Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Beschlüsse des Erstgerichts wiederhergestellt werden.
Text
Begründung
Petra F*****, geboren am 9. 4. 1994, und Sona F*****, geboren am 10. 6. 1997 sind wie ihre Mutter Eva H***** tschechische Staatsbürgerinnen. Ihr Vater Friedrich Fr***** ist deutscher Staatsangehöriger. Die Ehe der Eltern ist rechtskräftig geschieden. Die beiden Mädchen werden von der Mutter in ihrem Haushalt in St. Pölten betreut. Zuletzt wurde der in Tschechien wohnhafte Vater mit Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom 22. 9. 2005 (ON U35) beginnend ab 1. 9. 2004 zu erhöhten monatlichen Unterhaltsbeiträgen von 302 EUR für Petra und 264 EUR für Sona verpflichtet.
Mit Beschlüssen des Bezirksgerichts St. Pölten vom 12. 12. 2005 (ON U48 und U49) wurden die den beiden Kindern (am 1. 4. 2005 [ON U5 und U6]) gewährten Unterhaltsvorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1 UVG (in Höhe von jeweils 40 EUR für den Zeitraum von 1. 4. 2005 bis 31. 3. 2008) ab 1. 4. 2005 auf monatlich 302 EUR für Petra und 264 EUR für Sona erhöht. Einem gegen diese beiden Beschlüsse erhobenen Rekurs des Vaters wurde mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht nicht Folge gegeben (ON U82).
Am 4. 3. 2008 (ON U102 und U103) beantragte der Jugendwohlfahrtsträger in Vertretung der beiden Kinder die Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse in Titelhöhe.
Mit Beschlüssen vom 6. 3. 2008 hat das Erstgericht den Kindern für den Zeitraum 1. 4. 2008 bis 31. 3. 2011 Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in einer monatlichen Höhe von 302 EUR für Petra und 264 EUR für Sona weitergewährt. Begründet wurden die Weitergewährungsbeschlüsse damit, dass dem Gericht keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Voraussetzungen der Vorschussgewährung nicht mehr gegeben wären (ON U105 und U106).
Das Rekursgericht gab dem (sich im Wesentlichen auf die Begründung der höchstgerichtlichen Entscheidungen 4 Ob 4/07b [bzw 6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g] berufenden) Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, Folge und änderte die Beschlüsse des Erstgerichts im Sinn einer Abweisung des Antrags auf Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Auf Tatsachenebene ergäben sich nach der Aktenlage tatsächlich keine Umstände, die zu einer gegenüber der vorangegangenen Gewährung bzw Erhöhung der Vorschüsse anderen Beurteilung führen müssten. Mittlerweile sei jedoch eine Änderung der Rechtsprechung eingetreten: Seit dem Beschluss 4 Ob 4/07b knüpfe der Oberste Gerichtshof nämlich - von der bisherigen Praxis abgehend - die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ausschließlich an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe. Dieser Rechtsprechung hätten sich zwei weitere Senate (6 Ob 121/07y und 1 Ob 267/07g) angeschlossen. Der Oberste Gerichtshof habe sich in den genannten Entscheidungen - insbesondere 4 Ob 4/07b - mit der Frage auseinandergesetzt, gegenüber welchem Staat Anspruch auf Familienleistungen bestehe und dabei auf die Kollisionsnormen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 (kurz: VO 1408/71 ) in Art 73 ff verwiesen. Anspruch auf Familienleistungen gemäß Art 75 der VO 1408/71 seien vom zuständigen Träger des zuständigen Staats zu gewähren, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder Selbständigen gelten, und würden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen seien, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohne oder sich dort aufhalte.
Im vorliegenden Fall seien - im Gegensatz zu den zitierten Entscheidungen - grundsätzlich die Voraussetzungen für die [Anwendung] der VO 1408/71 gegeben, weil der Vater deutscher Staatsbürger sei, jedoch in der tschechischen Republik wohne und dort offenbar auch Sozialleistungen beziehe, also von der Möglichkeit der Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe. Nach der Aktenlage sei aber zu keinem Zeitpunkt eine Eingliederung des Unterhaltsschuldners in das österreichische Sozialversicherungssystem gegeben gewesen, sodass nach den Kollisionsnormen der Art 73 ff VO 1408/71 jedenfalls keine Verweisung auf österreichisches Recht und damit auf Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG gegeben sei. Es könne letztlich dahingestellt bleiben, ob der Unterhaltsschuldner in Deutschland oder Tschechien oder in keinem der beiden Staaten in das Sozialversicherungssystem eingegliedert sei oder gewesen sei und tatsächlich einer selbständigen oder unselbständigen Beschäftigung nachgegangen sei; in keinem Fall könne es zu einer Verweisung auf österreichisches Recht und damit zu Ansprüchen der Unterhaltsberechtigten nach dem UVG kommen. Infolge dieser grundlegenden Änderung der Rechtsprechung (die einer wesentlichen Änderung der Tatsachengrundlage gleichzuhalten sei) müssten die Anträge auf Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse abgewiesen werden.
Die Zulassung des Revisionsrekurses begründete das Rekursgericht damit, dass bislang (nur) drei Entscheidungen vorlägen, die ein deutliches Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung bedeuteten und innerhalb relativ kurzer Zeit ergangen seien. Außerdem seien sie für das Rekursgericht insoweit nicht nachvollziehbar, als es des Eingehens auf die Kollisionsnormen gar nicht bedurft hätte, weil die jeweiligen Unterhaltsschuldner vom Recht auf Freizügigkeit gar nicht Gebrauch gemacht hätten und damit gar nicht der VO 1408/71 unterliegen könnten. Bei der Frage der Anwendung der VO 1408/71 handle es sich um eine Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung. Außerdem weiche der hier zu entscheidende Sachverhalt von den bereits entschiedenen Fällen auch dadurch ab, dass der Unterhaltsschuldner nicht in jenem Land lebe, dem er angehöre.
Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers als Vertreter der Minderjährigen mit dem Abänderungsantrag auf Wiederherstellung der die Anträge auf Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse für die beiden Minderjährigen bewilligenden Beschlüsse des Erstgerichts.
Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien als Vertreter des Bundes, der Vater als Unterhaltsschuldner und die Mutter als Zahlungsempfängerin haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.
Die Revisionsrekurswerberinnen weisen darauf hin, dass beim Unterhaltsschuldner die Voraussetzungen der VO 1408/71 (weiterhin) eindeutig gegeben seien; davon seien auch seine Angehörigen umfasst. Inwieweit die Kollisionsnormen der Art 73 ff der VO 1408/71 auf ihn „zutreffend sein" sollten, sei nicht klar, zumal daraus nicht abzuleiten sei, welche Rechtsvorschriften für ihn als deutschen Staatsbürger in der Tschechischen Republik gelten. Da der Unterhaltspflichtige unter die VO 1408/71 falle, seien die Anträge auf Weitergewährung zu Unrecht abgewiesen worden.
Diesen Ausführungen kommt - im Ergebnis - Berechtigung zu:
1. Im Außerstreitverfahren ergangene Beschlüsse, wie etwa Unterhaltsbemessungs- und Unterhaltsvorschussgewährungsbeschlüsse, sind der materiellen Rechtskraft (nunmehr nach § 43 Abs 1 AußStrG „Verbindlichkeit auf der Feststellung": RV 224 BlgNR 22. GP 45) zugänglich (RIS-Justiz RS0107666; zuletzt 7 Ob 293/06y und 3 Ob 43/07f) und können nur bei Änderung der Sachlage - die hier unstrittig nicht eingetreten ist - oder der Rechtslage abgeändert werden (RIS-Justiz RS0053297). Eine tiefgreifende Änderung der Rechtsprechung wird einer Änderung der Rechtslage gleichgehalten (4 Ob 42/05b = ÖA 2005, 191/U453 = RIS-Justiz RS0007171 [T27] mwN).
1. 1. Zu einer solchen tiefgreifenden Änderung der Rechtsprechung ist es im Zusammenhang mit den Anspruchsvoraussetzungen für österreichische Unterhaltsvorschüsse im Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung", kurz: VO 1408/71 ) nicht gekommen:
1. 2. In der jüngsten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g) wurde in Widerspruch zur früheren Judikatur in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.
1. 3. Anders als bei der Berücksichtigung von Transferleistungen bei der Bemessung der Unterhaltshöhe (dazu 4 Ob 42/05p = ÖA 2005, 191/U453 = RIS-Justiz RS0007171 [T26]) kann angesichts der in den letzten Jahren aufgetretenen Widersprüchlichkeit der Judikatur zur Leistungszuständigkeit für Unterhaltsvorschüsse nach der VO 1408/71 noch keineswegs von einer „tiefgreifenden" Judikaturänderung gesprochen werden.
1. 4. Nach dem Konzept des § 18 Abs 1 UVG ist das Gericht nicht berechtigt, im Zusammenhang mit der Weitergewährung den ursprünglichen Gewährungsbeschluss zu überprüfen. Haben sich nach der Erstgewährung die Sach- und Rechtslage nicht geändert, ist eine abweichende rechtliche Beurteilung im Weitergewährungsverfahren im Hinblick auf die Rechtskraft des ursprünglichen Gewährungsbeschlusses auszuschließen (Neumayr in Schwimann3 I § 18 UVG Rz 4).
Im Hinblick auf die Verneinung einer Änderung der Rechtslage (in Form einer tiefgreifenden Judikaturänderung) liegt demnach kein Grund vor, die Vorschüsse nicht weiter zu gewähren.
Dem Revisionsrekurs der Kinder ist daher stattzugeben.
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