European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00110.19B.0913.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Die Klägerin beantragte am 29. 11. 2017 anlässlich der Geburt ihres Sohnes am 20. 9. 2017 das pauschale Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum vom 27. 12. 2017 bis 30. 9. 2018 (für die Dauer von 400 Tagen). Sie ist unselbständig in der Schweiz beschäftigt, der Vater des Kindes ist im Fürstentum Liechtenstein beschäftigt. Die Familie ist in Österreich wohnhaft. Der Vater erhielt von der Liechtensteinischen Familienausgleichskasse eine Geburtszulage in der Höhe von (einmalig) 2.300 CHF. Die Klägerin war bis 26. 12. 2017 in Mutterschaftsurlaub, danach bezog sie eine Mutterschaftsentschädigung. Vom 27. 12. 2017 bis 9. 1. 2018 konsumierte sie Urlaub, vom 10. 1. 2018 bis 30. 9. 2018 befand sie sich in unbezahltem Urlaub.
Mit Bescheid vom 25. 7. 2018 setzte die beklagte Gebietskrankenkasse infolge Anrechnung der Geburtszulage von 2.300 CHF die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes für die Zeit vom 27. 12. 2017 bis 30. 9. 2018 (nach Umrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage auf einen Tagsatz von 7,08 EUR) mit täglich 23,84 EUR (anstatt der begehrten 30,92 EUR fest).
In ihrer gegen den Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum vom 27. 12. 2017 bis 30. 9. 2018 in Höhe von 30,92 EUR täglich, somit ohne Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage.
Das Erstgericht gab der Klage statt.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die Revision nicht zu. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld sei eine Familienleistung iSd Art 1 lit z VO (EG) 883/2004. Anzuwenden sei die Prioritätsregel des Art 68 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004, weil Familienleistungen zu koordinieren seien, die aus unterschiedlichen Gründen, nämlich durch Arbeitstätigkeit und durch den Wohnsitz ausgelöst würden. Dass nach dem Arbeitsort des Vaters des Kindes das Fürstentum Liechtenstein primär leistungszuständig und Österreich aufgrund des Wohnsitzes der Klägerin subsidiär leistungszuständig sei, werde auch im Berufungsverfahren nicht in Frage gestellt, sodass das Berufungsgericht davon auszugehen habe. § 6 Abs 3 KBGG stelle eine international umfassend ausgestaltete Antikumulierungsregel dar, die sich ausdrücklich auf ausländische Familienleistungen beziehe, die dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbar seien. Diese Regelung sei anhand der Judikatur des EuGH unionsrechtskonform auszulegen. Auch im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 seien im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (zuletzt in der Rsc‑347/12, Wiering ), nur gleichartige Leistungen anzurechnen. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in den Entscheidungen 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2 und 10 ObS 109/07p SSV‑NF 21/78 ausgesprochen habe, stellten die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische Kinderbetreuungsgeld keine gleichartigen Leistungen dar, weil sie einander in Funktion und Struktur nicht entsprechen. Am Erfordernis der Gleichartigkeit könne auch die mit 1. 3. 2017 in Kraft getretene geänderte Fassung des § 6 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53) nichts ändern, nach der nunmehr die Anrechnung sämtlicher (und nicht nur gleichartiger) ausländischer Familienleistungen angeordnet werde. Eine Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage auf das Kinderbetreuungsgeld sei im Sinn des Anwendungsvorrangs der § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 überlagernden Rechtsprechung des EuGH nicht zulässig. Die österreichischen Gerichte haben § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 daher unangewendet zu lassen.
In ihrer außerordentlichen Revision macht die beklagte Partei zusammengefasst geltend, die Vorinstanzen hätten nicht berücksichtigt, dass die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Dodl und Oberhollenzer sowie Wiering noch zum Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) 1408/71 ergangen seien. Seit Geltung der VO (EG) 883/2004 werde bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen nicht mehr zwischen den einzelnen Familienleistungen unterschieden, sondern seien Familienleistungen in ihrer Gesamtheit geregelt. Den Mitgliedstaaten stehe es daher frei, bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen alle Familienleistungen des primär zuständigen Staats anzurechnen oder auch die Familienleistungen kategorisiert zu betrachten. Österreich habe sich mit der Umgestaltung des § 6 Abs 3 KBGG dazu entschlossen, bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen auf das Kinderbetreuungsgeld alle Familienleistungen (und nicht nur die gleichartigen oder vergleichbaren) anzurechnen. Maßgeblich sei nicht mehr die nationale Ausgestaltung der einzelnen Leistungen bzw deren Vergleichbarkeit, sondern nur mehr die europarechtliche Einordnung als Familienleistung im Sinn der Definition des Art 1 lit z der VO (EG) 883/2004. Jedes andere Ergebnis würde zu einer fortgesetzten Inländerdiskriminierung führen.
Rechtliche Beurteilung
Mit diesen Ausführungen wird keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt. Der Oberste Gerichtshof erachtet vielmehr die Begründung des Berufungsgerichts für zutreffend, sodass auf deren Richtigkeit verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 ZPO).
Den Revisionsausführungen ist noch Folgendes entgegenzuhalten:
1.1 Nach der noch zu den Antikumulierungsvorschriften des Art 76 der VO (EWG) 1408/71 und des Art 10 der VO (EWG) 574/72 ergangenen Rechtsprechung des EuGH finden diese Antikumulierungsvorschriften nur Anwendung, wenn vergleichbare (gleichartige) Leistungen (aus dem Beschäftigungsmitgliedstaat und dem Wohnmitgliedstaat) zusammentreffen (EuGH 19. 2. 1981, C‑104/80, Beeck, Rz 12; 7. 6. 2005, C‑543/03, Dodl und Oberhollenzer,Rz 59; siehe auch RS0122907).
1.2 Mittlerweile hat der EuGH in der ebenfalls zur VO (EWG) 1408/71 ergangenen Entscheidung vom 8. 5. 2014, C‑347/12, Wiering, ausdrücklich bestätigt, dass bei Berechnung eines im Beschäftigungsstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags nicht sämtliche der Familie nach den Rechten des Wohnsitzmitgliedstaats gezahlten Leistungen, sondern nur gleichartige Leistungen als Familienleistungen zu berücksichtigen sind (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO (EG) 883/2004 Rz 10). Damit hat der EuGH die im Allgemeinen Teil enthaltene Antikumulierungsvorschrift des Art 12 der VO (EWG) 1408/71 auch in Bezug auf zwei Ansprüche bei Familienleistungen angewendet (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 10 VO (EG) 883/2004 Rz 1).
2.1 Durch die VO (EG) 883/2004 trat im Vergleich zur VO (EWG) 1408/71 keine Änderung ein. Dies ergibt sich schon aus der auch in der VO (EG) 883/2004 enthaltenen allgemeinen Antikumulierungsregelung des Art 10 VO (EG) 883/2004, die die Rechtslage nach Art 12 VO (EWG) 1408/71 unverändert fortsetzt ( Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 10 VO (EG) 883/2004 Rz 1). Die Neuregelung der Familienleistungen in Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 verfolgt lediglich die Absicht, diese in ihrer Gesamtheit zu regeln (EuGH 27. 2. 2014, C‑32/13, Würker , Rz 48; Kahil‑Wolff in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 1 VO (EG) 883/2004 Rz 41; 10 ObS 146/16t SSV‑NF 31/2). Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2, ausführlich begründet hat, hat das vom EuGH postulierte Erfordernis der Gleichartigkeit im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 weiterhin Gültigkeit. Dass es – soweit es um die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 geht – zu einem Systemwandel gekommen wäre und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sämtliche (und nicht nur gleichartige) Familienleistungen angerechnet werden sollten, ist weder aus der in Art 1 lit z der VO (EG) 883/2004 enthaltenen Begriffsdefinition noch aus der allgemeinen Antikumulierungsregel des Art 10 VO 883/2004 noch aus Art 68 der VO (EG) 883/2004 abzuleiten ( Sonntag , Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG‑Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f; Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg] Art 1 VO (EG) 883/2004 Rz 76/1).
2.2 Wenn die Revisionswerberin dennoch den Standpunkt vertritt, den EuGH‑Entscheidungen Dodl und Oberhollenzer sowie Wiering komme für den Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 keine Bedeutung mehr zu, ohne sich mit den in der Entscheidung 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2, genannten gegenteiligen Gründen näher auseinanderzusetzen, wird mit diesem Vorbringen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt.
2.3. Soweit sich die Revisionswerberin auf § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 stützt, der – in Abänderung der Vorläuferbestimmung – nunmehr eine Anrechnung sämtlicher (und nicht nur gleichartiger) ausländischer Familienleistungen vorsieht, widerspricht diese Regelung – wie bereits das Berufungsgericht dargelegt hat – dem Unionsrecht und hat deshalb von den Gerichten unangewendet zu bleiben ( Sonntag , ASoK 2017, 2 f). Das nationale Gericht, das Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen. Zu diesem Zweck hat es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis
unangewendet zu lassen, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (RS0109951 [T3]).
3. Dass ein Änderungsentwurf der Kommission zur Abänderung der VO (EG) 883/2004 vorliegt, mit dem eine Neuordnung der Familienleistungen geplant wird, die im Fall ihres Inkrafttretens – wie die Revisionswerberin vorbringt – in Hinkunft ihrem Rechtsstandpunkt Rechnung tragen werde, vermag derzeit zu keiner andersartigen Beurteilung zu führen.
4.1 Bei Errechnung des Unterschiedsbetrags bleibt die Vergleichbarkeit der Familienleistungen daher weiterhin zu berücksichtigen. Diese ist anzunehmen, wenn die Leistungen einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen. Diese Voraussetzungen wurden für das österreichische Kinderbetreuungsgeld und die liechtensteinische Geburtszulage bereits verneint (RS0122906), weil das Kinderbetreuungsgeld eine fortlaufende Leistung für Elternteile ist, die sich in der ersten Lebenszeit des Kindes dessen Betreuung widmen, und dazu dienen soll, die Erziehung des Kindes zu vergüten und gegebenenfalls finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll‑)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern. Die Geburtszulage ist hingegen eine einmalige Leistung, die nach ihrem Schwerpunkt die mit der Geburt (für sich allein) verbundenen finanziellen Aufwendungen abdecken soll. Diese Zulage gebührt auch dann, wenn ein Kind tot geboren wurde. Es fehlt daher an der Übereinstimmung in Funktion und Struktur der Leistungen; auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Berechnung sind nicht vergleichbar.
4.2 Dass sich diese wesentlichen Merkmale der liechtensteinischen Geburtszulage seit Ergehen der Entscheidung 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2, zwischenzeitig geändert hätten, wird in der Revision nicht dargestellt. Allein der Hinweis, aus der Entwicklung des KBGG sei ableitbar, dass dieses historisch gesehen (auch) Aspekte einer Geburtenbeihilfe beinhalte, kann zu keiner anderen Beurteilung der Gleichartigkeit führen.
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