OGH 10ObS181/01t

OGH10ObS181/01t10.7.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Bukovec (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Bernhard Rupp (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Wolfgang L*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Lothar Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeiststraße 1, vertreten durch Dr. Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erhöhung des Pflegegeldes, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. März 2001, GZ 9 Rs 15/01v-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 3. Oktober 2000, GZ 32 Cgs 60/00y-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Der Kläger hat die Kosten der Verfahren aller drei Instanzen selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger bezieht von der beklagten Partei Pflegegeld der Stufe 3.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 1. 3. 2000 wurde der Antrag des Klägers vom 5. 10. 1999 auf Erhöhung des Pflegegeldes mit der Begründung abgelehnt, dass der monatliche Pflegebedarf des Klägers nicht mehr als 160 Stunden betrage.

Das Erstgericht wies das vom Kläger dagegen erhobene, auf die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 4 gerichtete Klagebegehren ab. Nach seinen Feststellungen leidet der Kläger an einem Zustand nach Schüben einer Multiplen Sklerose mit deutlichen spastischen Paresen an beiden unteren Extremitäten. Die Motorik der oberen Extremitäten ist vorwiegend im feinmotorischen Bereich beeinträchtigt. Im Rahmen dieser Erkrankung liegt auch eine Harninkontinenz, gelegentlich auch Stuhlinkontinenz vor. Die Inkontinenzreinigung durch Wechseln der Inkontinenzeinlagen ist dem Kläger selbständig möglich.

Der Kläger benötigt für das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, das Zubereiten von Mahlzeiten, die Einnahme von Medikamenten, die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Gebrauchsgütern des täglichen Lebens, die Wohnungsreinigung, die Pflege der Bettwäsche sowie für Arzt- und Apothekenbesuche (Mobilitätshilfe im weiteren Sinn) Betreuung und Hilfe. Er kann nur vorgeschnittene oder breiige Kost zu sich nehmen.

Zu seiner Fortbewegung verwendet der Kläger einerseits einen von der Wiener Gebietskrankenkasse zur Verfügung gestellten elektrischen Rollstuhl (ein Elektro-Mobil) und andererseits zur Fortbewegung in der Wohnung einen Rollator. Der Kläger kann sich unter Zuhilfenahme des Rollators größtenteils im Wohnungsverband bewegen, ohne auf das Elektro-Mobil oder einen sonstigen Rollstuhl angewiesen zu sein. Es gibt zwar bei den einzelnen Wohnungsbereichen Übergänge, die mit dem Rollator nicht oder nur sehr schwer überwindbar sind; der Kläger behilft sich aber dadurch, dass er sich mit den oberen Extremitäten vorwärts hantelt und im Bedarfsfall einen in einem anderen Zimmer bereit stehenden zweiten Rollator verwendet. Stufen sind im Wohnungsverband nur zu überwinden, wenn der Kläger von seinem Schlafbereich den Kühlschrank aufsuchen will. In diesem Fall muss er sich von einem Rollator durch Stützen auf der Wand oder allenfalls Krabbeln in den 2. Rollator hineinbewegen. Den elektrischen Rollstuhl verwendet der Kläger nur zur Fortbewegung außerhalb des unmittelbaren Wohnungsbereiches.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, der Kläger habe unter Anwendung der für die einzelnen Betreuungs- und Hilsverrichtungen vorgesehenen Richt-, Mindest- und Fixwerte Pflegebedarf für das An- und Auskleiden, die tägliche Körperpflege, das Zubereiten von Mahlzeiten, die Mobilitätshilfe im engeren Sinn, die Einnahme von Medikamenten, die Beschaffung von Nahrungsmitteln, die Wohnungsreinigung, Wäschepflege und Mobilitätshilfe im weiteren Sinn in einem Gesamtausmaß von 133 Stunden monatlich. Dies führe zu keiner höheren Einstufung als der ohnehin gewährten Stufe 3. Die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufe 4 auf Grund der diagnosebezogenen Mindesteinstufung nach § 4a Abs 1 und 2 BPGG seien nicht erfüllt, weil der Kläger zur eigenständigen Lebensführung nicht überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei, da er den Rollstuhl nur für seine Wege außer Haus benötige.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und änderte das Ersturteil im Sinn einer Stattgebung des Klagebegehrens ab. Nach seinen Rechtsausführungen sei eine diagnosebezogene Mindesteinstufung nach § 4a BPGG in Stufe 4 gerechtfertigt, wenn auf Grund der in dieser Bestimmung angeführten Diagnosen eine derart schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit vorliege, dass der Pflegebedürftige zur Fortbewegung innerhalb und außerhalb der Wohnung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sei, und zusätzlich eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vorliege. Dabei sei nicht darauf abzustellen, ob der Kläger innerhalb der Wohnung auch tatsächlich den Rollstuhl benütze oder ihn, wie im vorliegenden Fall, aus baulichen Gründen nicht benützen könne. Kriterium für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen könnten nicht die konkreten Wohnverhältnisse sein, sondern der typisierte Pflegebedarf im Sinne des "Angewiesenseins" auf die Benützung des Rollstuhles. Diese Voraussetzung sei beim Kläger gegeben, weshalb er auf Grund der diagnosebezogenen Einstufung Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteiles abzuändern.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Strittig ist im Revisionsverfahren nur die Frage, ob der Kläger, dessen Pflegebedarf funktionsbezogen durchschnittlich nicht mehr als 160 Stunden monatlich beträgt, überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles oder eines technisch adaptierten Rollstuhles angewiesen ist, sodass im Hinblick auf die beim Kläger auch bestehende Harnsowie gelegentliche Stuhlinkontinenz gemäß § 4a Abs 1 und 2 BPGG diagnosebezogen mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 anzunehmen ist.

Nach § 4a Abs 1 BPGG ist bei Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und auf Grund einer Querschnittlähmung, einer beidseitigen Beinamputation, einer Muskeldystrophie, einer Encephalitis disseminata oder einer Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles oder eines technisch adaptierten Rollstuhles angewiesen sind, mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen. Liegt bei diesen Personen eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vor, ist nach Abs 2 dieser Gesetzesstelle mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 anzunehmen.

Eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 1 und 2 BPGG kommt somit nur bei solchen Personen in Betracht, die zur eigenständigen Lebensführung "überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen sind". Nach den Gesetzesmaterialien (RV 1186 BlgNR 20. GP, 12) liegt eine derart schwere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, welche ein überwiegendes Angewiesensein auf den Gebrauch des Rollstuhles rechtfertigt, nur dann vor, wenn der Pflegebedürftige zur Fortbewegung "innerhalb und außerhalb der Wohnung" hierauf angewiesen wäre. Der erkennende Senat hat daher bereits ausgesprochen, dass das Tatbestandsmerkmal des überwiegenden Angewiesenseins auf einen Rollstuhl im Sinne des § 4a BPGG nicht erfüllt ist, wenn sich der Betroffene innerhalb der Wohnung mit einem Gehbock oder unterstützt von einer Hilfsperson fortbewegen kann und die Verwendung eines Rollstuhles nur außerhalb des Hauses erforderlich ist (SSV-NF 13/17) oder sich die Betroffene sowohl in ihrer Wohnung als auch im Freien mit Stützkrücken und unter Berücksichtigung der zugebilligten Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ohne Rollstuhl fortbewegen kann und lediglich für das Zurücklegen größerer Entfernungen wie etwa bei Ausflügen einen Rollstuhl benötigt (10 ObS 165/99h) oder sich die Betroffene in der Wohnung - wenn auch mühsam - mit Armstützkrücken und orthopädischen Schuhen fortbewegen kann und lediglich für die Fortbewegung außerhalb der Wohnung auf den Gebrauch eines Rollstuhles angewiesen ist (10 ObS 184/99b).

Die Situation des Klägers ist mit den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalten durchaus vergleichbar. Nach den maßgeblichen Feststellungen bedarf auch der Kläger nur zur Fortbewegung außerhalb seiner Wohnung eines Rollstuhles. Zur Fortbewegung in der Wohnung ist der Kläger hingegen nicht auf die Verwendung eines Rollstuhles angewiesen, weil er sich in diesem Bereich größtenteils unter Zuhilfenahme eines Rollators fortbewegen kann. Im Bereich von Stufen bzw Übergängen, die mit dem Rollator nicht oder nur sehr schwer überwindbar sind, behilft sich der Kläger dadurch, dass er sich mit Abstützen an der Wand fortbewegt und im Bedarfsfall einen in einem anderen Zimmer bereitstehenden zweiten Rollator verwendet. Das Erstgericht hat diesem Umstand im Rahmen der funktionsbezogenen Beurteilung dadurch Rechnung getragen, dass es insoweit die Notwendigkeit einer fremden Hilfe durch die Berücksichtigung eines Betreuungsaufwandes von 15 Stunden für Mobilitätshilfe im engeren Sinn (§ 1 Abs 3 EinstV) anerkannt hat.

Da sich der Kläger nach den Feststellungen in der Wohnung somit tatsächlich mit dem Rollator - also ohne Benützung eines Rollstuhles - fortbewegen kann, ist er unabhängig von der baulichen Anlage seiner Wohnung nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Voraussetzungen für das Tatbestandsmerkmal des Angewiesenseins auf den Rollstuhl innerhalb der Wohnung wären aber auch dann nicht erfüllt, wenn der Kläger bei rollstuhlgerechter Ausstattung der Wohnräume tatsächlich einen Rollstuhl benützte, obwohl ihm die Fortbewegung mit einem Rollator möglich ist. Damit liegen aber die Voraussetzungen einer rein diagnosebezogenen Einstufung des Klägers nach § 4a BPGG nicht vor. Da somit der Pflegebedarf des Klägers nicht durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich beträgt (§ 4 Abs 2 BPGG Stufe 4), hat er keinen Anspruch auf ein höheres Pflegegeld als ein solches der Stufe 3.

Es war daher in Stattgebung der Revision der beklagten Partei das Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an den Kläger nach Billigkeit liegen nicht vor und wurden auch nicht geltend gemacht.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte