EGMR Bsw23338/09

EGMRBsw23338/0922.3.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, V, Beschwerdesachen Kautzor gg. Deutschland und Ahrens gg. Deutschland, Urteile vom 22.3.2012, Bsw. 23338/09 und Bsw. 45071/09.

 

Spruch:

Art. 8, 14 EMRK - Kein Vorrang leiblicher gegenüber rechtlichen Vätern.

Zulässigkeit der Beschwerden unter Art. 8 EMRK allein und iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerden im Übrigen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Die beiden vorliegenden Urteile betreffen das Recht biologischer Väter, ihre Vaterschaft für Kinder feststellen zu lassen, die rechtlich einen anderen Vater haben.

Kautzor gg. Deutschland

Der Bf. Kautzor und Frau D. heirateten im Dezember 2003, im Juni des folgenden Jahres trennten sie sich wieder. Kurz danach informierte Frau D. den Bf. darüber, dass sie schwanger sei. Die Ehescheidung erfolgte im November 2004. Am 5.3.2005 wurde die Tochter von Frau D. geboren. Im Mai 2006 teilte der Bf. Frau D. in einem Brief mit, dass er Kontakt zu seiner Tochter wünsche und die Vaterschaft anerkennen wolle. Am 16.5.2006 anerkannte Herr E. mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft. Daraufhin anerkannte auch der Bf. in einem Notariatsakt die Vaterschaft.

Am 5.7.2006 brachte der Bf. eine Klage auf Feststellung der Vaterschaft ein. Er erklärte, während der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit Frau D. gehabt zu haben. Diese erwiderte, dass Herr E. der leibliche Vater des Kindes sei und dieser mit dem Kind in einer sozial-familiären Beziehung lebe.

Im August 2006 heirateten Frau D. und Herr E. Sie leben im gemeinsamen Haushalt mit der ersten Tochter von Frau D. und zwei weiteren Kindern.

Am 10.6.2008 wies das Amtsgericht Bielefeld die Klage des Bf. als unzulässig zurück. Nach Ansicht des Gerichts war der Bf. nach § 1600 Abs. 2 BGB nicht berechtigt, die Vaterschaft anzufechten, weil zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater eine sozial-familiäre Beziehung bestand.

Das OLG Hamm wies die Berufung des Bf. am 2.12.2008 ab. Nach Ansicht des OLG verstieß die Rechtslage nicht gegen die Grundrechte des Bf., da es legitim sei, wenn der Gesetzgeber den Interessen des Kindes und seiner rechtlichen Eltern Vorrang einräume vor dem Interesse des leiblichen Vaters an der Feststellung seiner Vaterschaft. Der Eventualantrag des Bf. auf Anordnung eines Gentests des Kindes wurde als unzulässig erachtet, da ein solcher Antrag in einem eigenen Verfahren einzubringen wäre.

Das BVerfG lehnte die Behandlung der vom Bf. erhobenen Verfassungsbeschwerde am 30.6.2009 ab.

Ahrens gg. Deutschland

Der Bf. Ahrens hatte von Ostern bis September 2003 eine Beziehung zu Frau P., die im Februar 2004 eine Beziehung mit Herrn M. einging und im September mit diesem in einen gemeinsamen Haushalt zog. Im Oktober und November 2004 hatte sie sexuellen Kontakt mit dem Bf. Im Dezember 2004 eröffnete sie diesem, dass sie schwanger sei.

Im Juni 2005 anerkannte Herr M. im Einvernehmen mit Frau P. die Vaterschaft für das Kind, das am 10.8.2005 geboren wurde. Frau P. und Herr M. erziehen das Mädchen gemeinsam.

Im Oktober 2005 brachte der Bf. eine Klage zur Anfechtung der Vaterschaft ein, wobei er eine eidesstattliche Erklärung vorlegte, wonach er während der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit der Mutter des Kindes gehabt hätte. Das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg vertagte die Verhandlung wiederholt auf Antrag von Herrn M. Die im Zuge des Verfahrens erstellten genetischen Gutachten stellten fest, dass der Bf. der biologische Vater des Kindes ist. Das Amtsgericht gab seiner Klage daher am 27.4.2007 statt.

Das Kammergericht Berlin hob das erstinstanzliche Urteil jedoch am 25.8.2007 auf und wies die Klage des Bf. zurück. Aufgrund des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung zwischen Herrn M. und dem Kind wäre der Bf. nach § 1600 Abs. 2 BGB nicht zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt. Die Rechte des biologischen Vaters hätten keinen Vorrang vor den gleichermaßen geschützen Rechten des rechtlichen Vaters, wenn dieser die elterliche Verantwortung im Sinne einer sozialen Elternschaft wahrnehme.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde des Bf. am 20.5.2009 nicht zur Entscheidung an.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sowie von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zulässigkeit

Die Beschwerden hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK sind weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Soweit mit den Beschwerden eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer und das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs dagegen behauptet wird, sind sie offensichtlich unbegründet und daher für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die beiden Bf. bringen jeweils vor, die Weigerung der deutschen Gerichte, die Anfechtung der Vaterschaft der rechtlichen Väter und die Feststellung ihrer eigenen Vaterschaft zuzulassen, verletze sie in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Der Begriff »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK umfasst auch Beziehungen, bei denen die Beteiligten außerhalb einer Ehe zusammenleben. Ausnahmsweise kann auch beabsichtigtes Familienleben in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallen, insbesondere wenn die Tatsache, dass ein Familienleben noch nicht voll verwirklicht wurde, dem Bf. nicht zurechenbar ist. Unter Umständen muss sich »Familienleben« auch auf die potentielle Beziehung beziehen, die sich zwischen einem außerehelichen Kind und seinem natürlichen Vater entwickeln kann. Das tatsächliche Bestehen enger persönlicher Bindungen kann in solchen Fällen durch die Art der Beziehung zwischen den biologischen Eltern und ein nachweisbares Interesse und Engagement des Vaters vor und nach der Geburt bestimmt werden.

Im Fall Kautzor ist umstritten, ob der Bf. tatsächlich der biologische Vater des Kindes ist. Diese Frage wurde im innerstaatlichen Verfahren nicht geklärt. Obwohl das Kind gezeugt wurde, während der Bf. mit der Mutter verheiratet war, hatte er das Mädchen nie gesehen und es gab nie eine enge persönliche Beziehung zwischen ihm und dem Kind, die bestehendes Familienleben darstellen könnte. Dieser Fall dreht sich in erster Linie um die Frage, ob der Bf. ein Recht hat, seine angebliche Vaterschaft bestätigen und rechtlich anerkennen zu lassen.

Im Fall Ahrens endete die Beziehung zwischen Frau P. und dem Bf. etwa ein Jahr, bevor das Kind gezeugt wurde. Nach den Angaben des Bf. war das folgende Verhältnis rein sexueller Natur. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Bf. und Frau P., die damals mit Herrn M. zusammenlebte, eine Familie gründen wollten. Es gibt auch keine Anzeichen für ein Interesse des Bf. an dem Kind vor dessen Geburt. Unter diesen Umständen ist die Entscheidung des Bf., einen Vaterschaftstest zu verlangen und eine Vaterschaftsfeststellungsklage einzubringen, nicht ausreichend, um die Beziehung zwischen ihm und dem Kind in den Anwendungsbereich des Familienlebens zu bringen.

Wie der GH wiederholt festgestellt hat, betreffen Verfahren über die Feststellung oder Anfechtung der Vaterschaft das Privatleben des Mannes. Die Zurückweisung der Anträge der Bf. auf Feststellung und Anerkennung ihrer Vaterschaft begründete daher einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens.

Bei der Beurteilung, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, sind Überlegungen über das Kindeswohl von überragender Bedeutung. Die Interessen des Kindes können unter Umständen gegenüber jenen der Eltern überwiegen.

Die Wahl der Mittel zur Sicherstellung der Einhaltung von Art. 8 EMRK im Bereich der Beziehungen von Personen untereinander fällt grundsätzlich in den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten.

Die Beschwerde von Herrn Kautzor betrifft drei Aspekte des deutschen Rechts hinsichtlich der Vaterschaft: Erstens beschwert er sich über die Tatsache, dass die Mutter eines außerehelichen Kindes durch das Erfordernis ihrer Zustimmung bestimmen könne, welchem von mehreren potentiellen Vätern die rechtliche Vaterschaft eingeräumt werde und darüber, dass der andere potentielle Vater keine Möglichkeit habe, in diesem Verfahren angehört zu werden. Zweitens beschwert er sich darüber, an der Anfechtung der auf diese Weise begründeten Vaterschaft gehindert gewesen zu sein, weil eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem rechtlichem Vater und dem Kind begründet worden sei. Schließlich beschwert er sich auch über das Fehlen einer Möglichkeit, seine angebliche Vaterschaft bestätigt zu bekommen, ohne den Rechtsstatus des Kindes zu ändern.

Es scheint dem GH nicht unsachlich, die ursprüngliche Zuordnung der rechtlichen Vaterschaft auf die Annahme zu gründen, dass ein Mann, der mit Zustimmung der Mutter die Vaterschaft anerkannt hat, tatsächlich der Vater ist. Ein ähnlicher Ansatz wurde in der überwiegenden Mehrheit der Europaratsstaaten gewählt, die die Anerkennung der Vaterschaft für ein uneheliches Kind von der Zustimmung der Mutter abhängig machen. Diese Regelung fällt in den Ermessensspielraum des Staates, solange die Rechte des potentiellen biologischen Vaters, die Abstammung des Kindes rechtlich feststellen zu lassen, ausreichend geschützt werden.

Das deutsche Recht sieht zwei Möglichkeiten des angeblichen biologischen Vaters vor, die Vaterschaft rechtlich feststellen zu lassen: Fehlt es an einem rechtlich festgestellten Vater, kann er eine Klage nach § 1600d BGB einbringen. Gibt es einen rechtlichen Vater, kann er dessen Vaterschaft bestreiten, sofern keine sozial-familiäre Beziehung zwischen diesem und dem Kind besteht.

Im Fall Ahrens strengte der Bf. ein Verfahren an, das auf die Erlangung der vollen Rechtsstellung als Vater des Kindes gerichtet war. Wäre seine Klage erfolgreich gewesen, wären alle väterlichen Bindungen zwischen dem Kind und Herrn M., der die Vaterschaft vor der Geburt anerkannt hatte und die Rolle als sozialer Vater weiter wahrnahm, unterbrochen worden. Ein solches Verfahren hat damit ein grundlegend anderes und weitreichenderes Ziel als die bloße Feststellung der biologischen Vaterschaft, um Kontakt zum Kind aufzunehmen und über seine Entwicklung informiert zu werden, wie es in Anayo/D der Fall war.

Bei der Bestimmung des Ermessensspielraums des Staates müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Wo ein besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder Identität einer Person auf dem Spiel steht, wird der Spielraum in der Regel beschränkt sein. Wo jedoch kein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht, sei es hinsichtlich der Wichtigkeit dessen, was auf dem Spiel steht, sei es hinsichtlich der besten Mittel zu dessen Schutz, wird der Spielraum weiter sein.

Wie eine vergleichende Untersuchung des GH ergeben hat, erlaubt eine Mehrheit von 15 von 26 Mitgliedstaaten einem mutmaßlichen biologischen Vater die Anfechtung der rechtlichen, durch Anerkenntnis begründeteten Vaterschaft eines anderen Mannes, selbst wenn der rechtliche Vater mit dem Kind in einer sozialen und familiären Beziehung lebt. In einer Minderheit von neun Staaten besteht diese Möglichkeit nicht. Zwei weitere Staaten erlauben die Anfechtung nur, wenn der rechtliche Vater nicht mindestens vier bzw. fünf Jahre mit dem Kind in einer sozialen und familiären Beziehung gelebt hat. Es scheint somit eine gewisse Tendenz in den Mitgliedstaaten zu geben, dem mutmaßlichen biologischen Vater die Anfechtung der Vaterschaft unter Umständen, die mit jenen des vorliegenden Falles vergleichbar sind, zu gestatten. Es scheint allerdings keinen gefestigten Konsens zu geben, der den staatlichen Ermessensspielraum entscheidend einengen würde. Wie der GH zudem feststellt, betrifft die umstrittene Entscheidung nicht die Frage des Besuchsrechts, die eine strengere Prüfung erfordert, da sie die Gefahr einer effektiven Unterbindung familiärer Beziehungen zwischen einem jungen Kind und einem Elternteil mit sich bringt. Der Ermessensspielraum, den die Staaten hinsichtlich der Feststellung des rechtlichen Status eines Kindes genießen, muss daher größer sein als jener, der ihnen in Fragen von Kontakt- und Informationsrechten zukommt.

Zu den widerstreitenden Interessen, die in den vorliegenden Fällen gegeneinander abgewogen werden müssen, stellt der GH fest, dass die Bf. ein geschütztes Interesse an der Feststellung der Wahrheit über einen wichtigen Aspekt ihres Privatlebens, nämlich die Tatsache ihrer Vaterschaft, und an deren rechtlicher Anerkennung haben. Auf der anderen Seite zielten die Entscheidungen der Gerichte darauf ab, entsprechend dem Willen des Gesetzgebers der bestehenden Familienbeziehung zwischen dem Kind und seinem mit ihm zusammenlebenden rechtlichen Vater Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung zwischen einem biologischen Vater und einem Kind.

Das deutsche Familienrecht sieht derzeit keine Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Frage vor, ob der Kontakt zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind dem Kindeswohl dienen würde, wenn ein anderer Mann der rechtliche Vater des Kindes ist (in einer sozial-familiären Beziehung) und der biologische Vater noch keine Verantwortung für das Kind getragen hat. Die Gründe, warum der biologische Vater noch keine solche Beziehung aufgenommen hat, sind irrelevant. Die Bestimmungen umfassen daher auch Fälle, in denen diese Tatsache nicht dem biologischen Vater zugerechnet werden kann. In Anayo/D stellte der GH fest, dass diese Rechtslage zu einer Verletzung des Rechts des biologischen Vaters auf Achtung des Privatlebens führte.

Art. 8 EMRK kann demnach so ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet zu prüfen, ob es im Kindeswohl geboten ist, dem biologischen Vater zu erlauben, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, insbesondere durch die Gewährung eines Umgangsrechts. Dies kann die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft im Umgangsverfahren einschließen, wenn unter den besonderen Umständen des Falles Kontakt zwischen dem angeblichen biologischen Vater – vorausgesetzt er ist tatsächlich der biologische Elternteil – und dem Kind als im Kindeswohl gelegen angesehen wird.

Der biologische Vater darf also nicht völlig von der Möglichkeit der Feststellung seiner Vaterschaft bzw. von der Teilhabe am Leben des Kindes ausgeschlossen werden, solange dies nicht im Interesse des Kindeswohls geboten ist. Dies umfasst aber nicht unbedingt eine Verpflichtung, dem biologischen Vater zu erlauben, den Status des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine eigene Klage zur Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft vorzusehen. Eine derartige Pflicht ergibt sich auch nicht aus der sonstigen Rechtsprechung des GH. Die vorliegenden Fälle müssen vom Fall Rózanski/PL unterschieden werden, in dem das Begehren auf Feststellung der Vaterschaft abgewiesen wurde, ohne die faktischen Beziehungen des Kindes zu beachten. Im Fall Mizzi/M stellte der GH eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, weil der Bf., der zwar der rechtliche, nicht aber der biologische Vater eines außerehelichen Kindes war, nie mit diesem zusammengelebt hatte und keine Möglichkeit hatte, die Vaterschaft anzufechten. Dieser Fall ist von den vorliegenden zu unterscheiden, da Herr Mizzi behauptet hatte, die Vaterschaftsvermutung entspreche nicht der sozialen Realität, da er nie eine Beziehung zu dem Kind hatte. Im Gegensatz dazu deckt sich in den vorliegenden Fällen die rechtliche Vaterschaft des Partners bzw. Ehemanns der Mutter mit dessen tatsächlicher Rolle als sozialem Vater des Kindes.

Angesichts dieser Überlegungen, insbesondere dem Fehlen eines Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten in dieser Angelegenheit und dem weiten Ermessensspielraum, der den Staaten in Fragen des rechtlichen Status zu gewähren ist, fällt die Entscheidung, ob es dem biologischen Vater erlaubt sein soll, die Vaterschaft unter Umständen wie jenen der vorliegenden Fälle anzufechten, in den Ermessensspielraum des Staates.

Ähnliche Überlegungen gelten für die Frage, ob ein angeblicher biologischer Vater die Klärung der Abstammung eines Kindes durch einen Gentest verlangen können soll, ohne dass sich dadurch der rechtliche Status des Kindes ändert. Der GH stellt dazu insbesondere fest, dass keiner der 26 untersuchten Mitgliedstaaten ein Verfahren vorsieht, mit dem die biologische Vaterschaft ohne formelle Anfechtung der Vaterschaft des anerkannten Vaters und ohne Änderung des Rechtsstatus des Kindes festgestellt werden könnte. Die Entscheidung, kein solches Verfahren vorzusehen, fällt daher in den Ermessensspielraum des Staates.

Zu prüfen bleibt, ob der Entscheidungsprozess fair war und den Bf. den nötigen Schutz ihrer durch Art. 8 EMRK garantierten Interessen gewährte. Das Verfahren dauerte zwei Jahre und elf Monate im Fall Kautzor und drei Jahre und sieben Monate im Fall Ahrens. Zwar kam es zu gewissen Verzögerungen vor den Amtsgerichten, doch wurden diese durch die rasche Erledigung durch die Rechtsmittelgerichte kompensiert. Unter diesen Umständen sieht der GH die prozessualen Anforderungen des Art. 8 EMRK als erfüllt an.

Es hat somit in beiden Fällen keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Die Bf. erachten sich durch § 1600 BGB als biologische Väter benachteiligt gegenüber der Mutter, dem rechtlichen Vater und dem Kind, die die Vaterschaft ungeachtet des Bestehens einer sozial-familiären Beziehung anfechten könnten.

Da die Beschwerden in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallen, ist Art. 14 EMRK anwendbar.

Der Hauptgrund für die unterschiedliche Behandlung liegt im Ziel des Schutzes des Kindes und seiner sozialen Familie vor Störungen von außen. Angesichts der Feststellungen zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht der Bf. auf Achtung des Privatlebens fällt die Entscheidung, den bestehenden Familienbeziehungen zwischen einem Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung zu seinem biologischen Vater, in den Ermessensspielraum des Staates.

Daher hat in beiden Fällen keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sommerfeld/D v. 8.7.2003 (GK) = NL 2003, 196 = EuGRZ 2004, 711

Görgülü/D v. 26.2.2004 = NL 2004, 32 = EuGRZ 2004, 700

Mizzi/M v. 12.1.2006 = NL 2006, 12 = EuGRZ 2006, 129

Rózanski/PL v. 18.5.2006

Anayo/D v. 21.12.2010 = NL 2011, 6 = EuGRZ 2011, 124

S. H. u.a./A v. 3.11.2011 (GK) = NL 2011, 339 = ÖJZ 2012, 379

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 15.3.2012, Bsw. 23338/09 und Bsw. 45071/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 88) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Kautzor.pdf bzw. www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Ahrens.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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