OGH 10ObS164/10f

OGH10ObS164/10f30.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Gabriele Jarosch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei, M***** H*****, vertreten durch Dr. Martin Huger, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter Straße 65, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. September 2010, GZ 7 Rs 27/10g-36, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die geltend gemachten Mangelhaftigkeiten des Berufungsverfahrens liegen nicht vor. Wie der Revisionswerber selbst vorbringt, war die von ihm behauptete Verletzung der Anleitungspflicht infolge Nichtanleitung zur Beantragung der Gutachtenserörterung und zur Einholung weiterer Sachverständigengutachten bereits Gegenstand der in seiner Berufungsschrift erhobenen Mängelrüge. Das Berufungsgericht hat sich mit diesen Ausführungen auseinandergesetzt und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Verfahrensmangel nicht vorliege. Nach ständiger Rechtsprechung können auch in Sozialrechtssachen angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde, im Revisionsverfahren nicht neuerlich mit Erfolg geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0043061).

Die Frage, ob ein Sachverständigengutachten schlüssig und nachvollziehbar ist, gehört zur Beweiswürdigung und kann im Revisionsverfahren nicht überprüft werden (RIS-Justiz RS0043320 [T12]). Mittels Rechtsrüge ist die Anfechtung der Ergebnisse von Sachverständigengutachten nur insoweit bekämpfbar, als dabei ein Verstoß gegen zwingende Denkgesetze, (sonstige) Erfahrungssätze oder zwingende Gesetze des sprachlichen Ausdrucks unterlaufen ist (RIS-Justiz RS0043404). Einen Verstoß dieser Art zeigt der Revisionswerber nicht auf.

2. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung die Auswirkungen einer Unfallverletzung auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu prüfen sind und der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit daher unabhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf abstrakt zu beurteilen ist (RIS-Justiz RS0088972, RS0084174 ua). Die Unfallversicherung ist keine Berufsversicherung (RIS-Justiz RS0088964). Nur besondere Situationen im Einzelfall können die angemessene Berücksichtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufs zur Vermeidung unbilliger Härten rechtfertigen (RIS-Justiz RS0043587). Ein Härtefall, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, liegt nach ständiger Rechtsprechung nur dann vor, wenn den Versicherten infolge der unfallbedingten Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an eine konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen ist (RIS-Justiz RS0086442). Die Unmöglichkeit den bisherigen Beruf weiterhin auszuüben stellt für sich allein noch kein Kriterium eines Härtefalls dar (RIS-Justiz RS0086439). Nur wenn die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa eine spezialisierte Berufsausbildung, die eine anderweitige Verwendung, bezogen auf das gesamte Erwerbsleben, praktisch gar nicht zulässt oder in weit größerem Umfang einschränkt als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Unfallfolgen, könnte von einem besonders zu berücksichtigenden Härtefall gesprochen werden (RIS-Justiz RS0086439). Anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Revisionswerber zitierten Entscheidung 10 ObS 174/01p (= SSV-NF 15/86).

Die Frage, ob ein besonderer Härtefall vorliegt, ist somit aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Insgesamt ist der Maßstab der Rechtsprechung streng und macht die Anwendung der Härteklausel zu einer Ausnahme. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner bisherigen Judikatur das Vorliegen einer besonderen Härte stets verneint (zuletzt 10 ObS 63/10b - Kolaratursopran).

Von der durchschnittlichen Betrachtungsweise abweichende, besondere Kriterien liegen bei dem am 1960 in Bosnien geborenen Kläger, der als Eisenbieger und als Schalungszimmerer beschäftigt war und durch den Arbeitsunfall eine Schwerhörigkeit am linken Ohr erlitt, nicht vor. Die beim Kläger gegebenen Umstände sind mit denjenigen Umständen nicht zu vergleichen, die nach der in der Bundesrepublik Deutschland ergangenen Judikatur zur Anwendung der Härteklausel führten (etwa Bewegungseinschränkung der linken Hand bei einem Geiger; Verlust des Geruchssinns bei einem Unternehmer einer Kaffeerösterei; Lärmschwerhörigkeit eines Flugkapitäns). Während es sich in den beiden zuerst genannten Beispielen um Fälle mit angeborenen und nicht nur erlernten Fähigkeiten (Musikalität, besonderer Geruchssinn) handelte, wurde im Fall der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit eines Flugkapitäns, dessen Berufskrankheit trotz ihrer einschneidenden beruflichen Auswirkungen keine medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigender Höhe zur Folge hatte, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände (Ausübung des spezialisierten, hoch qualifizierten und auch besonders hoch dotierten Berufs über 20 Jahre lang, Alter) ein Härtefall angenommen (siehe 10 ObS 248/94 = SSV-NF 9/26).

Das Berufungsgericht ist von den dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung nicht abgewichen und folgt der ständigen Rechtsprechung des Senats. Der Kläger bringt lediglich vor, er habe als Arbeiter immer manuelle Arbeiten verrichtet, weshalb „der Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte und eine entsprechende schmerzfreie Beweglichkeit“ wesentlich seien. Aufgrund seines Alters und seiner mangelnden Deutschkenntnisse habe er keine Möglichkeit in einen Beruf zu wechseln, der nicht manuelle Tätigkeiten verlange. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein besonderer Härtefall nur dann angenommen werden könnte, wenn sich aus dem höheren Lebensalter des Klägers zusätzliche Kriterien ergäben, die ein Abgehen von der durchschnittlichen Betrachtungsweise rechtfertigen, etwa altersbedingte besondere Anpassungs- und Gewöhnungsschwierigkeiten an die eingetretene Behinderung, die sich erschwerend auf die Erwerbsfähigkeit auswirken (RIS-Justiz RS0084195). In dieser Richtung besteht aber kein Vorbringen. Die in Form einer Versehrtenrente zu gewährende Entschädigung ist nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten vor und nach dem Arbeitsunfall zu bemessen. Dementsprechend können auch die individuellen Verhältnisse - wie hier angeblich mangelhafte Sprachkenntnisse - des Verletzten grundsätzlich nicht zur Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Härtefallregelung führen.

Da der Revisionswerber keine iSd § 502 Abs 1 ZPO erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen vermag, ist die Revision zurückzuweisen.

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