Die österreichische EU-Präsidentschaft gibt überfällig Anlass, über den österreichischen Tellerrand hinaus auch die Position der Gerichtsbarkeit im zusammenwachsenden Kontinent zu betrachten. Zu Recht wird die Europäische Union als großes Friedensprojekt bezeichnet. Dies sollte sich aber nicht auf die Sicherung des äußeren Friedens durch die erfolgreiche Vermeidung von kriegerischen Handlungen beschränken. Auch die Wahrung des inneren Friedens muss ein ernstes Anliegen sein, das über die bloße Proklamation eines Raumes der Freiheit, Sicherheit und des Rechts hinausgeht. Nicht nur das Funktionieren der Handelsgerichtsbarkeit im Interesse des Wirtschaftsstandortes ist darunter zu verstehen sondern auch ein wirksamer gerichtlicher Grundrechtsschutz und ein allen zugängliches Gerichtssystem im Sinne des Artikel 6 der EMRK. Natürlich sind die langatmigen Diskussionen, ob überhaupt und gegebenenfalls welche Rechtserzeugungsverfahren für unionsweite Regelungen im justiziellen Bereich zur Verfügung stehen oder eröffnet werden sollen, vor dem Hintergrund souveränitätsgläubiger Nationalstaaten nicht überraschend. Nicht zaghafte Überlegungen zur Rechtsvereinheitlichung, ja nicht einmal die tatsächlich ernsthaft und teilweise bereits erfolgreich vorangetriebenen Bemühungen um internationale judizielle Zusammenarbeit sollten im Vordergrund stehen, sondern eine echte über Lippenbekenntnisse hinausgehende Sorge um eine effektive unabhängige dritte Staatsgewalt auf nationaler aber auch auf internationaler Ebene. An erster Stelle ist hier ausreichende Ressourcenausstattung zu nennen gefolgt von umfassender Korruptionsbekämpfung und von einer echten Herauslösung der Gerichtsbarkeit aber auch der Anklagebehörde aus der Umklammerung durch die politische Verwaltung (= exekutive Staatsgewalt) im Dienstrecht und in der Ressourcenabhängigkeit. Anders als im Bereich des Europarats fehlt es trotz zahlreicher Ausführungsmaßnahmen zur Erklärung von Tampere bisher an einem Appell der EU-Institutionen an die Mitgliedsländer ausreichend finanzielle Mittel für das Gerichtssystem zur Verfügung zu stellen. Im Zusammenhang mit der Prüfung, ob Aufnahmewerber alle für die Aufnahme vorgesehenen "Kopenhagener Kriterien" - darunter das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit - erfüllen, enthalten die halbjährlichen Fortschrittsberichte durchaus bisweilen kritische Anmerkungen zur Einflussnahme von Politik auf das Gerichtssystem und zur (regelmäßig auch auf mangelnde Ausstattung zurückzuführende) Langsamkeit von Verfahren. Des Eindrucks, dass jedoch diesem politischen Kriterium Rechtsstaatlichkeit plötzlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, sobald die Acquis-Kriterien und die wirtschaftlichen Kriterien erfüllt sind, kann man sich bisweilen nicht erwehren, wenn man die tatsächliche Entwicklung verfolgt. Bestürzend auch, dass zu den Demontageversuchen betreffend das italienische Justizsystem aus offiziellem EU-Mund nichts zu vernehmen war. Bezeichnend auch die rasche Ausweitung polizeilicher Befugnisse zu grenzüberschreitender europäischer Zusammenarbeit und die stockende Verwirklichung ihrer justiziellen Kontrolle. Ein unabhängiger Europäischer Staatsanwalt ist offenbar zu unbequem. Auffällig ist, dass Justiz- und Innenminister einen gemeinsamen Rat bilden, eine Kombination, die im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedsstaaten zu Recht Protest auslösen würde. Bei allen diesen grundsätzlichen Fragen könnte die österreichische Präsidentschaft meinungsbildend wirken, könnte wenn schon keine Rechtsinstrumente so doch gemeinsame Erklärungen initiieren. Sie könnte auch innerstaatliche Beispiele setzen. Richter und Staatsanwälte in ein Gesetz einsam mit Bediensteten einzubauen, die der politischen Verwaltung unterstehen, wäre kein solches Signal, gibt es doch nur in drei Mitgliedsstaaten kein eigenes Richtergesetz. Auch das österreichische Drama um die Einrichtung eines Asylgerichtes hat keinesfalls Vorbildcharakter. Längst ist ein solches Gericht in anderen Mitgliedstaaten selbstverständlich. So wichtig Übereinkünfte in Einzelfragen von Rechtshilfe, Anerkennung und Rechtsangleichung sind und sicher auch das Geschick der Präsidentschaft fordern, so wichtig wäre auch eine gemeinsame Standpunktsuche zu den grundsätzlichen demokratiepolitisch wichtigen Fragen etwa der Gewaltenteilung. Erkenntnisse daraus könnten auch für die Diskussion um die Europäische Verfassung nutzbar gemacht werden. Gerade die gebotene Stärkung der Position der Gerichtsbarkeit auch auf europäischer Ebene, die über das in Rom unterzeichnete Dokument hinausgeht, könnte das Vertrauen der Unionsbürger in die EU und ihre Institutionen stärken.