European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00146.16T.0124.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin beantragte am 13. 8. 2015 anlässlich der Geburt ihres Sohnes am 30. 7. 2015 das pauschale Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30+6. Der Vater des Kindes ist im Fürstentum Liechtenstein beschäftigt, die Klägerin war vor dem Bezug des Wochengeldes in Österreich arbeitslos gemeldet. Die Familie ist in Österreich wohnhaft. Der Vater erhielt von der liechtensteinischen Familienausgleichskasse nach dem Gesetz vom 18. 12. 1985 über die Familienzulage (Familienzulagengesetz – FZG, fl LGBl 1986/28) eine Geburtszulage in der Höhe von (einmalig) 2.300 CHF (Art 23 lit b fl FZG iVm Art 31 ff fl FZG).
Mit Bescheid vom 23. 11. 2015 setzte die beklagte Gebietskrankenkasse infolge Anrechnung der Geburtszulage von 2.300 CHF die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes für die Zeit von 30. 10. 2015 bis 21. 3. 2016 mit 0 EUR und für den 22. 3. 2016 mit 6,39 EUR fest; ab 23. 3. 2016 wurden täglich 14,53 EUR zuerkannt. Die beklagte Partei begründete diesen Bescheid damit, dass es sich bei der in Liechtenstein gebührenden Geburtszulage um eine dem Kinderbetreuungsgeld gleichartige Leistung gemäß der VO (EG) 883/2004 (Koordinierungsverordnung, im Folgenden: „VO 883/2004 “) handle und diese deshalb auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei.
In ihrer gegen den Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin, die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld ab 30. 10. 2015 in Höhe von 14,53 EUR täglich, somit ohne Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage. Sie bringt im Wesentlichen vor, die Vergleichbarkeit bzw Gleichartigkeit des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes und der liechtensteinischen Geburtszulage sei vom Obersten Gerichtshof bereits in der Entscheidung 10 ObS 109/07p, SSV‑NF 21/78 verneint worden. Diese Entscheidung sei zwar noch im Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 ergangen. Seit deren Außerkrafttreten hätten sich aber weder die Rechtsnatur noch die Zielsetzung oder der Rechtsgrund des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes und der liechtensteinischen Geburtszulage geändert. Die Anrechnung sei daher zu Unrecht erfolgt.
Die beklagte Partei beantragte Klageabweisung. Die Entscheidung 10 ObS 109/07p, SSV‑NF 21/78 sei für den vorliegenden – bereits in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fallenden Sachverhalt – nicht mehr maßgeblich, weil es seit Inkrafttreten dieser Verordnung im Bereich der Familienleistungen zu einem „Systemwandel“ gekommen sei. Der Begriff der Familienleistung sei neu definiert worden. Die in der VO (EWG) 1408/71 noch enthaltene Unterscheidung zwischen „Familienbeihilfen“ und „Familienleistungen“ sei entfallen. Zudem komme § 6 Abs 3 KBGG zum Tragen. Nach dieser Regelung ruhe der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern Anspruch auf vergleichbare ausländische Familienleistungen bestehe, in Höhe der ausländischen Leistungen. Unter vergleichbaren ausländischen Familienleistungen iSd § 6 Abs 3 KBGG seien all jene Familienleistungen zu verstehen, die für Kinder unter drei Jahren gebühren und nicht der Familienbeihilfe gleichartig seien. Diesen Kriterien entspreche die liechtensteinische Geburtszulage.
Das Erstgericht sprach entsprechend dem angefochtenen Bescheid aus, dass die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes für die Zeit von 30. 10. 2015 bis 21. 3. 2016 0 EUR, für den 22. 3. 2016 6,39 EUR und von 23. 3. 2016 bis 31. 7. 2017 14,53 EUR betrage; das darüberhinausgehende Mehrbegehren wurde abgewiesen. Die Klägerin habe Anspruch auf Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes nur unter Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage. Diese Anrechnung habe unabhängig davon zu geschehen, ob es sich um vergleichbare oder nicht vergleichbare Familienleistungen handle.
Infolge Berufung der klagenden Partei änderte das Berufungsgericht das Ersturteil dahin ab, dass es der Klage stattgab. Die Klägerin habe ohne Rücksicht auf den Bezug der liechtensteinischen Geburtszulage durch den Vater des Kindes Anspruch auf ungekürzte Auszahlung des Kinderbetreuungsgeldes, weil es sich bei den beiden Leistungen nicht um Leistungen von im Wesen gleicher Art handle. Zur Begründung führte das Berufungsgericht (zusammengefasst) aus, die liechtensteinische Geburtszulage und das pauschale Kinderbetreuungsgeld seien Familienleistungen im Sinne des Art 1 lit z der VO 883/2004 . Zu berücksichtigen sei die gesamte Situation der Familie („Familienbetrachtungsweise“). Aufgrund der Beschäftigung des Vaters in Liechtenstein gelte für diesen liechtensteinisches Recht; für die Klägerin gelte aufgrund ihres Wohnorts in Österreich österreichisches Recht. Art 68 der VO 883/2004 unterscheide zwischen der Leistungsgewährung mehrerer Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen (Art 68 Abs 1 lit a) und aus denselben Gründen (Art 68 Abs 1 lit b). Dieser Passus stelle darauf ab, aus welchem innerstaatlichen Grund die Leistung gewährt werde. Die Geburtszulage gebühre nach dem liechtensteinischen Familienzulagengesetz aufgrund der Beschäftigung (des nicht in Liechtenstein wohnhaften Vaters des Kindes), während das Kinderbetreuungsgeld nach dem KBGG unabhängig von einer Beschäftigung aufgrund des Wohnsitzes zustehe. Es lägen daher Leistungen mehrerer Mitgliedstaaten („Geltungsstaaten“) der VO 883/2004 aus unterschiedlichen Gründen vor, sodass nach der in ihrem Art 68 Abs 1 lit a festgelegten Reihenfolge vorrangige Leistung die liechtensteinische Familienzulage sei; der Wohnsitzstaat Österreich sei nachrangig leistungszuständig. Im Wohnsitzstaat gebühre nach Art 68 Abs 2 der VO 883/2004 ein allfälliger Differenzbetrag, sofern die Leistung dort höher sei. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien Antikumulierungsvorschriften einschränkend dahin auszulegen, dass sie das Zusammentreffen von Familienleistungen gleicher Art erfordern. Gleichartigkeit liege nur vor, wenn Sinn und Zweck der Leistungen sowie die Berechnungsgrundlagen und die Voraussetzungen für ihre Gewährung übereinstimmen. Diese noch zur VO (EWG) 1408/71 ergangene Rechtsprechung sei weiterhin anwendbar, da sich die Systematik der VO 883/2004 betreffend die Anrechnung von Familienleistungen gegenüber der NachfolgeVO (EWG) 1408/71 nicht geändert habe. Auch im Anwendungsbereich der VO 883/2004 sei daher die Entscheidung 10 ObS 109/07p, SSV‑NF 21/78 weiterhin maßgeblich, nach der die liechtensteinische Geburtszulage und das (pauschale) Kinderbetreuungsgeld keine im Wesen gleichartige Leistungen seien. Die von der beklagten Partei gewünschte Heranziehung der (nationalen) Ruhens‑ bzw Antikumulierungsbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG komme infolge des Anwendungsvorrangs der Antikumulierungsvorschriften und Prioritätsregeln des Art 76 VO (EWG) 1408/71 bzw der Art 10, 67 und 68 der VO 883/2004 nicht in Betracht.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei, mit der sie die Wiederherstellung des abweisenden Ersturteils anstrebt.
Die Klägerin hat von der ihr eingeräumten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung einzubringen, nicht Gebrauch gemacht.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der beklagten Partei ist entgegen dem – nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig, weil eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu einem vergleichbaren Sachverhalt im Anwendungsbereich der VO 883/2004 noch nicht ergangen ist.
Die Revision ist aber nicht berechtigt.
1.1 Auf den vorliegenden Fall sind unstrittig die VO 883/2004 sowie die Durchführungsverordnung (EG) Nr 987/2009 anzuwenden.
1.2 Nicht in Zweifel gezogen wird auch, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z VO 883/2004 ist (RIS‑Justiz RS0122905 [T3]; Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 1 VO 883/2004 Rz 80; vgl EuGH 7. 6. 2005 Rs C‑543/03, Dodl und Oberhollenzer Slg 2005, I‑5049) und dass dies auch auf die liechtensteinische Geburtszulage zutrifft, weil diese in Abschnitt I der VO 883/2004 („besondere Geburts- oder Adoptionsbeihilfen iSd Art 1 lit z“) nicht enthalten ist (RIS‑Justiz RS0122906).
1.3 Nicht strittig ist weiters, dass der Vater des Kindes im gegenständlichen Zeitraum gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 aufgrund seiner Erwerbstätigkeit in Liechtenstein den Rechtsvorschriften des Fürstentums Liechtenstein unterliegt und die Klägerin – da keine Beschäftigung vorliegt – gemäß Art 11 Abs 3 lit e der VO 883/2004 den Rechtsvorschriften ihres Wohnsitzstaats Österreich.
1.4 Zutreffend gehen die Parteien davon aus, dass in dieser Situation gemäß Art 68 Abs 1 lit a der VO 883/2004 primär der Beschäftigungsstaat (Liechtenstein) für die Zahlung von Familienleistungen zuständig ist, während der Wohnsitzstaat (Österreich) nachrangig zuständig ist und im Wohnsitzstaat nach Art 68 Abs 2 VO 883/2004 allfällige Differenzbeträge gebühren, sofern die Leistungen dort höher sind. Auch die „Familienbetrachtungsweise“ (RIS‑Justiz RS0122909 [T1]) wird nicht in Zweifel gezogen.
1.5 Klarzustellen ist aber, dass die Rangfolge in der Prioritätsregel des Art 68 Abs 1 VO 883/2004 danach bestimmt wird, aus welchem Grund die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Anwendung kommen und nationale Voraussetzungen, wann eine Leistung zusteht, für die Anwendung des Art 68 der VO 883/2004 keine Rolle spielen. Gemäß Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 stehen an erster Stelle Ansprüche, die deshalb bestehen, weil die betreffende Person im jeweiligen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt. Diesen nachgereiht sind Ansprüche, die durch eine Rente ausgelöst werden. Darauf folgen an letzter Stelle Ansprüche, die aufgrund des Wohnsitzes bestehen. Ob nach innerstaatlicher Systematik der Anspruch auf Familienleistungen durch eine Beschäftigung oder durch den Wohnsitz im Inland ausgelöst wird, ist hingegen unerheblich (10 ObS 148/14h, DrdA 2016/29, 259 [Rief]). Die Formulierung in Art 68 Abs 1 lit a und b der VO 883/2004 „Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen bzw denselben Gründen“ ist demnach nicht nach nationalen Gesichtspunkten zu interpretieren, sondern europäisch unter Zugrundelegung des Art 11 iVm Art 67 der VO 883/2004 (Rief, Zuständigkeit für Familienleistungen – aktuelle EuGH‑Judikatur und die neue Rechtslage, DRdA 2011, 480 [484 f]).
2.1.1 Strittig im Revisionsverfahren ist nur mehr, ob für die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/200 sämtliche Familienleistungen des prioritär zuständigen Mitgliedstaats jenen des nachrangig zuständigen Mitgliedstaates gegenüberzustellen sind oder ob nur jene Familienleistungen zu berücksichtigen sind die gleichartig sind; im letzteren Fall stellt sich die Frage, ob die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische Kinderbetreuungsgeld gleichartige Familienleistungen sind.
2.1.2 Nach der Rechtsprechung des EuGH (19. 2. 1981, C‑104/80, Beeck , Rz 12; 7. 6. 2005, C‑543/03, Dodl und Oberhollenzer , Rz 59) zur VO (EWG) 1408/71 gelangen die unionsrechtlichen Antikumulierungsbestimmungen nur bei einem Zusammentreffen von vergleichbaren Leistungen aus zwei Staaten zur Anwendung. Auch der Oberste Gerichtshof ging im Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH davon aus, dass die für Familienleistungen geltenden Antikumulierungsvorschriften des Art 76 VO (EWG) 1408/71 und des Art 10 VO (EWG) 574/72 nur Anwendung finden, wenn vergleichbare (gleichartige) Leistungen (aus dem Beschäftigungsmitgliedstaat und dem Wohnmitgliedstaat) zusammentreffen. Vergleichbarkeit wurde angenommen, wenn die Leistungen einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RIS‑Justiz RS0122907; 10 ObS 109/07p, SSV‑NF 21/78 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH; vgl Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Art 10 VO 883/2004 Rz 5). Im Hinblick auf die liechtensteinische Geburtsbeihilfe und das österreichische Kinderbetreuungsgeld wurde die Vergleichbarkeit der zusammentreffenden Leistungen verneint (10 ObS 109/07p, SSV-NF 21/78 = RIS‑Justiz RS0122907 [T1]). Zur Schweizer Kinderzulage wurde zwar die Vergleichbarkeit mit der österreichischen Familienbeihilfe bejaht, jedoch im Hinblick auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld verneint (10 ObS 35/11m, SSV‑NF 25/39). Eine Anrechnung des deutschen Bundes- und Landeserziehungsgelds bzw des deutschen Elterngelds auf das Kinderbetreuungsgeld wurde hingegen als zulässig angesehen (10 ObS 27/08f, SSV‑NF 22/65).
Mittlerweile hat der EuGH in der ebenfalls zur VO (EWG) 1408/71 ergangenen Entscheidung vom 8. 5. 2014, Rs C‑347/12, Wiering , ausdrücklich bestätigt, dass bei Berechnung eines im Beschäftigungsstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags nicht sämtliche der Familie nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats gezahlten Leistungen, sondern nur gleichartige Leistungen als Familienleistungen zu berücksichtigen sind. Damit hat der EuGH die im allgemeinen Teil enthaltene Antikumulierungsvorschrift des Art 12 der VO (EWG) 1408/71, die voraussetzt, dass es sich um Leistungen gleicher Art und gleichzeitig auch um Leistungen aufgrund der selben Pflichtversicherungszeit handelt, auch in Bezug auf zwei Ansprüche bei Familienleistungen angewendet ( Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 10 VO 883/2004 [46. Lfg] Rz 1).
2.2 Dem Standpunkt der Revisionswerberin, die VO 883/2004 stelle – im Gegensatz zur Vorgängerverordnung (EWG) 1408/71 – nicht mehr auf eine Vergleichbarkeit oder Gleichartigkeit der Familienleistungen ab, weil die bisherige Unterscheidung in „Familienbeihilfen“ und „Familienleistungen“ entfallen sei und die VO 883/2004 nur mehr einen (einzigen) Begriff „Familienleistungen“ kenne, ist nicht zu folgen.
Art 1 Buchstabe u) VO (EWG) 1408/71 enthält die Definition der Begriffe „Familienleistungen“ (sublit i) und „Familienbeihilfen“ (sublit ii). Als Familienleistungen gelten alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Art 4 Abs 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts‑ oder Adoptionsbeihilfen. Als „Familienbeihilfen“ werden regelmäßige Geldleistungen definiert, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden. Der Begriff „Familienleistungen“ ist somit der Überbegriff, während der Begriff „Familienbeihilfen“ nur jenen Teil an Leistungen umfasst, der sich ausschließlich nach der Zahl und allenfalls nach dem Alter der Kinder richtet. Diese Unterscheidung hat nach der VO (EWG) 1408/71 insofern Auswirkungen auf die Koordination, als für Aktive alle Familienleistungen koordiniert sind, während dies bei Rentnern nur für die engere Leistungskategorie der Familienbeihilfe gilt (Art 77 ff VO [EWG] 1408/71; Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 1 VO 883/2004 [44. Lfg] Rz 75). Insofern bestehen eingeschränkte Koordinierungsregeln für bestimmte Familienleistungen: Rentner befinden sich in einer schlechteren Situation als die anderen Personengruppen.
Nach Erwägungsgrund 34 der VO 883/2004 war es erforderlich, die Familienleistungen in ihrer Gesamtheit (neu) zu regeln, weil sie sehr vielfältig sind und Schutz in Situationen gewähren, die als „klassisch“ beschrieben werden können, sowie in Situationen, die durch ganz spezifische Faktoren gekennzeichnet sind. Nunmehr sind nach Art 1 lit z VO 883/2004 als Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I zu verstehen. Damit wurde die Unterscheidung in Familienbeihilfen und Familienleistungen aufgegeben, es wird nur mehr der umfassendere Begriff der Familienleistungen verwendet und damit erreicht, dass für alle Personengruppen der weitere Begriff der Familienleistungen von der Koordinierung erfasst wird (Spiegel in Mazal , Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [93]). Der Begriff Familienleistungen nach der VO 883/2004 schließt somit die vormals gesondert definierten „Familienbeihilfen“ mit ein ( Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Art 1 VO 883/2004 Rz 41). Dies entspricht der Absicht der VO 883/2004 , zur Erreichung des Ziels des freien Personenverkehrs die Vorschriften der VO 1408/71 zu aktualisieren und zu vereinfachen (Erwägungsgrund 3).
2.3 Dass es – soweit es um die Berechnung eines Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2004 geht – durch den Entfall des Begriffs „Familienbeihilfe“ zu einem „Systemwandel“ bei Berechnung des Unterschiedsbetrags gekommen wäre und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sämtliche (und nicht nur gleichartige) Familienleistungen angerechnet werden sollten, ist aber weder aus der in Art 1 lit z VO 883/2004 enthaltenen Begriffsdefinition noch aus der (allgemeinen) Antikumulierungsregel des Art 10 VO 883/2004 (dessen Vorläuferregelung der im Wesentlichen gleichlautende Art 12 der VO [EWG] 1408/71 war) noch aus Art 68 der VO 883/2004 abzuleiten. Derartiges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des EuGH vom 8. 5. 2014, Rs C‑347/12 ( Wiering). Wenngleich diese Entscheidung noch im Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 ergangen ist, bezieht sie sich allgemein auf Familienleistungen und fordert als Voraussetzung für deren Anrechnung deren Gleichartigkeit (in diesem Sinn auch Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht Art 1 VO 883/2004 [44. Lfg], Rz 76/1).
2.4 Das vom EuGH noch im Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 für die Anwendung der Antikumulierungs-Regeln bei Familienleistungen postulierte Erfordernis der Gleichartigkeit hat daher auch im Anwendungsbereich der VO 883/2004 weiterhin Gültigkeit. Allein die Ablösung der in Art 1 lit a der VO (EWG) 1408/71 enthaltenen Definition der Familienleistungen durch die Definition in Art 1 lit z der VO 883/2004 führt nicht dazu, dass sämtliche ausländische Familienleistungen (unabhängig von der Leistungsart, ihrer Funktion etc) auf Leistungen nach dem KBGG anzurechnen sind.
2.5 Dem Einwand, dass wohl kaum jemals Familienleistungen zweier Mitgliedstaaten einander exakt entsprechen werden, hat der EuGH dadurch Rechnung getragen, dass keine völlige Gleichartigkeit gefordert wird, sondern es für die Gleichartigkeit genügt, wenn die Leistungen unabhängig von den besonderen Eigenheiten der Rechtsvorschriften der verschiedenen Mitgliedstaaten in wesentlichen Merkmalen (Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und Voraussetzung für die Gewährung sowie die Leistungsberechtigten) übereinstimmen (EuGH 8. 5. 2014, Rs C‑347/12, Wiering , Rz 54, 61).
3. Dass die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische (pauschale) Kinderbetreuungsgeld gleichartige Familienleistungen sind, wurde bereits in der Entscheidung 10 ObS 109/07p, SSV-NF 21/78, unter Hinweis auf die unterschiedliche Funktion und Struktur beider Leistungen verneint. Als Begründung wurde ausgeführt, dass das Kinderbetreuungsgeld eine fortlaufende Leistung für Elternteile ist, die sich gezielt der Kindererziehung in den ersten 30 (bzw höchstens 36) Lebensmonaten des Kindes, widmen. Sie dient dazu, die Erziehung des Kindes zu vergüten, auflaufende andere Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll‑)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern. Die liechtensteinische Geburtszulage hingegen ist eine einmalige Leistung, die nach ihrem Schwerpunkt die mit der Geburt (für sich allein) verbundenen finanziellen Aufwendungen abdecken soll; die Zulage gebührt auch dann, wenn ein Kind tot geboren wurde. Somit fehlt es nicht nur an der Übereinstimmung von Sinn und Zweck der Leistungen, es sind auch die Berechnungsgrundlagen unterschiedlich (vgl EuGH 8. 5. 2014, Rs C‑347/12, Wiering , Rz 54, 61). Während die Höhe des von der Klägerin beantragten pauschalen Kinderbetreuungsgeldes gemäß § 3 KBGG nach täglichen Pauschalbeträgen ermittelt wird, also von der zeitlichen Dauer der Inanspruchnahme abhängig ist, handelt es sich bei der liechtensteinischen Geburtszulage um eine einmalige Zahlung in Höhe von 2.300 CHF für jedes Kind (auch bei einer Totgeburt).
Diese wesentlichen Merkmale beider Leistungen haben sich seit Ergehen der Entscheidung 10 ObS 109/07p, SSV‑NF 21/78 am 27. 11. 2007 nicht geändert, sodass kein Anlass besteht, von dieser Entscheidung abzugehen.
4.1 Die Revisionswerberin kann sich für ihren Standpunkt auch nicht erfolgreich auf § 6 Abs 3 KBGG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2009/116 berufen:
Nach § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2009/116 ruht der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern Anspruch auf vergleichbare ausländische Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistungen.
Der Differenzbetrag zwischen den vergleichbaren ausländischen Familienleistungen und dem Kinderbetreuungsgeld wird nach Ende der ausländischen Familienleistungen auf das Kinderbetreuungsgeld angerechnet.
4.2 § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2009/116 ist eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel, die sich ausdrücklich auf dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare ausländische Familienleistungen bezieht (RIS-Justiz RS0125752). Ihr Zweck liegt darin, den gleichzeitigen Bezug von mehreren Leistungen aus mehreren Mitgliedstaaten der EU und der weiteren „Geltungsstaaten“ zu unterbinden, um Besserstellungen dieser Personen gegenüber Personen mit Leistungsansprüchen aus nur einem Mitgliedstaat zu vermeiden.
4.3 Der Begriff „vergleichbare ausländische Familienleistungen“ in § 6 Abs 3 KBGG ist unionsrechtskonform auszulegen.
In den Gesetzesmaterialien zum KBGG wird ausgeführt, dass es für das Ruhen des Kinderbetreuungsgeldes irrelevant sein soll, wie diese Leistungen in den jeweiligen Staaten jeweils im Detail ausgestaltet sind oder bezeichnet werden, an welchen Elternteil sie gezahlt werden oder für welches Kind die Leistungen gebühren. Die allgemeine Definition „vergleichbare ausländische Familienleistungen“ sei darauf zurückzuführen, dass Familienleistungen in den einzelnen Staaten unterschiedlichst ausgestaltet sind, aber aus dieser mangelnden Harmonisierung weder Nachteile noch Vorteile gezogen werden sollten (ErläutRV 229 BlgNR 22. GP 5).
4.4 Insoweit den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 229 BlgNR 32. GP 5) weiters zu entnehmen ist, unter den Begriff „vergleichbare ausländischen Familienleistungen“ im Sinn des KBGG fielen all jene Familienleistungen, die für Kinder unter drei Jahren gebühren und nicht der Familienbeihilfe (bzw dem Kinderabsetzbetrag oder dem Mehrkindzuschlag) gleichartig sind, hat dies im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden. Da die Gesetzesmaterialien weder das Gesetz selbst sind noch dieses authentisch interpretieren, kann ein Rechtssatz, der ausschließlich in den Gesetzesmaterialien steht, auch nicht im Weg der Auslegung Geltung erlangen (RIS-Justiz RS0008799). Es kann daher dahin gestellt bleiben, ob es durch § 6 Abs 3 KBGG zu einer mit der zitierten Rechtsprechung des EuGH unvereinbaren Einschränkung der nach der VO 883/2004 zustehenden Ansprüche dadurch kommt, dass nach den Gesetzesmaterialien für unter dreijährige Kinder sämtliche – und nicht nur gleichartige – Familienleistungen bei Berechnung des eventuell geschuldeten Unterschiedsbetrags zu berücksichtigen wären.
4.5 Auch auf die erst künftig (mit 1. 3. 2017) in Kraft tretende Novellierung des § 6 Abs 3 KBGG mit dem Bundesgesetz BGBl I 2016/53 und die bezughabenden Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 1, 8 f), mit der „klargestellt“ werden soll, dass die liechtensteinische Geburtszulage anzurechnen sei, muss nicht eingegangen werden. In den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 8) kommt klar zum Ausdruck, dass „eine Anpassung der nationalen Anrechnungsbestimmung …“ erfolgt.
5.1 Zum Einwand, die Nichtanrechnung der Geburtenzulage stelle eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, ist auszuführen, dass Antikumulierungsvorschriften ganz generell als Ausgleich für Vorteile anzusehen sind, die die Unionsverordnungen über die soziale Sicherheit den in ihren persönlichen Anwendungsbereich fallenden Personen dadurch gewähren, dass sie ihnen das Recht geben, die gleichzeitige (koordinierte) Anwendung der Sozialvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu verlangen ( Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 6 Art 10 VO 883/2004 Rz 3). Berücksichtigt der Gesetzgeber in § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2009/116 bei der Ermittlung der Höhe des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld aber nicht sämtliche, sondern nur vergleichbare ausländische Familienleistungen und trägt damit der Rechtsprechung des EuGH Rechnung,ist diese Norm gleichheitsrechtlich unbedenklich. Eine Verfassungswidrigkeit infolge sachlich nicht gerechtfertigter Ungleichbehandlung von Beziehern bzw Bezieherinnen von Familienleistungen, bei denen kein grenzüberschreitender Bezug gegeben ist, ist nicht erkennbar.
Der Revision der beklagten Partei war daher nicht Folge zu geben.
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