OGH 10ObS241/03v

OGH10ObS241/03v11.1.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj Derya E*****, geboren am 10. Februar 1991, *****, vertreten durch den Vater Ali E*****, ebendort, wider die beklagte Partei Land Vorarlberg, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn, Klaudiastraße 2, 6850 Dornbirn, diese vertreten durch Dr. Ernst Hagen und Dr. Günther Hagen, Rechtsanwälte in Dornbirn, wegen Pflegegeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Juli 2003, GZ 25 Rs 64/03b-22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. März 2003, GZ 35 Cgs 115/02g-17, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Berichtigung der Parteienbezeichnung der Klägerin richtet, zurückgewiesen. Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 10. 2. 1991 geborene Klägerin, die seit ihrer Geburt erhebliche körperliche und geistige Behinderungen aufweist, besitzt - ebenso wie ihre Eltern - ausschließlich die türkische Staatsbürgerschaft. Die Klägerin hatte ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt stets in Österreich.

Der Vater der Klägerin steht seit dem Jahr 1979 im Inland in einem auch der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegenden Arbeitsverhältnis. Die Klägerin ist bei ihrem Vater in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 28. 2. 2003 wurde dem Antrag der Klägerin vom 28. 6. 2001 auf Gewährung von Pflegegeld gemäß den §§ 3 und 4 des (Vorarlberger) Landes-Pflegegeldgesetzes, LGBl Nr 38/1993, idgF mit der Begründung nicht stattgegeben, dass der Beschluss des Assoziationsrates Nr 1/80 (ARB 1/80) ua Fragen der Beschäftigung und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer regle, jedoch keine dem Art 7 Abs 2 der Verordnung Nr 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft analoge Bestimmung enthalte, wonach Wanderarbeitnehmer sowie deren Abkömmlinge die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie eigene Staatsangehörige genießen. Aus ARB 1/80 resultiere daher kein Anspruch eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers auf Landespflegegeld.

Dem hält die Klägerin in der dagegen erhobenen Klage entgegen, dass es sich beim Pflegegeld um eine Leistung der Krankenversicherung handle, woran auch die Tatsache nichts ändere, dass aufgrund der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung in Österreich zur Zahlung des Pflegegelds einerseits Sozialversicherungsträger, andererseits die Länder verpflichtet seien. Die Klägerin leite ihre Aufenthaltsberechtigung und ihre Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen aus der Tatsache ab, dass ihr Vater im Hinblick auf den Beschluss Nr 1/80 des Assoziationsrates österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt und nach europarechtlichen Bestimmungen in den Genuss der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit gekommen sei. Damit seien sowohl er als auch die Klägerin den Bürgern eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union gleichgestellt.

Die beklagte Partei beantragte Klageabweisung. Auf den vorliegenden Fall seien weder die Beschlüsse Nr 1/80 und 3/80 des Assoziationsrates noch die Verordnungen (EWG) Nr 1408/71 und Nr 1247/92 anzuwenden. Außerdem liege bei der Klägerin kein die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 rechtfertigender Pflegeaufwand vor.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin für die Zeit ab dem 1. 7. 2001 Pflegegeld im Ausmaß der Stufe 6 nach dem Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz von derzeit monatlich EUR 1.148,70 zu gewähren. Sie sei in sozialrechtlicher Hinsicht österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Diese Gleichstellung ergebe sich aufgrund des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates vom 19. 9. 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige, dessen Geltungsbereich sich auch auf Leistungen bei Krankheit erstrecke. Beim Pflegegeld handle es sich nun nach der Judikatur des EuGH um eine "Geldleistung bei Krankheit", wobei keine Differenzierung dahin vorzunehmen sei, ob der Anspruch nach dem BPGG oder einem L-PGG zustehe; schlage doch die Priorität des Gemeinschaftsrechtes in Bezug auf jede nationale Rechtsnorm durch. Damit könne aber auch kein Zweifel bestehen, dass die VO (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, insbesondere auch deren Art 4 Abs 1 lit a zu gelten habe. Die Klägerin erfülle daher die Anspruchsvoraussetzung des § 4 Abs 3 lit c (Vlbg) L-PGG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei gegen das Ersturteil insoweit Folge, als es diese schuldig erkannte, der Klägerin Pflegegeld der Stufe 3 des Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetzes von monatlich EUR 413,51 (S 5.690) vom 1. 7. 2001 bis 31. 12. 2001 und von monatlich EUR 413,50 ab 1. 1. 2002 zu gewähren, dies unter jeweiliger Anrechnung des Erhöhungsbetrages für erheblich behinderte Kinder von monatlich EUR 59,96 (S 825) vom 1. 7. 2001 bis 31. 12. 2001 und von monatlich EUR 60 ab 1. 1. 2002 [in der Berufungsentscheidung irrig: 1. 2. 2002], während es das auf den Zuspruch von über die Stufe 3 hinausgehendem Pflegegeld gerichtete Mehrbegehren der Klägerin abwies, und aussprach, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Der in der Berufung vertretenen Auffassung der beklagten Partei, das BPGG sei rechtsirrig mit dem Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz "gleichgestellt" worden, obwohl es sich beim Landespflegegeld - anders als beim Bundespflegegeld - um eine regionale beitragsunabhängige Sonderleistung handle, die vom Geltungsbereich der VO (EWG) Nr 1408/71 ausgeschlossen sei, trat das Gericht zweiter Instanz mit folgenden (insb auf 10 ObS 416/01a gestützten) Ausführungen entgegen:

Am 12. 9. 1963 sei das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedsstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. 12. 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt worden (im Folgenden kurz: Assoziierungsabkommen).

Art 9 dieses Assoziierungsabkommens bestimmt:

"Die Vertragsparteien erkennen an, dass für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise aufgrund von Art 8 noch erlassen werden, dem in Art 7 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft verankerten Grundsatz entsprechend jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist."

Art 12 des Assoziierungsabkommens lautet:

"Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Art 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen."

Gestützt auf Art 39 des zum Assoziierungsabkommen vereinbarten Zusatzprotokolls habe der durch das Abkommen geschaffene Assoziationsrat am 19. 9. 1980 den Beschluss Nr 3/80 erlassen, der die Systeme der Sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten dahingehend koordinieren soll, dass türkische Arbeitnehmer, die in einem oder mehreren Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft beschäftigt sind oder waren, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene Leistungen in den herkömmlichen Zweigen der Sozialen Sicherheit beziehen können. Zu diesem Zweck verweise der Beschluss Nr 3/80 im Wesentlichen auf einige Bestimmungen der VO (EWG) Nr 1408/71 und auf einige wenige Bestimmungen der VO (EWG) Nr 574/72 (vgl 10 ObS 416/01a).

Gemäß der den persönlichen Geltungsbereich regelnden Bestimmung des Art 2 des Beschlusses Nr 3/80 gelte dieser Beschluss

- für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind;

- für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnen;

- für Hinterbliebene dieser Arbeitnehmer.

Damit stehe fest, dass die Klägerin als im Gebiet der Republik Österreich, somit eines Mitgliedsstaates, wohnhafte Familienangehörige ihres Vaters, der die türkische Staatsangehörigkeit besitze und als Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates Republik Österreich unterworfen sei, unter den persönlichen Geltungsbereich des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates falle. In diesem Zusammenhang sei nachzutragen, dass der Vater der Klägerin zweifelsohne unter den Arbeitnehmerbegriff des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates falle. Die Arbeitnehmereigenschaft iSd Definition des Art 1 lit b dieses Beschlusses besitze nämlich jeder, der auch nur gegen ein einziges in dieser Bestimmung genanntes Risiko in einem allgemeinen oder besonderen System der Sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert sei, wobei es nicht einmal darauf ankomme, ob er in einem Arbeitsverhältnis stehe (vgl EuGH vom 4. 5. 1999, C-262/96, Rechtssache Sema Sürül gegen Bundesanstalt für Arbeit). Die Mitgliedschaft des Vaters der Klägerin in der gesetzlichen Krankenversicherung erfülle somit diese Voraussetzung.

Gemäß dem mit "Gleichbehandlung" überschriebenen Art 3 Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 hätten die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnen und für die dieser Beschluss gelte, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluss nichts anderes bestimme.

Art 4 ("Sachlicher Geltungsbereich") des Beschlusses Nr 3/80 habe den im Folgenden auszugweise wiedergegebenen Inhalt:

"(1) Dieser Beschluss gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der Sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

a) Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft;

...

(2) Dieser Beschluss gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der Sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Abs 1 verpflichtet sind.

...

(4) Dieser Beschluss ist weder auf die Sozialhilfe noch auf Leistungssysteme für Opfer des Krieges und seiner Folgen anzuwenden."

Ebenso wie die Bestimmungen der von der Gemeinschaft mit Drittländern abgeschlossenen Abkommen seien die von einem Assoziationsrat, der durch ein Assoziierungsabkommen zur Durchführung der in diesem enthaltenen Bestimmungen geschaffen wurde, erlassenen Bestimmungen als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf ihren Gegenstand und ihre Natur eine klare und eindeutige Verpflichtung enthielten, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhingen (Rechtssache C-262/96 Sürül, Slg 1999, I-02685, RNr 54 und 57; EuGH in C-277/94, Taflan-Met ua, Slg 1996, I-04085, RNr 38; OGH in 10 ObS 416/01a).

Titel III des Beschlusses Nr 3/80, der die Überschrift "Besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten" trage, enthalte entsprechend der Verordnung Nr 1408/71 ausgestaltete Koordinierungsvorschriften, die unter anderem Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft (Art 10 und 11) betreffen. Auf die in diesen Bestimmungen enthaltenen Koordinierungsvorschriften könne sich die Klägerin für die Begründung des von ihr verfochtenen Anspruchs allerdings nicht mit Erfolg stützen, da nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes diese Bestimmungen des Beschlusses Nr 3/80, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerlässlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen habe, in den Mitgliedsstaaten keine unmittelbare Wirkung hätten und daher für den Einzelnen nicht das Recht begründeten, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen (EuGH in C-262/96 Sürül; bezüglich der fehlenden unmittelbaren Wirkung der Leistungen bei Invalidität regelnden Bestimmungen der Art 12 f; EuGH in C-277/94 Taflan-Met ua).

Allerdings habe der Europäische Gerichtshof in dem bereits zitierten Urteil vom 4. 5. 1999 in der Rechtssache C-262/96, Sürül, dargelegt, dass Art 3 Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 im Geltungsbereich dieses Beschlusses einen eindeutigen, unbedingten Grundsatz aufstelle, der ausreichend bestimmt sei, um von einem nationalen Gericht angewandt werden zu können, und der daher geeignet sei, die Rechtsstellung des einzelnen zu regeln. Diese Bestimmung besitze daher unmittelbare Wirkung mit der Folge, dass sich die Bürger, für die sie gelte, vor den Gerichten der Mitgliedsstaaten auf sie berufen könnten (vgl auch Urteil des EuGH vom 14. 3. 2000, C-102/98 und C-211/98, Kocak und Örs, Slg 2000, I-01287, RNr 35). Diese Bestimmung bilde somit die Durchführung und Konkretisierung des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus den Gründen der Staatsangehörigkeit, da sie in Art 8 des Assoziierungsabkommens verankert sei, für den besonderen Bereich der Sozialen Sicherheit (Urteil C-262/96, Sürül, RNr 64; OGH in 10 ObS 416/01a mwN).

Das in Art 3 Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 normierte Gleichbehandlungsgebot bzw Diskriminierungsverbot beziehe sich jedoch gemäß der in Art 1 lit c des Beschlusses Nr 3/80 enthaltenen Begriffsbestimmung des Ausdrucks "Rechtsvorschriften" auf die in jedem Mitgliedsstaat - hier in Österreich - bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen sowie auf alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art 4 Abs 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der Sozialen Sicherheit.

In der das österreichische Bundespflegegeld betreffenden Entscheidung vom 8. 3. 2001, Rs C-215/99, Jauch, Slg 2001, I-01901 (RdW 2001/324), habe der EuGH klargestellt, dass für die Anwendung der Ausnahmeregel des Art 10a der VO 1408/71 die betreffende Leistung eine Sonderleistung sein müsse, sie nicht durch Beiträge finanziert werden dürfe, also beitragsunabhängig sein müsse, und dass sie überdies in Anhang IIa der Verordnung angeführt sein müsse. Weiters habe der Europäische Gerichtshof ausgeführt, dass die Umstände der Gewährung von Bundespflegegeld und dessen Finanzierungsweise nichts am Wesen des Pflegegeldes änderten, wie es sich aus dem Urteil Molenaar (RS C-160/96, Slg 1998, I-0843) ergebe. Nach diesem Urteil bezweckten Leistungen dieser Art im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung. Das Bundespflegegeld sei somit unabhängig davon, ob es beitragsunabhängig sei oder nicht, als eine finanzielle Leistung bei Krankheit im Sinne des Art 4 lit a der VO Nr 1408/71 anzusehen und falle daher nicht unter Art 4 Abs 2a. Schließlich habe der EuGH auch die Beitragsunabhängigkeit des Bundespflegegeldes im Hinblick auf das österreichische Finanzierungssystem verneint. Daher erfülle das Bundespflegegeld nicht den Tatbestand des Art 10a der VO Nr 1408/71, sondern sei gemäß Art 19 Abs 1 lit b dieser Verordnung und den entsprechenden Bestimmungen der anderen Abschnitte des Kapitels 1 des Titels III dieser Verordnung als eine Geldleistung bei Krankheit unabhängig davon auszuzahlen, in welchem Mitgliedsstaat ein Pflegebedürftiger wohne, der die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfülle.

Betreffend die Einordnung des - hier gegenständlichen - Landespflegegeldes in die VO (EWG) Nr 1408/71 sei festzuhalten, dass - worauf der Berufungswerber in seinem Rechtsmittel hingewiesen habe - Österreich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, gemäß Art 4 Abs 2b VO 1408/71 eine ausdrückliche Ausnahme in Anhang IV 1.1. der VO 1408/71 aufzunehmen (Leistungen, die nur auf einen Teil des Mitgliedsstaates beschränkt seien, hier also auf das jeweilige Bundesland). Allerdings sei auch hier Voraussetzung, dass überhaupt eine beitragsunabhängige Sonderleistung vorliege. Vor dem Hintergrund des Urteils in der Rechtssache Jauch sei dies allerdings jedenfalls bei jenen (Landes-)Pflegegeldtatbeständen, wo eine vorherige Erwerbstätigkeit und der Annex zu einer daran anknüpfenden Leistung den Ansatzpunkt für den Pflegegeldbezug bilden, zu verneinen. Allenfalls bei jenen Pflegegeldtatbeständen, die eher im Bereich der Sozialhilfe angesiedelt seien und tatsächlich allein der bloße inländische Wohnsitz Ansatz für die Leistungsgewährung sei, könnte das Vorliegen einer beitragsunabhängigen Sonderleistung angenommen werden (vgl dazu Resch, Exportverpflichtung für österreichisches Pflegegeld, RdW 2001/322).

Da im vorliegenden Fall die versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit des Vaters der Klägerin den Ansatz für den begehrten Pflegegeldbezug bilde, sei somit in Anlehnung an die vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Jauch für den Bereich des Bundespflegegeldes entwickelten Grundsätze auch das Pflegegeld nach dem Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz in der hier vorliegenden Anspruchskonstellation nicht als im Bereich der Sozialhilfe angesiedelte beitragsunabhängige Sonderleistung, sondern als Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 4 lit a VO (EWG) Nr 1408/71 und Art 4 Abs 1 lit a des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates zu qualifizieren. Zur Einholung einer Vorabentscheidung zu dieser Frage sehe sich das Berufungsgericht nicht veranlasst.

Das Erstgericht sei daher im bekämpften Urteil zum zutreffenden Zwischenergebnis gelangt, dass die Klägerin iSd § 4 Abs 3 lit c Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sei. Da die Klägerin schließlich keine Grundleistung beziehe, die einen Anspruch auf Bundespflegegeld als Annexleistung rechtfertigen würde, Familienangehörige eines krankenversicherten Arbeitnehmers nicht in den anspruchsberechtigten Personenkreis nach dem BPGG einbezogen worden seien und diese auch nicht zu der in § 3 Abs 3 und 4 BPGG umschriebenen Personengruppe gehörten, die in den Bereich der nach dem BPGG anspruchsberechtigten Personen einbezogen werden könne (vgl dazu 10 ObS 321/00d; 10 ObS 286/02k; 10 ObS 1/03z) und die Klägerin ihren Wohnsitz in Vorarlberg habe, seien die in § 4 Abs 1 Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz normierten "sonstigen Voraussetzungen" für den Bezug von Pflegegeld erfüllt und komme der in § 4 Abs 2 lit a Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz vom Anspruch auf Landespflegegeld vorgesehene Ausschluss im Fall der Klägerin nicht zum Tragen.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob die vom Europäischen Gerichtshof vertretene Auffassung, wonach es sich beim Pflegegeld nicht um eine beitragsunabhängige Sonderleistung, sondern um eine Geldleistung bei Krankheit handle, auch auf das Pflegegeld nach Landes-Pflegegeldgesetzen, im Speziellen nach dem Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz übertragbar sei, keine gesicherte Rsp des Obersten Gerichtshofes vorliege.

Gegen den stattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Klagebegehren zur Gänze "kostenpflichtig" abzuweisen.

Die klagende Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Vorweg ist klarzustellen, dass die Beklagte, wenn sie am Ende der Revisionsausführungen erstmals auf einen [angeblich] in erster Instanz vorgenommenen "Parteiwechsel" seitens der klagenden Partei "hinweist", der nach den Vorschriften der ZPO unzulässig wäre, Folgendes übersieht:

Mit dem Pflegegeldbescheid ist das Verwaltungsverfahren vor dem Pflegegeldträger beendet. Ist die Pflegebedürftige - wie hier - mit dieser bescheidmäßigen Erledigung nicht einverstanden, besteht die Möglichkeit, den Gerichtsweg zu beschreiten. Hierzu hat sie eine Klage gegen den Bescheid beim zuständigen Sozialgericht zu erheben. Dadurch wird ein sozialgerichtliches Verfahren (gerichtliches Pflegegeldverfahren) eingeleitet. Die Pflegebedürftige ist dann klagende Partei und der Pflegegeldträger die beklagte Partei, wobei die Bestimmungen des ASGG sowie der ZPO anzuwenden sind (Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] Rz 497 mwN).

Hier enthielt die gegen den angefochtenen Pflegegeldbescheid erhobene Klage zwar ursprünglich das - offenbar irrige - Begehren, dem Vater der Klägerin für sein mj Kind Derya E***** ab 1. 7. 2001 Pflegegeld der Stufe 2 gemäß Landes-Pflegegeldgesetz zu gewähren (ON 1). In der Verhandlung vom 28. 11. 2002 (nach Vorlage von Bestätigungen darüber, dass er für die Genannte Familienbeihilfe bezieht und diese bei der Vorarlberger GebKK als seine Angehörige gemeldet und mitversichert ist [Beilagen ./B und ./C]), wurde dies jedoch "modifiziert" und klargestellt, dass die vorliegende Klage darauf gerichtet ist, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, "der Klägerin" mj Derya E***** ab dem 1. 7. 2001 das Pflegegeld der Stufe 6 gemäß Landes-Pflegegeldgesetz zu gewähren (ON 16, AS 77).

Dass sich die Revisionswerberin gegen diese - nach § 235 Abs 5 ZPO zulässige - Richtigstellung der Parteienbezeichnung auf ein anderes Rechtssubjekt (vgl dazu RIS-Justiz RS0039313; Rechberger/Frauenberger in Rechberger² Rz 11 zu § 235 ZPO; Schubert in Fasching/Konecny² II/1 [2004] Rz 79 ff vor § 1 ZPO; Klicka in Fasching/Konecny² III [2004] Rz 45 ff zu § 235 ZPO) ausgesprochen hätte, ist dem Protokoll hingegen nicht zu entnehmen. Aber auch in ihrer Berufung hat die beklagte Partei gar nicht geltend gemacht, vom Erstgericht aufgrund eines unzulässigen Parteiwechsels zur Zahlung von Pflegegeld an die Mj verpflichtet worden zu sein. Im Berufungsschriftsatz ist die mj Derya E***** vielmehr weiterhin (wie bereits in sämtlichen früheren vom Erstgericht ausgefertigten Aktenstücken) ausdrücklich als "Klägerin" bezeichnet.

Die Berichtigung der Parteienbezeichnung der Klägerin blieb somit unbekämpft. Dieser Teil der Entscheidung des Erstgerichts ist daher in Rechtskraft erwachsen, sodass ein Aufgreifen dieses Umstandes im Revisionsverfahren nicht mehr möglich ist (vgl Klicka in Fasching/Konecny 2 III Rz 40 zu § 235 ZPO).

Die zutreffende Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, dass das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates nach stRsp des Europäischen Gerichtshofes unmittelbar anwendbar ist und unmittelbare Wirkungen entfaltet (vgl zuletzt: EuGH, 28. 4. 2004, C-373/02, Öztürk, Randnr 60), sodass sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann (Fasselt, Europarecht und Sozialhilfe, ZFSH/SGB 2004, 655 f [675] mwN in FN 232) und ebenso behandelt werden muss, wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedsstaates (EuGH, 4. 5. 1999, C-262/96, Sürül, Randnr 97 mwN), zieht die Revisionswerberin ebenso wenig in Zweifel wie jene, dass die Klägerin als im Gebiet der Republik Österreich wohnhafte Familienangehörige ihres Vaters, der die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und als Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates Republik Österreich unterworfen ist, in den persönlichen Geltungsbereich des genannten Beschlusses des Assoziationsrates fällt (vgl auch dazu das Urteil Sürül Randnr 82 ff).

Die Revision hält mit ihren "der guten Ordnung halber" wiederholten Argumenten (die ihrer Meinung nach zu einem Ausschluss des Anspruches der Klägerin führen sollen) aber daran fest, der Klägerin stehe deshalb kein Pflegegeld nach dem Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetz zu, weil auch die österreichische Judikatur den "grundlegenden Unterschied" zwischen dem Landes-Pflegegeldgesetz und dem Bundespflegegeldgesetz, die nur zufällig gleichlautende Bezeichnungen hätten, "aufzeige". Das "beitragsunabhängige Partikularrecht einzelner Länder" stelle nicht auf eine versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit des Antragstellers und/oder antragsberechtigter Angehöriger ab, weshalb der Anknüpfungspunkt für die Qualifikation als "Geldleistung bei Krankheit" iSd Art 4 lit a VO (EWG) 1408/71 und Art 4 Abs 1 lit a des Beschlusses des Assoziationsrates fehle.

Richtig ist, dass das VbgPGG in der Frage der Anspruchsberechtigung der Klägerin nicht auf eine versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ihres Vaters, sondern auf ihren Hauptwohnsitz bzw Aufenthalt und das Vorliegen der österreichischen Staatsbürgerschaft bzw einer entsprechenden Gleichstellung abstellt (§ 4 VbgPGG). Zu Recht verweist die beklagte Partei daher auf die unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen nach dem BPGG und dem Landes-Pflegegeldgesetz.

Im Vorabentscheidungsersuchen 10 ObS 345/02m hat der erkennende Senat diese Unterschiede (dort: in den Anspruchsvoraussetzungen nach dem BPGG bzw dem SPGG) dargestellt und bereits darauf hingewiesen, dass die Frage, ob es sich beim Landespflegegeld um eine beitragsunabhängige Sonderleistung iSd Art 4 Abs 2b der VO (EWG) 1408/71 oder um eine Geldleistung bei Krankheit nach Art 19 ff leg cit handelt, im österreichischen Schrifttum nunmehr (nach Vorliegen des Urteils des EuGH in der Rechtssache Jauch) etwas differenzierter gesehen wird. Nach dieser Ansicht sei zwischen Pflegegeldtatbeständen, die eher im Bereich der Sozialhilfe angesiedelt seien (Pflegegeld ohne jeglichen Anknüpfungspunkt an eine bestimmte Erwerbstätigkeit), wo tatsächlich allein der bloße inländische Wohnsitz Ansatz für die Leistungsgewährung sei, und jenen Fällen, wo eine vorherige Erwerbstätigkeit und der Annex zu einer daran anknüpfenden Rentenleistung den Ansatzpunkt für den Pflegegeldbezug bilden (zB Pflegegeldanspruch für pensionierte Landes- und Gemeindebeamte), zu unterscheiden (10 ObS 345/02m; Resch, Exportverpflichtung für österreichisches Pflegegeld, RdW 2001, 288 ff [291]).

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zum genannten Vorabentscheidungsersuchen in der Frage, ob es sich beim Landespflegegeld (nach dem SPGG) um eine gemäß Art 4 Abs 2b der VO (EWG) 1408/71 vom Anwendungsbereich dieser VO ausgenommene Leistung ("beitragsunabhängige Sonderleistung") handelt, liegt noch nicht vor. Auf diese Frage kommt es im vorliegenden Fall aber gar nicht an, weil Art 4 des Beschlusses Nr 3/80, der den sachlichen Geltungsbereich dieses Beschlusses festlegt, "beitragsunabhängige Sonderleistungen" iSd Art 4 Abs 2b der VO (EWG) 1408/71 ohnehin gar nicht kennt:

Wie die Revision selbst aufzeigt, wurde diese Kategorie nämlich erst im Jahr 1992 mit der VO (EWG) 1247/92 neu eingeführt; eine Adaptierung des Art 4 des genannten Beschlusses (Nr 3/80), der (weiterhin) auf die VO (EWG) 1408/71 und 574/73 in ihrer ursprünglichen Fassung Bezug nimmt, ist hingegen nicht erfolgt. Der Beschluss Nr 3/80 des Assoziationsrates enthält keine Regelung darüber, wie sich Änderungen dieser VO auf das koordinierte Assoziationsrecht auswirken sollen. Da Normativakte mangels anderslautender Regelung nur in dem Verfahren geändert werden können, das sie auch hervorgebracht hat, hätten notwendige Anpassungen aber nur vom Assoziationsrat, also mit Zustimmung des Drittstaats vorgenommen werden können (Hänlein, Kommentar in EuroAS 1997, 21 ff [22]).

Für die Frage, ob Landespflegegeld in den sachlichen Geltungsbereich des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates fällt, ist demnach - mangels Anpassung des koordinierten Assoziationsrechtes - nur entscheidend, ob es sich dabei um eine Leistung der sozialen Sicherheit iSd Art 4 Abs 1 dieses Beschlusses bzw der VO (EWG) 1408/71 oder um eine nach Abs 4 dieser Bestimmung davon ausdrücklich ausgenommene Leistung der Sozialhilfe handelt. Dabei kommt es nach der Rsp des Europäischen Gerichtshofes nicht auf die Einstufung durch die nationalen Vorschriften oder die Bezeichnung an; entscheidend für die erstgenannte Qualifikation einer Leistung sind vielmehr ihre wesentlichen Merkmale, insb ihr Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung (Schrammel/Winkler, Arbeits- und Sozialrecht der Europäischen Gemeinschaft 171).

Eine Leistung wird vom Europäischen Gerichtshof im Ergebnis dann als Leistung der sozialen Sicherheit (und nicht der Sozialhilfe) betrachtet, wenn sie - wie hier - den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung (hier: im VbgPGG) gewährt wird und sich auf ein in Art 4 Abs 1 der VO (EWG) 1408/71 genanntes soziales Risiko bezieht (Fuchs, Europäisches Sozialrecht³ 116 ff; Schrammel/Winkler aaO 172 mwN in FN 38). Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt; wurde doch das Pflegegeld nach seinem Wesen (Zweck und Voraussetzungen für die Gewährung) vom Europäischen Gerichtshof bereits in der Rechtssache Jauch dahin beurteilt, dass es eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung darstellt (vgl dazu: 10 ObS 321/00d mwN). Demgemäß ist aber nicht nur das österreichische Bundes-, sondern auch das Landespflegegeld (im bestehenden "geschlossenen Pflegegeldsystem" [vgl dazu: 10 ObS 160/04h mwN]) als Leistung bei Krankheit iSd Art 4 Abs 1 lit a des Beschlusses Nr 3/80 des Assoziationsrates bzw des Art 4 Abs 1 lit a der VO (EWG) 1408/71 zu qualifizieren (vgl auch Resch aaO, RdW 2001, 291, wo er ausführt, die europarechtliche Einordnung des Landespflegegeldes als Geldleistung bei Krankheit sei vor dem Hintergrund der Entscheidung in der Rs Jauch "auch hier naheliegend").

Die Vorinstanzen sind daher im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin zum anspruchsberechtigten Personenkreis für den Bezug eines Pflegegeldes nach § 4 Abs 3 lit c des Vorarlberger Landes-Pflegegeldgesetzes gehört, weil sie österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt ist, und dass ihr auf Grund ihres (nunmehr) unstrittigen Pflegebedarfes Pflegegeld der Stufe 3 gebührt, weshalb der Revision ein Erfolg versagt bleiben musste.

Die beklagte Partei hat als Versicherungsträger (Pflegegeldträger) die Kosten ohne Rücksicht auf den Verfahrensausgang jedenfalls selbst zu tragen (§ 77 Abs 1 Z 1 ASGG; 10 ObS 1/03z).

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