Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung
Die im Jahr 1986 in Österreich geschlossene Ehe der aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammenden Eltern der beiden Kinder wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg vom 11. 4. 1996 gemäß § 55a EheG einvernehmlich geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich, der vom Erstgericht nach Anhörung des Jugendamtes genehmigt wurde, einigten sich die Eltern auf die Obsorge für die jetzt 13 und 9 Jahre alten ehelichen Kinder durch die eheliche Mutter. Alle Beteiligten sind österreichische Staatsbürger.
Am 13. 4. 1999 beantragte der Vater, der Mutter die Obsorge zu entziehen und sie ihm zu übertragen. Die Mutter habe inzwischen einen Amerikaner geheiratet und beabsichtige, im August 1999 mit den Kindern gegen deren Willen in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) auszuwandern. Sie scheine auch die Kinder zu vernachlässigen. Der Ortswechsel gefährde das Wohl der Kinder. Hingegen sei der Vater in der Lage, die Kinder mindestens ebenso gut wie die Mutter zu betreuen.
Die Mutter beantragte die Abweisung des Antrages.
Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab. Es stellte unter anderem fest, dass der Vater (wegen Arbeitslosigkeit) keine Alimente bezahlt und die finanzielle Belastung der berufstätigen Mutter aufgebürdet habe, die als Sachbearbeiterin für den Verkaufsinnendienst monatlich ATS 30.300 brutto verdiene. Aus psychologischer Sicht bestehe gegen eine Übersiedlung der Mutter mit den Kindern nach Amerika unter Aufrechterhaltung des Kontaktes zum Vater kein Einwand. Der engagierten Mutter könne "beim bestem Willen" eine Verletzung ihrer Obsorgepflichten nicht angelastet werden. Die beabsichtigte Auswanderung in die USA, also in ein "Kernland der westlichen Hemisphäre" bedeute für sich allein keine Gefährdung des Kindeswohles. Die Voraussetzungen für eine Entziehung der Obsorge nach § 176 Abs 1 ABGB lägen daher nicht vor.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es sah in der "beabsichtigten bzw vielleicht bereits erfolgten" Auswanderung keine über bloße Anpassungs- und Umstellungsschwierigkeiten hinausgehende Nachteile für die Kinder. Eine verlässliche Prognose für die Zukunft könne nicht gestellt werden, weil die künftige Entwicklung von den Umständen des Einzelfalles abhängen werde. Der Wohnsitzwechsel von Europa nach Amerika könnte nämlich auch als förderlich für das geistige und seelische Wohl der Kinder erweisen. Dass die beiden Kinder vor den Veränderungen Angst hätten und lieber in Österreich bleiben, sei nicht ausschlaggebend.
Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichtes aus den unten ersichtlichen Gründen zulässig und auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Im Hinblick auf die österreichische Staatsbürgerschaft der Kinder ist die inländische Gerichtsbarkeit gegeben (§ 110 Abs 1 Z 1 JN) und auf den vom Vater angestrebten Obsorgewechsel österreichisches Recht anzuwenden (§ 24 IPRG; Schwimann in Rummel2, § 24 IPRG Rz 2 mwN). Außerhalb des Anwendungsbereichs des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens - wie hier - ist das Personalstatut, somit das Recht des Staats, dessen Staatsangehöriger der Minderjährige ist, maßgeblich (ÖA 1992, 126; EFSlg 81.977 ua; Schwind, Internationales Privatrecht Rz 266 f).
Die Übertragung der Obsorge auf den anderen Elternteil, die ja mit einer Entziehung der Elternrechte verbunden ist, ist nach ständiger Rechtsprechung (JBl 1992, 639; SZ 65/84; 5 Ob 513/95 ua; Pichler in Rummel, ABGB2, § 177 Rz 2; Schwimann, ABGB2 § 176 Rz 1 ff) nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB - somit eine Gefährdung des Kindeswohls - gegeben sind, der Obsorgeberechtigte demnach die elterlichen Pflichten subjektiv gröblich vernachlässigt oder wenigstens objektiv nicht erfüllt oder vernachlässigt hat (SZ 53/142 uva, Pichler aaO § 176 Rz 1). Die Änderung der Obsorgeverhältnisse darf nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs angeordnet werden (SZ 65/84) und bedarf besonders wichtiger Gründe, die im Interesse des Kindes eine so einschneidende Maßnahme dringend geboten erscheinen lassen, weil andernfalls das Wohl des pflegebefohlenen Kindes gefährdet wäre (1 Ob 2078/96m).
Im vorliegenden Fall fehlen nun konkrete Feststellungen der Tatsacheninstanzen über die Gefährdung des Kindeswohls, die allenfalls in der Übersiedlung von Österreich nach Amerika liegen, insbesondere über die konkreten Lebensumstände, unter denen die Kinder jetzt in den USA leben.
Auszugehen ist davon, dass die Obsorge für die Kinder der Mutter zusteht; sie bestimmt daher auch grundsätzlich den Aufenthalt der Kinder (§ 146b ABGB).
Die bisherige Judikatur behandelte die Wohnsitzverlegung eines Kindes durch den obsorgeberechtigten Elternteil in den Heimatstaat dieses Elternteils oder einen Drittstaat nicht generell als Gefährdung des Kindeswohls. Nach der Entscheidung 8 Ob 620/85 (teilw veröff EFSlg 48l.311, 49.856) könne der Umstand, dass die Mutter entgegen der im Scheidungsvergleich getroffenen Vereinbarung die Kinder ohne Zustimmung des Vaters und des Pflegschaftsgerichts nach Australien verbracht habe, sofern durch dieses Verhalten das Wohl der Kinder gefährdet worden sei, Anlass für gerichtliche Maßnahmen iSd § 176 ABGB sein; solange aber derartige Maßnahmen nicht getroffen worden seien, stünden die Elternrechte und damit die Befugnis, den Aufenthalt der Kinder zu bestimmen, allein der Mutter zu. Rekursgerichtliche Entscheidungen erachteten in der von der Mutter durchgeführten Übersiedlung nach (dem früheren) Jugoslawien keine Gefährdung des sieben Jahre alten Kindes, sofern dies nicht zu über die allgemeinen Anpassungsschwierigkeiten hinausgehenden Nachteilen führe (EFSlg 38.377). Bei zwei, acht und zehn Jahre alten Kindern, die (auch) philippinische Staatsangehörige waren und deren Mutter von den Philippinen stammte, wurden in einem von der Mutter vorgenommenen Ortswechsel auf die Philippinen, abgesehen von in der Natur der Sache liegenden Umstellungsschwierigkeiten, keine Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung erkannt (EFSlg 75.161). Dagegen wurde ausgesprochen, es bestehe die Gefahr, dass der pakistanische Vater die in Österreich geborenen Kinder nach Pakistan bringe, weshalb als vorläufige Maßnahme die Entziehung der Obsorge und die Verpflichtung des Vaters, die Namen der Kinder in seinem Reisepass streichen zu lassen, berechtigt erschienen (EFSlg 71.864). Schließlich wurde in der geplanten Verbringung eines Kindes durch den Vater - beide österreichische Staatsbürger - nach Ägypten, wo das Kind bislang noch nie gelebt hatte, eine akute Gefährdung des Kindeswohls erblickt (EFSlg 68.827).
Der Begriff "Wohl des Kindes" stellt mit seiner materiellen, geistigen und seelischen Komponente die Einzelfallgerechtigkeit in den Vordergrund und lenkt das richterliche Augenmerk auf die konkreten Umstände des individuellen Falls. Dabei reihen sich auch Ausländereigenschaft, fremdes Recht, Kultur und Religion in die besonderen Umstände des Einzelfalls, die vom Pflegschaftsrichter auch sonst bei reinen Inlandsfällen zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich sind neben dem geistigen und seelischen Wohl des Kindes, das sich behütet und geborgen wissen muss, damit es zu einem für die erfolgreiche Bewältigung aller Probleme und Konflikte des Daseins genügend gerüsteten, lebenstauglichen Menschen heranwachsen kann, auch materielle Aspekte im (neuen) Wohnsitzstaat des Kindes nicht ganz zu vernachlässigen (1 Ob 2078/96m = ZfRV 1996, 248 = EFSlg
81.156 ua). In der Entscheidung 7 Ob 553/86 (teilw veröff EFSlg 51.296) wurde die von der Mutter beabsichtigte Auswanderung mit dem Kind nach Kanada für sich allein nicht als Grund für einen Obsorgewechsel angesehen und dabei auch der materielle Aspekt berücksichtigt, dass die Einwanderungsbewilligung in der Regel nur dann erteilt wird, wenn infolge des Alters und des Berufs der Einwanderungswerber gewährleistet ist, dass diese dort Arbeit finden und nicht dem Staat als Arbeitslose zur Last fallen. Neben dem Interesse des Kindes an möglichst guter Verpflegung und Unterbringung ist bei der Sorgerechtsentscheidung jedenfalls auch dessen Interesse an einer möglichst guten Erziehung, einer möglichst sorgfältigen Betreuung und an möglichst günstigen Voraussetzungen für eine gedeihliche geistig-seelische Entwicklung seiner Persönlichkeit zu berücksichtigen (EFSlg 71.878 ua). Die Staatsangehörigkeit des Kindes und seine Vertrautheit mit der Sprache und Kultur im fremden Staat müssen mitberücksichtigt werden. Bei einem älteren Kind kann neben dem Abbruch gewachsener sozialer Bindungen nicht nur der Wechsel des Kulturkreises selbst, sondern auch der kulturelle Kontrast zwischen der bisher erlebten Umwelt und den bisherigen Lebensgewohnheiten und -auffassungen zu jenen des neuen Kulturkreises unter Umständen Anlass zur Annahme der Kindeswohlgefährdung bieten (1 Ob 2078/96m).
Neben diesen allgemeinen Gesichtspunkten eines Wohnsitzwechsels ins Ausland müssen im vorliegenden Fall aber vornehmlich die speziellen konkreten Lebensumstände der Kinder berücksichtigt und entsprechend festgestellt werden. Dazu besteht aber umso mehr Anlass, als die Übersiedlung in die USA angeblich bereits im August 1999, also vor der Entscheidung des Rekursgerichtes erfolgt sein soll. Vor einer eingehenden Erörterung dieser Umstände lässt sich eine Entscheidung über die Berechtigung eines Obsorgewechsels nicht treffen, haben doch Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (EFSlg 68.806 ua). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung ist der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind; insoweit gilt auch kein Neuerungsverbot (1 Ob 2078/96m mwN; 4 Ob 2288/96s; 9 Ob 43/99k ua; vgl RIS-Justiz RS0006893).
Die Entscheidung des Rekursgerichtes geht auf die derzeitigen Lebensverhältnisse der Kinder nicht ein, lässt die dargestellten Rechtsgrundsätze außer Acht und entspricht daher nicht der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes. In Stattgebung des außerordentlichen Revisionsrekurses war daher dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung, die auch auf die vom Vater neu vorgebrachten Umstände einzugehen haben wird, aufzutragen.
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