„In criminalibus, quia de salute hominis tractatur, probationes debent esse lucide et aperte.“
(Albertus Gandinus 1))
1. Einführung
Anlaß zu den nachstehenden Überlegungen gab die E des EGMR vom 24.11.1986 im Fall Unterpertinger gegen Österreich2). Der zugrundeliegende Sachverhalt ist bekannt: Die Frau und die Stieftochter des Beschwerdeführers hatten vor der Gendarmerie über die ihnen von Unterpertinger zugefügten Körperverletzungen ausgesagt. In der Hauptverhandlung wurden, da sie gem § 152 StPO die Aussage verweigerten, die Gendarmerieprotokolle verlesen. Ergänzende, erst in der Berufungsschrift gestellte Beweisanträge auf Einvernahme des vernehmenden Gendarmen sowie einiger Leumundszeugen wurden vom OLG Innsbruck abgewiesen. In dieser Vorgangsweise erblickte der EGMR eine Verletzung der Rechte des Art 6 Abs 1 MRK3) „in Verbindung mit den sich aus Art 6 Abs 3 lit d ergebenden Grundsätzen“. Damit ist die in der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion eher vernachlässigte4) Bestimmung des Art 6 Abs 3 lit d schlagartig in den Mittelpunkt des Interesses getreten. Die bisherige Praxis, die vor der Polizei gemachten Angaben in der Hv zu verlesen, wenn der Zeuge von einem Aussageverweigerungsrecht5) Gebrauch macht, ist damit auch verfassungsrechtlich bedenklich geworden. Die E des EGMR und die sich daran anknüpfende Diskussion werfen jedoch noch weitere, über das Problem der Verlesbarkeit von Aussagen eines ein Entschlagungsrecht ausübenden Zeugen hinausgehende Fragen auf: Das Fragerecht des Angeklagten nach Art 6 Abs 3 lit d kann nämlich auch in allen Fällen des § 252 Abs 1 Z 1 StPO nicht ausgeübt werden6), also wenn der Vernommene verstorben ist, sein Aufenthaltsort unbekannt ist oder sein persönliches Erscheinen wegen seines Alters, Krankheit, Gebrechlichkeit oder aus anderen