OGH 10ObS32/18f

OGH10ObS32/18f17.4.2018

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann (Senat nach § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter‑Straße 65–67, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 25 Cgs 206/10g des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Jänner 2018, GZ 7 Rs 82/17f‑58, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00032.18F.0417.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

1. Das Erstgericht wies die Klage auf Wiederaufnahme eines sozialrechtlichen Verfahrens, in dem die Klägerin mit ihrem Begehren auf Zuspruch einer Versehrtenrente nach einem Arbeitsunfall (Wegunfall) erfolglos geblieben war, im Vorprüfungsverfahren zurück. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin ist nach § 528 Abs 2 Z 2 zweiter Halbsatz ZPO nicht jedenfalls unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

2.1 Es stellt nach § 530 Abs 1 Z 4 ZPO einen Wiederaufnahmegrund dar, wenn sich der Richter bei der Erlassung der Entscheidung zum Nachteil der Partei einer nach dem Strafgesetzbuch (StGB) zu ahndenden Verletzung seiner Amtspflicht schuldig gemacht hat. Der betroffene Richter ist zufolge § 537 ZPO von der Verhandlung und Entscheidung über die Wiederaufnahmeklage ausgeschlossen.

2.2 Die Rechtsprechung verlangt auch bei einer auf den Wiederaufnahmegrund des § 530 Abs 1 Z 4 ZPO gestützten Klage, dass der Sachverhalt, der den Anfechtungsgrund herstellt, vorgebracht wird (RIS‑Justiz RS0044604). Die Klägerin rechtfertigte ihre Wiederaufnahmeklage ausschließlich mit der Vorlage neuer Beweismittel (Sachverständigengutachten) iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO. Ein konkretes Vorbringen zu einer strafrechtlich erheblichen Amtspflichtverletzung bestimmter Richter zum Nachteil der Klägerin (vgl RIS‑Justiz RS0044604 [T4]) enthält die Klage nicht. Nur in den – hier nicht verwirklichten – Fällen des § 537 ZPO sind erkennende Richter des Hauptprozesses von der Verhandlung und Entscheidung über eine Wiederaufnahmeklage ausgeschlossen (RIS‑Justiz RS0044611). Der erstmals im Rekurs erhobene Vorwurf der Wiederaufnahmeklägerin, die Hintanhaltung/Vermeidung eines verkehrstechnischen Sachverständigenbeweises beruhe auf einer verpönten Verletzung von Amtspflichten, ist eine unzulässige Neuerung. Diese Behauptung reicht zudem nicht aus, um eine strafrechtlich erhebliche Amtspflichtverletzung darzulegen.

3.1 Ein Verfahren, das durch eine die Sache erledigende Entscheidung abgeschlossen worden ist, kann auf Antrag einer Partei wieder aufgenommen werden, wenn die Partei in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO). Wegen dieser Umstände ist die Wiederaufnahme nach § 530 Abs 2 ZPO aber nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außerstande war, die neuen Tatsachen und Beweismittel vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz geltend zu machen.

3.2 Ein nachträglich beigebrachtes Gutachten ist keine neue Tatsache, wenn das Thema des Gutachtens bereits im Hauptprozess bekannt war (RIS‑Justiz RS0044834). Dies gilt auch in einem Fall, in dem nach den Klagebehauptungen ein Arzt nach Abschluss des Hauptprozesses eine Stellungnahme abgegeben hat, deren Ergebnis von dem im Hauptprozess eingeholten Gutachten abweicht (RIS‑Justiz RS0044834 [T15]). Es kann daher auch in Sozialrechtssachen eine Wiederaufnahmeklage nicht darauf gestützt werden, dass ein anderer Sachverständiger später ein abweichendes Gutachten erstattet hat. Dazu bedürfte es weiterer Umstände, wie beispielsweise, dass der im Hauptverfahren beigezogene Sachverständige eine behauptete Zwischenerhebung in Wahrheit nicht durchgeführt habe oder dass die jüngeren Gutachten auf einer neuen wissenschaftlichen Methode basieren, die zum Zeitpunkt der Begutachtung im Hauptverfahren noch unbekannt war (RIS‑Justiz RS0044555 [T4]) oder das Gutachten des Hauptprozesses auf einer unzulänglichen Grundlage beruht, die durch das neue Gutachten richtiggestellt oder vervollständigt wird. So wurde etwa im Verfahren 10 ObS 169/03f (RIS‑Justiz RS0044555 [T3]) die unrichtige Grundlage eines Sachverständigengutachtens mit der Begründung als tauglicher Wiederaufnahmegrund angesehen, dass ein als Zeuge vernommener Arzt seine Aussage später widerrufen und das Gutachten – auch – auf diese Aussage aufgebaut hatte. Ein vergleichbarer Fall liegt hier nicht vor.

3.3 Die Klägerin stützt die begehrte Wiederaufnahme auf erst nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens eingeholte Gutachten eines verkehrstechnischen und mehrerer medizinischer Sachverständiger. Art und Ausmaß der bei der Kollision erlittenen Verletzungen, insbesondere der Halswirbelsäule (HWS) – und damit das Ausmaß der unfallkausalen Minderung der Erwerbsfähigkeit – waren das zentrale Thema des Hauptprozesses. In diesem wurde auf Basis der gerichtlichen Sachverständigengutachten die Verletzung der HWS als leichte Zerrung eingestuft. Kritikpunkt der mit der Wiederaufnahme vorgelegten medizinischen Privatgutachten ist die Unterlassung diagnostischer Maßnahmen, wie einer „Upright‑Kernspintomographie“. Es findet sich jedoch kein Hinweis, dass es sich bei den geforderten diagnostischen Maßnahmen um neue wissenschaftliche Methoden handelt, die zum Zeitpunkt der Befundung im Hauptprozess noch unbekannt waren.

3.4 Eine Zurückweisung der Wieder-aufnahmeklage wegen Verschuldens des Klägers iSd § 530 Abs 2 ZPO ist im Vorprüfungsverfahren möglich, wenn sich das Verschulden bereits aus den – als richtig angenommenen – Tatsachenbehauptungen in der Klage ergibt oder der Klage jede Behauptung fehlte, dass die Geltendmachung dieses als Wiederaufnahmegrund angeführten Beweismittels im Vorprozess ohne Verschulden unmöglich war (RIS‑Justiz RS0044639; RS0044558).

3.5 Aus welchen Gründen die – im gesamten Hauptprozess durch einen Rechtsanwalt vertretene – Klägerin daran gehindert war, im Verfahren die Einholung (insbesondere) eines verkehrstechnischen Sachverständigen-gutachtens bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu veranlassen, wird in der Wiederaufnahmeklage nicht aufgezeigt. Das Vorbringen besteht in der Schilderung, dass es über die Initiative eines Dritten nach rechtskräftigem Abschluss des Vorprozesses zur Einholung der nunmehr vorgelegten Befunde und Gutachten kam.

4. Die Zurückweisung der Wiederaufnahmeklage bereits im Vorprüfungsverfahren ist aus diesen Gründen nicht zu korrigieren.

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