesetz; 10 ObS 235/98a und 10 ObS 255/98t zum BPGG; siehe Judikaturübersicht in RIS-Justiz RS0109571).

§ 4 EinstV nF enthält einen neuen Abs 2, der einen zeitlichen Richtwert von 10 Stunden pro Monat vorsieht, wenn mit geistig oder psychisch behinderten Menschen zur selbständigen Durchführung von in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen Motivationsgespräche zu führen sind. Auch diese Neuregelung - in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung - läßt erkennen, daß der Verordnungsgeber keine Anleitung oder Beaufsichtigung bei der Durchführung nicht in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen berücksichtigen wollte.

Im vorliegenden Fall ergibt sich daraus, daß bei einem Pflegebedarf der Klägerin nach § 4 Abs 1 BPGG (in durch die Novelle BGBl I 1998/111 unveränderter Fassung) von durchschnittlich mehr als 75 Stunden monatlich jedoch nicht durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich weiterhin nur ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 besteht. Ein darüber hinausgehender Pflegebedarf durch das (allfällige) Erfordernis der Beaufsichtigung ist aus den oben dargelegten rechtlichen Gründen nicht zu berücksichtigen.

Der Revision war damit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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