OGH 10Ob4/13f

OGH10Ob4/13f26.2.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj D*****, geboren am ***** und der mj S*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie für den 1., 4. bis 9. Bezirk, Amerlingstraße 11, 1060 Wien) wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 6. September 2012, GZ 44 R 459/12v, 44 R 460/12s‑23, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, die Beschlüsse des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. Mai 2012, GZ 5 Pu 193/09t-8 und 9, abgeändert wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0100OB00004.13F.0226.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Begründung

Die Minderjährigen D***** und S***** sowie deren Eltern sind serbische Staatsangehörige. Die Obsorge kommt dem Vater zu. Beide Kinder leben mit dem Vater in Österreich. Die Mutter ist seit 17. 11. 2010 nicht mehr in Österreich gemeldet. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt.

In ihren Anträgen auf Unterhaltsvorschuss brachten die Minderjährigen jeweils vor, dass sie Asylwerber seien und verwiesen auf eine beiliegende Niederschrift der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof vom 11. 1. 2012.

Das Erstgericht gewährte mit Beschlüssen jeweils vom 3. 5. 2012 monatliche Unterhaltsvorschüsse gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG und zwar dem mj D***** vom 1. 4. 2012 bis 28. 2. 2016 und der mj S***** vom 1. 4. 2012 bis 31. 3. 2017 in Höhe von jeweils 4,50 EUR. Es liege ein entsprechender serbischer Unterhaltstitel vor; eine Exekution sei aufgrund des derzeit unbekannten Aufenthalts der Unterhaltsschuldnerin (Mutter) aussichtslos.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge und wies die Anträge der Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Es sprach zunächst aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Rechtlich ging es davon aus, dass Unterhaltsvorschüsse vom Anwendungsbereich der neuen Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004 ausgenommen seien, weshalb nach § 2 UVG vorzugehen sei. Diese Bestimmung setze die österreichische Staatsbürgerschaft oder die Staatenlosigkeit voraus. Dabei sei der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV zu beachten. Die beiden Minderjährigen seien jedoch Drittstaatsangehörige. Da sie nicht in den Anwendungsbereich eines Ausnahmetatbestands oder eines speziellen Gleichbehandlungsgebots ‑ etwa eines bilateralen Abkommens oder eines Assoziationsabkommens ‑ fielen, stehe ihnen kein Anspruch zu. Die Zuerkennung des Status als Flüchtling iSd Art 1 der Genfer Flüchtlingskonvention sei antragsbedürftig und setze ein spezielles Verfahren voraus. Allein das eingeleitete Asylverfahren sei nicht geeignet, den Kindern Flüchtlingsstatus zu verleihen.

Aufgrund der Zulassungsvorstellung der Kinder erklärte das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs nachträglich mit der Begründung für zulässig, dass es von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu 10 Ob 46/10b abgewichen sei. Nach dieser Entscheidung sei die Flüchtlingseigenschaft vom Gericht jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen.

Die Kinder beantragen in ihrem Revisionsrekurs die Aufhebung des Beschlusses des Rekursgerichts wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung.

In der Revisionsrekursbeantwortung stellte der Bund den Antrag, dem Revisionsrekurs der Minderjährigen nicht Folge zu geben, in eventu die Beschlüsse erster und zweiter Instanz aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung aufzutragen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Kinder ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und berechtigt.

Die Revisionsrekurswerber machen zusammenge-fasst geltend, dass ihre Flüchtlingseigenschaft als Vorfrage vom Gericht eigenständig zu beurteilen sei. Auch Personen, deren Asylantrag abgewiesen wurde, die jedoch als subsidiär Schutzberechtigte anzusehen sind, hätten Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse. Dass noch keine Entscheidung des Asylgerichtshofs über ihre Asylanträge vorliege, stelle keinen zureichenden Grund für die Abweisung der Anträge auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen dar. Es komme ihnen Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Flüchtlingsprotokoll zu.

In der Revisionsrekursbeantwortung nimmt der Bund den Standpunkt ein, die Behauptung, Asylwerber zu sein sowie der Verweis auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof sei nicht ausreichend, um die Flüchtlingseigenschaft und damit das Vorliegen der Voraussetzungen der Vorschussgewährung darzulegen. Allenfalls wäre die Flüchtlingseigenschaft selbständig vom Erstgericht zu prüfen gewesen.

Dazu ist auszuführen:

1. Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) Personen, die sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“ (vgl Art 1 A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention). Gemäß Art 12 Abs 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wird die personenrechtliche Stellung eines Flüchtlings vom Gesetz seines Wohnsitzlandes, wenn er keinen Wohnsitz hat, vom Gesetz seines Aufenthaltslandes bestimmt. Nach Art 23 GFK sollen die vertragschließenden Staaten den Flüchtlingen, die sich erlaubterweise auf ihrem Gebiet aufhalten, die gleiche Behandlung in der öffentlichen Unterstützung und Hilfeleistung gewähren, wie sie ihren eigenen Staatsbürgern zuteil wird. Nach Art 24 Z 1 lit b GFK werden die vertragschließenden Staaten den Flüchtlingen, die sich erlaubterweise in ihrem Gebiet aufhalten, auch im Bereich der Sozialversicherung (gesetzliche Bestimmungen über Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Alter, Todesfall, Arbeitslosigkeit, Familienverpflichtungen und sonstige Verpflichtungen, die nach den heimischen Gesetzen oder Verordnungen unter das Sozialversicherungswesen fallen) mit hier nicht vorliegenden Einschränkungen die gleiche Behandlung zuteil werden lassen, wie sie den eigenen Staatsangehörigen gewährt wird. Im Hinblick auf diese Bestimmungen der GFK ist eine Gleichstellung der Konventionsflüchtlinge mit österreichischen Staatsangehörigen geboten (10 Ob 46/10b).

2. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wird gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 einem Fremden zuerkannt

a) der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

b) dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

3. Die tatsächliche Situation dieser Fremden entspricht daher im Wesentlichen derjenigen von Asylberechtigten. Subsidiär Schutzberechtigte sind daher beispielsweise im Bereich des Ausländerbeschäftigungs-gesetzes Asylberechtigten rechtlich gleichgestellt und dürfen ebenfalls sofort nach Zuerkennung dieses Status bewilligungsfrei eine Beschäftigung aufnehmen (vgl § 1 Abs 2 lit a AuslBG). Auch im Bereich der Familienleistungen sind subsidiär Schutzberechtigte den Konventionsflüchtlingen weitgehend gleichgestellt. So haben sie nach § 3 Abs 4 FamLAG bei Vorliegen der weiters normierten Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen haben subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 2 Abs 1 Z 5 lit c KBGG auch Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld. Zu 10 Ob 46/10b wurde bereits ausgesprochen, unter Berücksichtigung dieser Rechtslage und des Umstands, dass ihre tatsächliche Situation im Wesentlichen derjenigen von Konventionsflüchtlingen entspricht, seien subsidiär Schutzberechtigte daher auch im Bereich des UVG Konventionsflüchtlingen rechtlich gleichzustellen. Auch sie haben daher bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen einen Vorschussanspruch.

3.1 Wie bereits das Rekursgericht in seinem Beschluss auf Zulassung des Revisionsrekurses ausgeführt hat, ist die Flüchtlingseigenschaft nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vom Gericht jeweils selbständig zu prüfen (RIS-Justiz RS0110397; RS0037183; 10 Ob 46/10b; 6 Ob 183/98z; Neumayr in Schwimann/Kodek ABGB4 § 2 UVG, Rz 16). Der Feststellung der

Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kommt zwar stärkste Indizwirkung zu, nimmt dem Gericht aber nicht die Möglichkeit selbständiger Vorfragenprüfung. Von einer weiteren selbständigen Prüfung wird das Gericht aber in der Regel mangels gegenteiliger Anhaltspunkte dann absehen können, wenn das Verfahren über die Asylgewährung erst kurze Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung ergangen ist (10 Ob 46/10b; 6 Ob 183/98z).

3.2 Die Minderjährigen haben bereits in ihren Anträgen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen (ON 2 und ON 3) vorgebracht, Asylwerber zu sein und auf das beigelegte Protokoll des Asylgerichtshofs verwiesen. Dieses Vorbringen ist ausreichend, um in eine entsprechende Prüfung der Flüchtlingseigenschaft bzw der Eigenschaft als subsidiär Schutzberechtigte einzutreten.

4. Nach Erlassung der Rekursentscheidung sind die Erkenntnisse des Asylgerichtshofs vom 20. 12. 2012, Zl. B14 309.761-I/2008/9E und Zl. B14 309.762-I/2008/10E ergangen, deren Abschriften mittlerweile zum Akt gelangt sind. Die Beschwerden des mj D***** und der mj S***** J***** wurden gemäß § 7 Asylgesetz 1997 BGBl 1997/76 idF BGBl I 2003/101 abgewiesen (Pkt I); gemäß § 8 Abs 1 AsylG wurde aber festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Republik Serbien nicht zulässig sei (Pkt II) und gemäß § 8 Abs 3 iVm § 15 Abs 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsbewilligung bis 20. 12. 2013 erteilt (Pkt III).

Nach der Begründung dieser Erkenntnisse vermochten die Beschwerdeführer keine ihnen mit Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung maßgeblicher Intensität, die in einem der in der GFK genannten Gründen ihre Ursache hätte, oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität glaubhaft zu machen. Es sei den minderjährigen Beschwerdeführern aber im Hinblick darauf der Status als subsidiär Schutzberechtigte zuzuerkennen, dass sie in der Republik Serbien in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden, weil sie dort über kein familiäres Netz verfügen und die angebotenen Sozialleistungen oft nicht zur Abdeckung der Grundbedürfnisse ausreichen.

5. Im Hinblick auf das nunmehrige Vorliegen der Erkenntnisse des Asylgerichtshofs, die für die Parteien wesentliche Tatsachen betreffen, ergibt sich eine neue Sachverhaltsgrundlage. Den Parteien wird daher vorerst Gelegenheit zu geben sein, zu den Entscheidungen des Asylgerichtshofs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen und sich dazu zu äußern (§ 15 AußStrG; RIS-Justiz RS0005915; RS0074920). Nach Vorliegen dieser Stellungnahmen und einer allfällig erforderlichen Ergänzung des Verfahrens wird das Erstgericht im Sinne der obigen Ausführungen die Frage der Flüchtlingseigenschaft der Antragsteller bzw deren Eigenschaft als subsidiär Schutzberechtigte als Vorfrage selbständig zu beurteilen haben.

Die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen erweist sich daher als unumgänglich.

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