OGH 10ObS3/22x

OGH10ObS3/22x21.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Schober, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Mag. Alexander Doerge, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 1. Dezember 2021, GZ 25 Rs 63/21 g‑17, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 23. September 2021, GZ 45 Cgs 231/20i‑13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00003.22X.0621.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die * 1938 geborene Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin, hat ihren ständigen Wohnsitz in Österreich und bezieht eine Rente aus der Schweiz. Pflegegeld wird in der Schweiz nicht gewährt; die Klägerin hat mangels Wohnsitzes in der Schweiz auch keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen (zur Schweizer Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie zur Invalidenversicherung). Nach dem insofern unbestrittenen Vorbringen der Klägerin ist sie seit ihrer Heirat mit H* im Jahr 1961 infolge einer Mitversicherung bei ihrem Gatten bei der BVAEB „aus der Krankenversicherung anspruchsberechtigt“.

[2] Mit Bescheid vom 22. September 2020 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 31. August 2020 auf Zuerkennung von Pflegegeld ab. Da die Klägerin der Krankenversicherung in der Schweiz zugehörig sei, sei dieser Staat auch für die pflegebedingten Leistungen zuständig.

[3] Mit ihrer dagegen gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß. Pflegegeld sei eine Leistung bei Krankheit iSd Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 und daher mit der Krankenversicherung organisatorisch verknüpft. Da sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe und hier auch kranken‑(mit-)versichert sei, sei Österreich nach Art 29 iVm Art 23 VO (EG) 883/2004 für die Erbringung von pflegebedingten Leistungen zuständig, sodass sie Anspruch auf Pflegegeld habe.

[4] Die Beklagtehielt dem zusammengefasstentgegen, dass die Klägerin lediglich eine Rente aus der Schweiz, aber keine Pensionsleistung aus Österreich beziehe, weshalb die Schweiz (kollisionsrechtlich) für die Gewährung von Pflegegeld zuständig sei. Ob die Klägerin in der Schweiz auch tatsächlich versichert sei, sei dabei ebenso unerheblich wie der Umstand, dass das Sozialsystem der Schweiz keine dem Pflegegeld vergleichbare Leistung vorsehe.

[5] Das Erstgerichtwies das Klagebegehren ab.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Nach § 3a Abs 1 BPGG gewähre Österreich nur dann Pflegegeldleistungen, wenn seine Zuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 gegeben sei. Dies sei hier nicht der Fall, weil nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 der Verordnung der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat für die Erbringung von Geldleistungen bei Krankheit, wozu auch Pflegegeld zähle, ausschließlich zuständig sei. Ob die Klägerin in der Schweiz nach wie vor krankenversichert sei oder die Schweiz tatsächlich Pflegeleistungen gewähre, sei nicht relevant. Wenn sich die Klägerin auf Art 23 Abs 1 (iVm Art 29) der VO (EG) 883/2004 berufe, weil sie als Angehörige ihres bei der BVAEB pflichtversicherten Gatten mitversichert sei und daher mit dessen Ableben Pensionsleistungen erhalte, sei diese Bestimmung schon deshalb nicht anwendbar, weil sie nur aus einem Staat eine Rente erhalte. Die Bestimmungen des § 3 Abs 1 und 2 BPGG könnten ihr daher keinen Anspruch auf Pflegegeld verschaffen.

[7] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung der Klage anstrebt.

[8] In der vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragte die Beklagte, die Revision zurückzuweisen, eventualiter ihr keine Folge zu geben.

[9] Die Revision ist zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof mit der Frage, ob eine Krankenmitversicherung nach dem B‑KUVG bei gleichzeitigem Bezug einer Pension (Rente) aus einem anderen Mitgliedstaat zu einem Anspruch auf Pflegegeld gemäß § 3a BPGG führen kann, noch nicht befasst hat. Sie ist aber nicht berechtigt.

[10] In der Revision argumentiert die Klägerin in zwei Richtungen. Einerseits stehe ihr aufgrund der Mitversicherung mit ihrem Ehegatten nach dessen Tod eine Grundleistung iSd § 3 Abs 1 BPGG zu, die derzeit bloß noch nicht angefallen sei (§ 3 Abs 2 BPGG). Österreich sei daher nach Art 29 Abs 1 iVm Art 23 VO (EG) 883/2004 unabhängig davon leistungszuständig, dass die Klägerin zusätzlich aus einem anderen Mitgliedstaat (der Schweiz) eine Rente erhalte. Andererseits habe sie auch als in der Krankenversicherung ihres Gatten mitversicherte Angehörige Anspruch auf Pflegegeld.

[11] Beide Argumente sind nicht stichhältig.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1. Voranzustellen ist, dass die Anwendung der VO (EG) 883/2004 im Verhältnis zur Schweiz nicht strittig ist. Es kann daher mit dem Hinweis auf Art 1 Abs 1 des Anhangs II des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz sein Bewenden finden. Der in der VO (EG) 883/2004 verwendete Begriff „Mitgliedstaat“ erfasst dabei auch die Schweiz (Art 1 Abs 2 des Anhangs II).

[13] 2. Soweit sich die Klägerin auf § 3 Abs 2 BPGG beruft, übergeht sie, dass nur jene Personen als Bezieher einer Grundleistung nach § 3 Abs 1 BPGG anzusehen sind, denen eine solche bereits rechtskräftig zuerkannt wurde. Dafür gibt es aber keine Anhaltspunkte. Auf § 3 Abs 1 und 2 BPGG kann das Klagebegehren daher nicht gestützt werden, weil die Klägerin weder eine Grundleistung bezieht noch nach § 3 Abs 2 BPGG einer Grundleistungsbezieherin gleichgestellt ist.

[14] 3. Auf den hier zu beurteilenden Anspruch ist nach nationalem Recht ausschließlich § 3a BPGG anwendbar. Unstrittig ist die Klägerin österreichische Staatsbürgerin und hat auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Nach § 3a Abs 1 BPGG bleibt daher zu prüfen, ob nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist, wofür allein die Kollisionsregeln nach deren Art 11 ff heranzuziehen sind (RIS‑Justiz RS0131205).

[15] 3.1. Die Parteien ziehen nicht in Zweifel, dass im Anlassfall der persönliche und der sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet ist. Zum einen sind die Voraussetzungen des Art 2 Abs 1 VO (EG) 883/2004 erfüllt. Aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin in Österreich und ihrer Schweizer Rente liegt auch ein grenzüberschreitender Bezug vor (10 ObS 2/14p SSV-NF 28/38; Spiegel in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17 mwN). Zum anderen ist Pflegegeld nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als „Leistung bei Krankheit“ iSd Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 anzusehen (EuGH C‑215/99 , ECLI:EU:C:2001:139, Jauch, Rn 28; 10 ObS 83/16b SSV-NF 30/80 ua). Somit wäre nach der allgemeinen Regelung des Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 Österreich dann als Wohnmitgliedstaat für die Erbringung von Pflegeleistungen an die Klägerin zuständig, sofern dem nicht anders lautende Bestimmungen der Verordnung entgegenstehen.

[16] 4. Eine Leistung bei Krankheit wie das Pflegegeld nach dem BPGG zählt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den in Art 19 Abs 1 lit b der VO (EWG) 1408/71 genannten Geldleistungen (EuGH C‑215/99 , ECLI:EU:C:2001:139, Jauch, Rn 35). Es ist daher auch als Geldleistung iSd Art 21 ff VO (EG) 883/2004 anzusehen (10 ObS 96/14m SSV-NF 28/67 ua).

[17] 4.1. Für die Krankenversicherung der Pensionisten (Rentner) enthalten die Art 23 ff VO (EG) 883/2004 Sonderkollisionsnormen (Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union8 [2022] Rz 136, 195). Demgemäß liegt die Zuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit für eine Pensionistin (Rentnerin) wie die Klägerin gemäß Art 29 VO (EG) 883/2004 einheitlich beim kollisionsrechtlich primär zuständigen, also bei dem Träger, der die Kosten der im Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen gemäß den Art 23 bis 25 VO (EG) 883/2004 zu tragen hat (10 ObS 34/20b SSV-NF 34/43; Janda in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 29 VO [EG] 883/2004 Rz 1).

[18] 5. Bevor auf die hier maßgeblichen Art 23 und 24 VO (EG) 883/2004 eingegangen wird, ist zunächst klarzustellen, dass die Klägerin ungeachtet der von ihr behaupteten Mitversicherung als Angehörige nach dem B‑KUVG (zur Abgrenzung zur freiwilligen Versicherung und freiwilligen Weiterversicherung vgl 10 ObS 131/21v [ErwG 3.3.]) keinen eigenständigen Anspruch auf Sachleistungen im Sinn der VO (EG) 883/2004 hat.

[19] 5.1. Der erkennende Senat hat zu 10 ObS 202/21k unlängst ausgesprochen, dass die Mitversicherung als Angehöriger nach den §§ 122, 123 ASVG keinen eigenen oder abgeleiteten Anspruch auf Leistungen der österreichischen Krankenversicherung vermittelt. Davon unterscheidet sich der vorliegende Fall zwar insofern, als die hier einschlägigen Bestimmungen der §§ 55, 56 B‑KUVG dem Angehörigen in Österreich einen unmittelbaren Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung – nicht aber auf Pflegegeldleistungen – einräumen (10 ObS 305/99x; vgl auch 10 ObS 131/21v). Das ist aber nicht entscheidend.

[20] 5.2. In Bezug auf Sachleistungen bei Krankheit bezeichnet der Begriff „Familienangehöriger“ nach der Legaldefinition des Art 1 lit i Z 1 sublit ii VO (EG) 883/2004 jede Person, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie wohnt, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird (vgl dazu Leopold in BeckOK Sozialrechted64 [1. 3. 2022] VO [EG] 883/2004 Art 1 Rz 51b). Nach § 56 Abs 2 Z 1 B‑KUVG gilt der Ehegatte des Versicherten für die Krankenversicherung als Angehöriger, sodass die Klägerin in der Krankenversicherung auch Familienangehörige im Sinn der VO (EG) 883/2004 ist.

[21] 5.3. Da es kollisionsrechtlich – für die Anspruchsberechtigung in Österreich – keine Rolle spielt, ob die Klägerin in der Schweiz tatsächlich versichert ist (vgl 10 ObS 83/16b SSV-NF 30/80) oder die Schweiz äquivalente Leistungen gewährt (10 ObS 56/21i mwN), konkurriert hier ein eigenständiger (primärer) Sachleistungsanspruch in der Schweiz mit einem (möglichen) abgeleiteten Anspruch auf Leistungen für Familienangehörige in Österreich. Unter diesen Ansprüchen kommt nach Art 32 Abs 1 erster Satz VO (EG) 883/2004 aber dem eigenständigen Sachleistungsanspruch der Vorrang vor dem (bloß) abgeleiteten Anspruch als Familienangehörige zu. Der abgeleitete Anspruch hat für die kollisionsrechtliche Prüfung daher unberücksichtigt zu bleiben (vgl Schreiber in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] 883/2004 Art 32 Rz 4).

[22] 6. Ein möglicher eigenständiger Sachleistungsanspruch der Klägerin führt nicht zur Zuständigkeit Österreichs.

[23] 6.1. Entgegen der Ansicht der Klägerin scheidet eine Anknüpfung an Art 23 VO (EG) 883/2004 aus, weil diese Bestimmung die Zuständigkeit bei Bezug mehrerer (Teil‑)Renten regelt (Janda in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 23 VO [EG] 883/2004 Rz 3). Der hier normierte Vorrang des Wohnsitzstaats würde voraussetzen, dass nach dem Rentenrecht des Wohnmitgliedstaats eine Rente tatsächlich gewährt wird. Ein Anspruch nur dem Grunde nach genügt hingegen nicht (EuGH C‑543/13 , ECLI:EU:C:2015:359, Fischer-Lintjens, Rn 42; EuGH C‑389/99 , ECLI:EU:C:2001:264, Rundgren, Rn 47 f; Janda in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8 Art 23 VO [EG] 883/2004 Rz 4; Schreiber in Schreiber/Wunder/ Dern, VO [EG] 883/2004 Art 23 Rz 4). Die (bloße) Aussicht, dass die Klägerin allenfalls künftig eine Witwenpension nach ihrem Ehegatten beziehen könnte, führt daher nicht zur Zuständigkeit Österreichs nach Art 23 (iVm Art 29 Abs 1) VO (EG) 883/2004 .

[24] 6.2. Im Rahmen des Art 24 VO (EG) 883/2004 ist nach dessen Abs 2 lit a für Pensionisten (Rentner), die nur eine Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats beziehen und keinen primären Leistungsanspruch im Fall der Krankheit im Wohnmitgliedstaat haben, der pensionsauszahlende Mitgliedstaat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig (Janda in Fuchs/Janda, Europäisches Sozialrecht8, Art 24 VO [EG] 883/2004 Rz 3 und Vorbem Art 23 ff VO [EG] 883/2004 Rz 9 lit b; in diesem Sinn auch 10 ObS 34/20b SSV‑NF 34/43; 10 ObS 123/16k SSV‑NF 31/9; Greifeneder/Liebhart, HB Pflegegeld4 Rz 3.46). Das ist hier die Schweiz weil die Klägerin eine Rente nach Schweizer Recht bezieht (Statut der Rentenleistung). Auf das tatsächliche Bestehen einer Krankenversicherung in der Schweiz oder darauf, dass dort Leistungen im Fall der Pflegebedürftigkeit erbracht werden, kommt es wie erwähnt nicht an (10 ObS 202/21k).

[25] 7. Trotz der Mitversicherung der Klägerin in der Krankenversicherung und des daraus resultierenden unmittelbaren (innerstaatlichen) Leistungsanspruchs nach § 56 B‑KUVG als Mitversicherte in der Krankenversicherung ist Österreich nicht iSd § 3a Abs 1 BPGG zur Gewährung von Pflegeleistungen international zuständig. Die Vorinstanzen haben daher das Klagebegehren zu Recht abgewiesen. Der Revision istdemgemäß nicht Folge zu geben.

[26] 8. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Ist eine Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 2 Abs 1 ASGG, § 502 Abs 1 ZPO abhängig, entspricht es der Billigkeit, der unterlegenen Versicherten die Hälfte der Kosten ihrer Rechtsvertretung zuzuerkennen (RS0085871).

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