VwGH 2011/21/0272

VwGH2011/21/027216.5.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des Y T, vertreten durch Dr. Reinhard Schwarzkogler, Rechtsanwalt in 4650 Lambach, Marktplatz 2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 31. August 2011, Zl. VwSen-730364/6/BP/Wu, betreffend Aufhebung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60;
FrPolG 2005 §61 Z4;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs1 Z2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §65 Abs1;
FrPolG 2005 §67 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §69 Abs2 idF 2011/I/038;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60;
FrPolG 2005 §61 Z4;
FrPolG 2005 §63 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §64 Abs1 Z2 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §65 Abs1;
FrPolG 2005 §67 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §69 Abs2 idF 2011/I/038;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Gegen den Beschwerdeführer, einen am 16. Oktober 1978 geborenen und seit 15. Mai 1997 über einen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügenden türkischen Staatsangehörigen, wurde mit dem - im Instanzenzug ergangenen - rechtskräftigen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 17. März 2008 gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Dieser Maßnahme lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer seit 1995 insgesamt sechszehn strafgerichtliche Verurteilungen, insbesondere nach dem SMG und wegen Körperverletzung, aufweist. Vor allem war maßgebend, dass der Beschwerdeführer zuletzt (am 23. August 2007) wegen eines unter Verwendung eines Klappmessers mit ca. 8 cm langer Klinge am 1. Mai 2007 begangenen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Am 10. September 2010 wurde der Beschwerdeführer aus dieser Strafhaft bedingt entlassen.

Bereits davor, nämlich mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2009, hatte er einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes gestellt, den die Bezirkshauptmannschaft Wels-Land mit Bescheid vom 23. Februar 2011 gemäß § 65 Abs. 1 FPG abwies.

In der dagegen erhobenen Berufung machte der Beschwerdeführer - mit Bezugnahme auf seine Stellungnahme im Aufenthaltsverbotsverfahren vom 6. Dezember 2007 und die diesbezüglichen Ausführungen der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich im Berufungsbescheid vom 17. März 2008 - unter anderem geltend, aus der Aktenlage ergebe sich, dass er seit dem zweiten Lebensjahr in Österreich lebe. Demnach sei er im Sinne des § 61 Z 4 FPG "von klein auf im Inland aufgewachsen".

Diese Berufung wies der Unabhängige Verwaltungssenat für das Bundesland Oberösterreich mit dem nach mündlicher Verhandlung ergangenen, vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid vom 31. August 2011 - der Sache nach: gemäß § 69 Abs. 2 FPG idF des am 1. Juli 2011 in Kraft getretenen Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011, BGBl. I Nr. 38 (FrÄG 2011) - als unbegründet ab.

In der Begründung verwies die belangte Behörde unter anderem darauf, dass ein Antrag auf Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 69 Abs. 2 FPG keinesfalls dazu geeignet sei, Umstände, die bei der Erlassung des Aufenthaltsverbotes gewürdigt worden seien, neu oder anders zu beurteilen. Daran anknüpfend führte die belangte Behörde zu dem erwähnten Berufungsvorbringen (nur) aus, der Umstand, dass der Beschwerdeführer in Österreich langjährig niedergelassen sei und hier Familienangehörige habe, sei schon im "ursprünglichen" Verfahren (gemeint: im Verfahren zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes) bekannt gewesen und erlaube daher keine neuerliche Interessenabwägung nach § 61 FPG (idF des FrÄG 2011). Im Übrigen legte die belangte Behörde noch näher dar, dass auch in Bezug auf die Gefährdungsprognose - insbesondere weil seit der Haftentlassung noch nicht ganz ein Jahr verstrichen sei und die begonnenen Therapien noch nicht einmal beendet seien - keine maßgebliche Änderung eingetreten sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Auch die Beschwerde rekurriert darauf, dass der Beschwerdeführer seit seinem zweiten Lebensjahr seinen Wohnsitz in Österreich habe. Damit wird im Ergebnis ein auf unrichtiger rechtlicher Beurteilung beruhender Feststellungsmangel aufgezeigt:

Unter der Überschrift "Unzulässigkeit eines Aufenthaltsverbotes" ordnete der bis 30. Juni 2011 geltende § 61 Z 4 FPG idF vor dem FrÄG 2011 Folgendes an:

"§ 61. Ein Aufenthaltsverbot darf nicht erlassen werden, wenn

4. der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, es sei denn, der Fremde wäre wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu mehr als einer unbedingten zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden oder …"

Dieser Aufenthaltsverbots-Verbotstatbestand kam im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren nicht zum Tragen. In diesem Sinn argumentierte auch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich im Aufenthaltsverbotsbescheid vom 17. März 2008, die offenbar deshalb nähere Feststellungen zu dem schon damals vom Beschwerdeführer erstatteten Vorbringen, er lebe seit seinem zweiten Lebensjahr in Österreich, für entbehrlich hielt. Angesichts dieser Rechtslage bestand auch im Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Wels-Land vom 23. Februar 2011, mit dem der Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes in erster Instanz abgewiesen wurde, keine Veranlassung für nähere Feststellungen zu dieser Frage.

Mit Inkrafttreten des FrÄG 2011 hat sich aber die - von der

belangten Behörde bei ihrer Berufungsentscheidung anzuwendende

(vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 24. Jänner 2012,

Zl. 2011/18/0267, Punkt 2.) - Rechtslage insofern geändert, als

der (dem bisherigen § 61 Z 4 FPG) im Wesentlichen entsprechende

§ 64 Abs. 1 Z 2 FPG nunmehr wie folgt lautet:

"Aufenthaltsverfestigung

§ 64. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf

Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält,

darf eine Ausweisung gemäß § 62 und ein Aufenthaltsverbot gemäß

§ 63 nicht erlassen werden, wenn

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist."

Demnach gilt die Ausnahmeregelung, dass ein Aufenthaltsverbot trotz Vorliegens dieses Verfestigungstatbestandes dann zulässig ist, wenn der Fremde wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu einer zwei Jahre übersteigenden unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, seit 1. Juli 2011 nicht mehr. Diese Bestimmung kommt somit unabhängig davon zur Anwendung, zu welcher Freiheitsstrafe ein Fremder allenfalls verurteilt worden ist; eine diesbezügliche Einschränkung enthält das Gesetz nicht mehr (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. April 2012, Zl. 2011/21/0291).

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass vor dem Inkrafttreten des FrÄG 2011 erlassene "alte" Aufenthaltsverbote - unabhängig von der seinerzeitigen Rechtsposition des betroffenen Fremden - nach § 69 Abs. 2 FPG idF des FrÄG 2011 im Sinn der dort getroffenen Anordnung aufzuheben sind, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind (siehe des Näheren das Erkenntnis vom 28. August 2012, Zl. 2012/21/0159, und daran anschließend zuletzt das Erkenntnis vom 19. März 2013, Zl. 2012/21/0082).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein Antrag nach § 69 Abs. 2 FPG auf Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes nur dann zum Erfolg führen, wenn sich seit der Erlassung der Maßnahme die dafür maßgebenden Umstände zu Gunsten des Fremden geändert haben, wobei im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag auch auf die nach der Verhängung der Maßnahme eingetretenen und gegen die Aufhebung dieser Maßnahme sprechenden Umstände Bedacht zu nehmen ist. Bei der Entscheidung über die Aufhebung einer solchen Maßnahme kann die Rechtmäßigkeit jenes Bescheides, mit dem diese Maßnahme erlassen wurde, nicht mehr überprüft werden (vgl. das Erkenntnis vom 7. November 2012, Zl. 2012/18/0052, mwN). Insoweit ist der belangten Behörde beizupflichten.

Eine Änderung der Rechtslage kann allerdings auch den Wegfall eines Grundes für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes darstellen und ist demnach bei der Prüfung der Zulässigkeit der Aufrechterhaltung dieser Maßnahme zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich die belangte Behörde mit den vom Beschwerdeführer der Sache nach geltend gemachten Voraussetzungen des § 64 Abs. 1 Z 2 FPG hätte befassen müssen, zumal der Beschwerdeführer im Sinne des Einleitungssatzes dieser Bestimmung bei Erlassung des Aufenthaltsverbotes aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig war, was auch für das Aufhebungsverfahren zu beachten ist (vgl. auch dazu das zuletzt zitierte Erkenntnis vom 7. November 2012, Zl. 2012/18/0052).

Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen, der Beschwerdeführer lebe seit seinem zweiten Lebensjahr, und damit "von klein auf", im Inland hat die belangte Behörde jedoch offenbar in Verkennung seiner rechtlichen Maßgeblichkeit unterlassen. Entgegen dem Einwand in der Gegenschrift handelt es sich dabei aber auch um keine unzulässige Neuerung, hatte der Beschwerdeführer doch diesen Sachverhalt - wenn auch entsprechend der damaligen Rechtslage nur unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung nach § 66 FPG (nunmehr: § 61 FPG) - schon in der Berufung ins Treffen geführt. Im Übrigen findet sich in den vorgelegten Akten in einem - offenbar von einem Behördenorgan verfassten - handschriftlichen Vermerk vom November 1998 schon die Feststellung, "seit 1981 in Österreich" (vgl. AS 27).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen des dargelegten sekundären Feststellungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 16. Mai 2013

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